Dschungelbuch für Große

Dschungelbuch für Große

Dschungelbuch für Große

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Eine Lektüre zum Nachdenken über die Gesellschaft, in der wir leben. Es erzählt von einer Frau zwischen zwei Kulturen, die unter „Wilden“ aufwächst, eine Bruchlandung in einer „Zivilisation“ ohne Götter und Geister hinlegt und später als Todkranke auf der Jagd nach einem Heilmittel in den Urwald zurückkehrt. Sabine Kueglers Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ ist ein autodidaktischer Abenteuerroman mit Spannung und Tiefgang. Wer ihn liest, sieht unsere Welt vielleicht mit anderen Augen. Von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wer kennt ihn nicht? Mogli! Als Waise wächst er bei einem Rudel Wölfen im Busch auf, lernt von den Tieren, versteht ihre Sprache, durchlebt allerhand Gefahren, bis er am Ende zu den Menschen findet. Das „Dschungelbuch“, das Zigmillionen Kinderherzen verzückte, gibt es jetzt auch für Erwachsene und mit dem Unterschied: Die Geschichte ist authentisch. Sabine Kuegler lebte nach ihrer Geburt zunächst in Nepal, bis sie nach kurzem Aufenthalt in Deutschland mit fünf Jahren nach Westpapua, dem indonesischen Teil der Insel Neuguinea übersiedelte und ihre Kindheit und Jugend bei den Fayu verbrachte, im abgelegensten Urwald, umgeben von Eingeborenen, die im Ruf standen, Kannibalen zu sein.

Aber verspeist wurde sie nicht, so wenig wie ihre beiden Geschwister und Eltern, die als Missionare und Forscher die Sprache und Lebensweise von indigenen Völkern studierten, quasi direkt an der Quelle und ohne Berührungsängste. Aber bange Momente musste die Familie anfangs doch durchstehen, bis zu dem Tage, als sich ihr Vater erfolgreich als Friedensstifter betätigte.

Bei ihrer Ankunft bestanden die Fayu aus vier Clans, die sich permanent bekriegten und bis an die Grenze zum Aussterben dezimiert hatten. Sie waren dem Irrglauben verfallen, alles Leid ginge von Flüchen aus, deren Urheber stets einer der Feindesstämme sein müsse. Zwar wurden die Kueglers geschont und waren allseits akzeptiert, aber die Kämpfe fanden praktisch vor ihrer Haustür statt. Eines Tages wurde es Klaus-Peter zu bunt: Mit Nachdruck gab er den Kriegern Bescheid, sich entweder woanders zu massakrieren, oder er und seine Familie würden das Weite suchen.

Entmilitarisierte Zone

An diesem Punkt wird es magisch, und es gibt allerhand mehr dieser Momente, die das Buch auch zu einer politischen Lektüre machen. Jedenfalls ließen die Häuptlinge einen Steinkreis um die Hütte der Kueglers ziehen, in dem keiner mehr eine Waffe tragen durfte und der sich wie von Zauberhand immer mehr Raum griff. Nach und nach wurde die „entmilitarisierte Zone“ zu einem Ort der Annäherung, Zusammenkunft und Verständigung, bis zu dem Tage, an dem alle Clans Frieden schlossen.

„Sie bekamen das Leben zurück, das ihnen Hass und Krieg vor langer Zeit genommen hatte“, schreibt Kuegler, und „sie begannen, neue Wege zu finden, um Konflikte zu lösen, und erließen Gesetze“. Zum Beispiel wurde die Todesstrafe abgeschafft und durch ein System der Entschädigung ersetzt. Aber es kam noch besser: Der Wandel sprach sich herum, und sukzessive taten es sämtliche anderen Stämme im „verlorenen Tal“ den Fayus gleich und versöhnten sich miteinander. „Es waren nicht der ‚weiße Mann von außen‘, nicht das Militär, Gesetze oder gar Bildung, sondern die unbändige Kraft der Vergebung, die diesem isolierten Teil der Welt Frieden brachte“, so die heute 50-Jährige.

Zivilisation auf Abwegen

Man stelle sich vor, eine solche Kraft erfasste die „zivilisierte“, die „entwickelte“ Menschheit, die die Erde seit Jahrhunderten mit Krieg und Verwüstung überzieht. Insofern lässt Kueglers Buch die neue Welt ziemlich alt aussehen und die sogenannten Wilden zutiefts fortschrittlich. Sie selbst trägt beide Welten in sich, weshalb sie lange von innerer Zerrissenheit geplagt war. Mit 17 Jahren endete zunächst ihr Leben als „Dschungelkind“, dessen Geschichte sie im gleichnamigen Buch verewigt hat. 2005 erschienen, wurde es zum Bestseller, millionenfach verkauft und übersetzt in mehr als 30 Sprachen.

In „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“, beschreibt sie, wie sie als junge Erwachsene in den „Westen“ wechselt, an ein Mädcheninternat in der Schweiz, und nicht klar kommt mit ihrem neuen Dasein, dem falschen Schein, der Hektik, dem Leistungsdruck. Früher war sie aufgegangen in der Stammesgemeinschaft, der Natur, eindrücklich geschildert in einer Szene, als sie ein Wildschwein erlegt. Mit einer völlig anderen Wahrnehmung ausgestattet, standen ihre Sinne in einer Art Symbiose mit den Tieren, Pflanzen, Gerüchen und Farben des Urwalds. O-Ton: „Ich lebte vollkommen im Hier und Jetzt, in einem nie endenden gegenwärtigen Moment. Vergangenheit und Zukunft hatten für mich keine Bedeutung.“

Kulturschock

In ihrer neuen Wirklichkeit erlebt sie dagegen ständige Überreiztheit, Getrenntsein und Entfremdung. Mehrfach kehrt sie nach ihrem Schulabschluss zu ihren Wurzeln in den Dschungel zurück, wobei sie sich bei einer der Reisen einen fiesen Erreger einfängt. In Deutschland erkrankt sie schwer, findet aber keine Hilfe, weshalb sie schließlich, von den Ärzten aufgegeben, auf der Suche nach Heilung 2012 zurück in den Urwald geht.

Von ihrer fünfjährigen Jagd nach einem Heilmittel, wiederholt dem Tode nah und fernab ihrer in Deutschland zurückgelassenen Kinder, handelt das Buch im Wesentlichen. Aber es ist nicht nur ein autobiographischer Abenteuerroman mit reichlich Spannungsmomenten und einer am Ende sogar „schießwütigen“ Protagonistin. Es geht zugleich um Selbstfindung, um zusammenprallende Kulturen, um Freundschaft und die Gier nach Leben.

Von allen Geistern verlassen

Und bei all dem regt die Lektüre immer wieder dazu an, den Bogen zu schlagen von einer uns komplett fremden zu der uns vertrauten Welt, die sich mit dem Prädikat „zivilisiert“ über andere Völker und Lebensweisen erhebt, bei denen es in Wahrheit sehr viel menschlicher zugeht als bei uns. Denn wo es immer weniger Gemeinschaft gibt, ist Mensch ziemlich einsam und verloren und leichte Beute für Krokodile …

Als die neunjährige Sabine und ihre Familie an einer ihnen unbekannten Stelle badeten, staunten ihre Begleiter nicht schlecht. Jeder wisse doch, „dass dies der Krokodilfluss ist“, äußerten sie in der Überzeugung, „dass unser Gott sehr mächtig und uns sehr wohlgesonnen sein müsse“. Flugs waren die lebensmüden Schwimmer zurück im Kanu. Wenn wir bei unserer Jagd nach Geld und flüchtigem Glück nach unten schauen – sehen wir da die Krokodile tauchen? Wohl die allerwenigsten …

Info zum Buch: Sabine Kuegler: „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind.“ Westend Verlag, Neu-Isenburg, 2023.