BUCHKRITIK – Anleitung zum kritischen Denken
Von Achim Truger.
Heute erscheint Albrecht Müllers neues Buch “Machtwahn”. Dabei ist es nicht einmal zwei Jahre her, dass der promovierte Ökonom, frühere Abteilungsleiter unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt und heutige Mitherausgeber der kritischen Internetseite “Nachdenkseiten” seinen Bestseller “Die Reformlüge” veröffentlichte. Dort hatte er als Erster auf äußerst streitbare und allgemein verständliche Weise mit der unsäglichen wirtschaftspolitischen Reformdebatte in Deutschland abgerechnet. Zahlreichen Kritikern des marktradikalen Reformkurses hatte Müller gute ökonomische Argumente und Fakten geliefert und damit eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen Bücher der letzten Jahre geschrieben.
Hat der Autor in so kurzer Zeit tatsächlich etwas Neues zu Papier gebracht? Kann sich das Buch mit seiner “Reformlüge” messen? Beide Fragen kann man guten Gewissens mit Ja beantworten. Natürlich finden sich in “Machtwahn” viele Themen und Argumente, die man schon aus dem früheren Buch kennt. Im Mittelpunkt seines neuen Werkes stehen aber Fragen, die in der “Reformlüge” nur andeutungsweise behandelt wurden: Wie kommt es eigentlich, dass die deutsche ökonomische Reformdebatte und -politik so unglaublich einseitig ausgerichtet ist? Wieso wird eine offensichtlich gescheiterte Politik unbeirrt fortgesetzt, ohne dass sich eine Grundsatzdebatte mit der Suche nach Alternativen entwickelt? Müllers gewohnt streitbare und provokative Antwort: Es ist eine mittelmäßige, korrupte und/oder unfähige Führungselite, die die Verantwortung dafür trägt.
Der Autor ist sich der Brisanz seines vehement vorgetragenen Vorwurfs durchaus bewusst. Angesichts der Erfolglosigkeit der bisherigen neoliberalen “Reform”-Politik und der desaströsen sozialen Nebenwirkungen in Form von Langzeitarbeitslosigkeit, Zunahme sozialer Ungleichheit und politischer Radikalisierung, hält er den Angriff aber für gerechtfertigt. Müller ist kein Verschwörungstheoretiker. Er deutet verschiedene mögliche Erklärungen für die beharrliche Einseitigkeit elitären Denkens und Handelns an.
Einflüsterer aus der Wirtschaftselite
Zu nennen wären neben finanziellen Motiven etwa die mangelnde makroökonomische Bildung, der Drang überall mitreden zu wollen und die dadurch bedingte Anfälligkeit für Manipulation. Einigen wirtschaftsnahen “think tanks” wie der Bertelsmann Stiftung und der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft komme dabei eine entscheidende Rolle zu.
Ebenso brisant wie verdienstvoll ist, dass Müller sich nicht scheut, Namen zu nennen. Zahlreiche, angeblich unabhängige Experten, die in der Reformdebatte eine zentrale Rolle spielen, werden bezüglich ihrer Verbindung zu privaten Interessen im Hintergrund durchleuchtet. Dabei wird so mancher “unabhängige Denker” als potenzieller Diener ziemlich durchsichtiger finanzieller Interessen enttarnt. Hier ein Aufsichtsratsposten, da exorbitante Vortragshonorare, ungeklärte Finanzierungsquellen, Aufträge von der privaten Versicherungswirtschaft etcetera. Mit der in dieser Form einmaligen Zusammenstellung solcher Fakten leistet Albrecht Müller erstklassige politische Aufklärungsarbeit.
Natürlich ist Müllers Buch nicht ohne Schwächen. Einige Leser wird es wohl auf Grund der Heftigkeit der Vorwürfe und der deutlichen Worte abschrecken. Gelegentlich mag man sich zudem eine größere Systematik und eine etwas analytischere Herangehensweise wünschen. Letztlich erhält man auch keinen klaren Aufschluss darüber, welche Faktoren dominierend für das Handeln der gescholtenen Eliten sind und ob es sich tatsächlich überwiegend um ein deutsches Problem handelt.
Der eigentliche Zweck und die Stärke des Buches liegen auch ganz woanders: Es ist eine anregende Anleitung zum kritischen Denken und ein eindringlicher Aufruf, den politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und journalistischen Eliten auf die Finger zu schauen. Albrecht Müller hat damit das Kunststück vollbracht, in weniger als zwei Jahren gleich zwei zentrale Reformbücher zu schreiben. Kein Zweifel: Auch dieses Buch hat das Zeug zum Bestseller.
© Frankfurter Rundschau online 2006
Dokument erstellt am 20.03.2006 um 17:32:59 Uhr
Erscheinungsdatum 21.03.2006
Quelle: FR