Nichts gelernt aus der Geschichte: Prozyklische Politik wie bei Brüning
Aus Schaden wird man klug, diese Lebenserfahrung gilt allenfalls für einzelne Personen. Für Völker und ihre Politiker gilt sie offensichtlich nicht. Sie lernen nichts aus der Geschichte, auch wenn ihre Ignoranz Millionen Menschen ins Unglück stürzt. In dieser Situation sind wir heute: Bundesfinanzminister Schäuble und viele Sekundanten in Politik, Wissenschaft und Medien wenden sich – wie hier im Handelsblatt von gestern berichtet – trotz erkennbarer Anzeichen einer weltweiten Rezession gegen konjunkturfördernde Maßnahmen und pochen darauf, die Finanzen zu konsolidieren. Albrecht Müller.
Es wäre ja schön, wenn die Konsolidierung der Finanzen in der jetzigen Situation mithilfe von Sparmaßnahmen gelänge. Alle Erfahrung lehrt jedoch, dass dies nicht gelingt. Ich wiederhole zum x-ten Mal: Spar-Absicht, so schön sie ist, ist nicht gleich Spar-Erfolg. Mit Sparmaßnahmen in der jetzigen Situation wiederholt man die Fehler der Politik von Reichskanzler Brüning zu Beginn der Weltwirtschaftskrise.
Dass die politische Klasse und die Mehrheit der Medien und Wissenschaft diese Erfahrung nicht beherzigt, hat dramatische Konsequenzen: Noch höhere Arbeitslosigkeit, Zusammenbruch vieler Betriebe, Zusammenbruch sozialer Sicherungssysteme, soziale Konflikte – und obendrauf eine weitere Verschlechterung der finanziellen Situation der Staaten.
Zur konjunkturellen Situation und ihrer vermutlichen weiteren Entwicklung:
Wichtige Einflussfaktoren der weltweiten konjunkturellen Entwicklung sind Investitionen, Staatsausgaben und der Konsum. Die Investitionen hängen wesentlich von Staatsausgaben und dem Konsum ab. Die Staatsausgaben sind zumindest in Europa und den USA gedrosselt worden. Politiker wie Schäuble plädieren für weitere Drosselung. – Die Ausgaben für Konsum hängen von der Konsumneigung und den verfügbaren und von den erwarteten Familieneinkommen ab. Um Letzteres steht es sowohl in Europa als auch in den USA ausgesprochen schlecht. Das zeigt die folgende Grafik. Die Erwartungen liegen unterhalb des Niveaus der gesamten Periode von 1997 bis 2007, in Europa auch unterhalb des Niveaus von 2010.
3 U.S. data are from Reuters/University of Michigan Surveys of Consumers and represent the difference between the percentage of people who think family income will go up and those who think it will go down. EU data are from the family financial situation index in the European Commission Business and Consumer Surveys. Both series are smoothed and harmonized.
Quelle: IMF, Seite 45 [PDF – 7 MB]
Ich würde diese Grafik des IMF, des Internationalen Währungsfonds, nicht wiedergeben, wenn die erkennbare Bewegung nicht so eindeutig wäre. Ein für die Konjunktur mitverantwortlicher Bundesfinanzminister müsste ein solches Bild der Einkommenserwartungen in seine Überlegungen mit einbeziehen. Das tut er nicht. Stattdessen redet er einer weiteren so genannten Konsolidierung das Wort und tut damit das Gegenteil dessen, was zur Ermunterung von Investitionen in der realen Wirtschaft nötig wäre.
An den Aussagen von Bundesfinanzminister Schäuble lässt sich ablesen, woran es den herrschenden Personen vor allem fehlt:
Erstens: Sie sehen die Wirkungszusammenhänge nicht. Der Bundesfinanzminister bedenkt nicht, welche Folgen seine Äußerungen für die Stimmungslage haben. Er bedenkt nicht, dass er mit seinen Sparappellen die Erfolge des Sparens kaputt macht.
Zweitens: Die herrschenden Kreise orientieren sich an gängigen Parolen und Glaubenssätzen. Sparen zu verlangen ist gut. Strukturreformen zu verlangen ist populär – zumindest in den Kreisen jener, die über die Dispositionen auf den so genannten Märkten bestimmen. „Mutige Schritte“ verlangt Schäuble von Europa. Das klingt prima.
Drittens: Diese Politiker sind immer noch orientiert an den so genannten Märkten. Schäuble behauptet laut Handelsblatt, der von kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen ausgelöste Vertrauensverlust sei viel größer als die möglichen Gewinne einer solchen Politik. Woher weiß er das?
Als würdiger Nachfolger von Brüning erweist sich der Bundesfinanzminister, wenn er behauptet, das Arsenal der Regierungen und Notenbanken sei weit gehend aufgebraucht. Wahnsinn.
P.S.:
Wie wahnsinnig die öffentliche Debatte bei uns verläuft und wie obskur sie gerade in konservativen Kreisen verläuft, zeigt die Reaktion auf einen Vorstoß der neuen saarländischen Ministerpräsidentin zur Schuldenbremse.
Hier der Vorstoß:
Vorstoß aus dem Saarland
Schuldenbremse? Muss nicht
Saarlands Ministerpräsidentin ist skeptisch: Die Bedingungen für die Schuldenbremse im Grundgesetz durch die Euro-Krise sind aus ihrer Sicht nicht mehr gegeben. Andere finden das absurd.
(…)
Quelle: taz
Und hier das Ende des Vorstoßes:
28.09.2011 16:17
Saarbrücken: Saarland steht zur Schuldenbremse
Nach heftiger Kritik aus den eigenen Reihen hat sich Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer (CDU) deutlich zur Schuldenbremse bekannt. Das Saarland stehe zu seinen Verpflichtungen.
(…)
Quelle: SR Online
Wir leben in einer absolut verklemmten Debattenkultur. Und dies könnte böse Folgen haben.
P.S. Nr. 2:
Auf europäischer Ebene geht der Wahnsinn genauso weiter. Zur Verschärfung des Wachstums- und Stabilitätspakts im folgenden eine Erklärung des Europa-Abgeordneten der Linken, Jürgen Klute:
Economic Governance: Unkluges Zwangskorsett statt echte Wirtschaftsregierung
Eine Mehrheit von Konservativen, Rechten und Liberalen im Europäischen Parlament hat heute eine drastische Verschärfung des Wachstums- und Stabilitätspakts durchgesetzt. Das Paket zur wirtschaftspolitischen Steuerung (“Economic Governance”) verleiht der EU-Kommission neue, weitreichende Durchgriffsrechte auf finanz- und wirtschaftspolitische Entscheidungen der Mitgliedsstaaten.
Jürgen Klute, Koordinator der Linksfraktion im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments erklärt die Haltung der Fraktion:
“Die Eurokrise zeigt, dass die EU eine Wirtschaftsregierung braucht. Es ist klar: Die Mitgliedsstaaten müssen sich koordinieren, um Lohn- und Steuerdumping zu verhindern. Die Economic Governance-Reform zielt jedoch viel zu einseitig auf die Bestrafung und Drangsalierung von Mitgliedsländern mit Exportdefiziten. Im gemeinsamen Interesse müssten stattdessen übermäßige Überschüsse, wie sie die Bundesrepublik seit Jahren auf Kosten der südlichen Nachbarn erzielt, in gleichem Maße sanktioniert werden.”
Folgende Neuerungen wurden durch die Annahme des Reformpakets heute beschlossen:
- Neben der bisherigen Begrenzung der jährlichen Haushaltsdefizite auf 3 % werden die Mitgliedsländer von nun an auf den Ausgleich ihrer Haushalte hin orientiert. Ziel ist die Rückführung der Gesamtverschuldung der Mitgliedsländer auf unter 60 %.
- EU-Staaten, die die haushaltspolitischen Ziele des Stabilitätspakts nicht erreichen, werden durch die EU-Kommission auf einen raschen, präzise festgelegten Abbau ihrer Verschuldungsraten verpflichtet. Verfehlen sie die sparpolitischen Vorgaben, verhängt die Kommission unmittelbar Sanktionen: In einer ersten Stufe müssen die Mitgliedsländer verzinsliche Einlagen hinterlegen. In einem späteren Schritt werden Geldbußen über 0,2 % der Wirtschaftsleistung fällig.
- Schließlich wird der Stabilitätspakt um einen neuen Mechanismus zum Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte ergänzt. Dieser zielt in erster Linie auf Länder, die dem wirtschaftlichen Wettbewerb innerhalb der EU nicht standhalten können. Volkswirtschaften, die nicht ausreichend Exporte absetzen, werden auf Strukturreformen verpflichtet. Setzt das betroffene Land die Vorgaben aus Brüssel nicht um, drohen Geldbußen über 0,1 % des Bruttoinlandprodukts.
Klute abschließend:
“Mit der Reform werden die öffentlichen Finanzen in ein völlig unflexibles Zwangskorsett gesteckt. Dabei zeigt es sich gegenwärtig in Griechenland, dass blinde Sparwut keine intelligente wirtschaftspolitische Lösung darstellt. Noch nicht einmal das immer wieder beschworene Vertrauen der Märkte wird so hergestellt. Wenn Europa sich nicht einer ökonomischen und sozialen Dauerkrise hingeben will, braucht es nun wirkungsvolle Ausgleichs-Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung, sowie unverzügliche Entlastungen für die von der Eurokrise betroffenen Staaten.”
Strasbourg, 28. September 2011