Als unser Autor Udo Brandes für eine NachDenkSeiten-Rezension das Buch „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik“ von Jean-Philippe Kindler las, erlebte er im Laufe der Lektüre eine Überraschung: Dieser Autor war ihm an anderer Stelle schon mal aufgefallen. Und er hatte ihn nicht gut in Erinnerung. Aber trotzdem hat ihm dessen Buch gefallen.
Hätte ich mich eher daran erinnert, um wen es sich bei Jean-Philippe Kindler handelt, wäre ich wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, sein Buch zu lesen. Der Kabarettist, Journalist und Autor war nämlich im Januar dieses Jahres schwer – und meines Erachtens zu Recht – in die Kritik geraten. Und zwar wegen eines hasserfüllten Hetzvideos gegen die CDU, das er auf Instagram veröffentlicht hat (das Video siehe hier). Ich hatte mir damals das Video angeschaut und spontan gedacht: „Was für ein feindseliger und völlig humorloser Vertreter des linksliberalen Milieus“. Dieser Typus Linker erinnert mich an reaktionäre gottesfürchtige Prediger, die mit ihrem gnadenlos strengen Über-Ich das Böse in der Welt verfolgen. Ausgerechnet dieser Mann hat nun ein Buch geschrieben, in dem er pseudolinke Identitätspolitik kritisiert. Und auch wenn ich mit einigen Punkten in seinem Buch nicht übereinstimme, muss ich trotzdem zugeben, dass dieser Autor eine teilweise wirklich gute Ideologiekritik zum Neoliberalismus geschrieben hat. Und da es auch in der schönen Literatur hervorragende Werke gibt, deren Autoren einem nicht zwangsläufig auch sympathisch sein müssen, betrachte ich das Buch losgelöst von dem politisch problematischen Freund-Feind-Denken, das Kindler in seinem Anti-CDU-Video offenbarte – und das meines Erachtens mit einer demokratischen Kultur nicht vereinbar ist. Und das sage ich als jemand, der weiß Gott kein Fan der CDU ist, sondern ganz im Gegenteil mit deren Politik nichts am Hut hat.
Was Kindler in einigen Passagen wirklich gut hingekriegt hat: Er demaskiert die Scheinheiligkeit und Verlogenheit der neoliberalen Ideologie und von neoliberalen Betonköpfen wie dem FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner. Aber auch die pseudolinken Linken bekommen ihr Fett weg. Auch deren Widersprüchlichkeiten und Scheinheiligkeiten nimmt er treffend aufs Korn. Ihnen wirft er vor, im Grunde genau wie die Konservativen und Neoliberalen Politik und das Leben überhaupt nur noch aus einer individualisierten und selbstbezogenen Perspektive zu betrachten:
„In der Gesellschaft der Singularitäten sind diejenigen Ideen telegen und instagramabel, die das Individuum betreffen: Wie bekomme ich mein Burn-out weggeatmet? Wie möchte ich angesprochen werden? Dürfen Weiße Dreadlocks tragen? Habe ich ADHS? Ist meine Ex-Freundin eine pathologische Narzisstin? Bin ich ein Rassist, wenn ich kein schwarzes Quadrat auf Instagram teile?“ (S. 13-14).
Wenn Egomanie als Sensibilität daherkommt
Mit Bezug auf das berühmte Diktum vom Margaret Thatcher, dass so etwas wie Gesellschaft gar nicht existiere, sondern quasi nur Ansammlungen von Individuen (und keine sozialen Klassen mit unterschiedlichen Lebenschancen und Möglichkeiten), stellt Kindler fest, dass auch die meisten Linken eine solche entpolitisierte Sichtweise hätten:
„Ich behaupte, dass Thatchers Gesellschaft der Gesellschaftslosen auch im postmodernen linksliberalen Diskurs Verankerung gefunden hat. Die Thatcher’sche Kaltherzigkeit wird dabei in den Argumentationen durch einen ‚empfindsamen Individualismus‘ ersetzt. So ist es zur moralischen Tugend vieler junger Menschen geworden, sich von ‚toxischen‘ Personen abzugrenzen, aufwendige, oftmals durchaus konsumtive ‚Selfcare‘ zu betreiben und der Fetischisierung des eigenen Selbst zu frönen. Wir nennen es ‚Selflove‘. Alles, was mich verunsichert, was mich herausfordert, was mich kritisiert, was mir, laut eigener Definition, Unrecht oder Leid antut, kann und sollte ich ohne jede Begründung ein für alle Mal aus meinem Leben verbannen, denn mein Recht auf Glück steht über dem Bedürfnis meines Gegenübers, angehört zu werden“ (S.18).
Kindler hat hier meines Erachtens eine sehr treffende Beschreibung des linksliberalen Milieus abgeliefert. Eine Haltung, die durch narzisstische Egomanie und Infantilität charakterisiert ist. So kann ich Kindler nur zustimmen, wenn er schreibt:
„Das durchpsychologisierte Leben wird so zum Medium grotesker Selbstverwirklichungsfantasie: Wer ist mir auf meinem Weg zum wahren Selbst von Nutzen und wer nicht? Welchen simplen moralischen Allgemeinplatz kann ich in pastellfarbenen Instagrambeiträgen wiederkäuen, damit meiner Peergroup die Gewissheit vermittelt wird, dass ich einer der Guten bin?“ (S.19).
Aber auch die Scheinheiligkeit eines Christian Lindner demaskiert Kindler sehr schön und legt den eigentlichen Kern von dessen Ideologie frei, unter anderem in Zusammenhang mit der Diskussion über die Weiterführung eines günstigen ÖPNV-Tickets:
„Woraufhin also Christian Lindners Rhetorik der ‚Gratismentalität‘ eigentlich abzielt, ist nicht auf eine reale Gefahr der Verramschung sozialstaatlicher Leistungen, nein, was hier greift, ist pure Ideologie: Keine politische Maßnahme darf die neoliberale Gewissheit in Frage stellen, dass nur derjenige den Zugang zu einem guten und vor allem auch gesunden Leben verdient, der seine Arbeit erfolgreich am Arbeitsmarkt verkauft“ (S. 46).
Dem kann ich mich zu einhundert Prozent anschließen. Denn ausgerechnet diejenigen, die unsere Gesellschaft maßgeblich am Laufen halten, werden oft schlecht bezahlt (zum Beispiel Verkaufspersonal oder Paketboten), während – um ein konkretes Beispiel zu nennen – aktuell gerade der Bahnvorstand neben seinen ohnehin sehr hohen Gehältern 5 Mio. Euro zusätzlich an Boni kassiert. Wofür, fragen Sie? Natürlich weil sie so gute Arbeit geleistet haben! Als Kunde der Eisenbahn könnten einem zwar leichte Zweifel daran beschleichen, dass die Deutsche Bahn gut geführt wird. Aber wir Kunden sind ja schließlich nur dumme Laien und verfügen nicht über die höheren Einsichtsfähigkeiten eines professionellen Bahnmanagers.
Warum wir Glück repolitisieren müssen
Ein ganzes Kapitel widmet Kindler dem Thema „Glück“. Seine zentrale Forderung, die ich nur unterstützen kann: Wir müssen die Vorstellungen über das Glück repolitisieren. Er kritisiert zu Recht die weitverbreitete Vorstellung, dass das Lebensglück eines Menschen von dessen Geisteshaltung abhänge nach dem Motto, „Wer richtig denkt, der wird auch glücklich“. Eine Vorstellung, die Glück zu einem vermarktbaren symbolischen Gut macht, für deren Erwerb es lediglich das richtige Know-how und Willensanstrengung braucht. Seine Kritik begründet Kindler unter anderem mit einem Zitat aus dem Buch „Das Glücksdiktat“ von Eva Illouz und Edgar Cabanas (Ich habe das Buch ebenfalls auf den NachDenkSeiten hier besprochen.):
„Glück gilt in unseren Zeiten vielmehr als eine Geisteshaltung, die sich willentlich herbeiführen lässt, als Resultat der Mobilisierung unserer inneren Stärke und unseres ‚wahren Selbst‘. (…) Vor allem aber stellt sich Glück heute als das zentrale Merkmal unseres Idealbildes vom guten Bürger dar“ (Eva Illous, Edgar Cabanas, Das Glücksdiktat S. 31).
Als ich den letzten Satz mit dem „guten Bürger“ gelesen habe, habe ich mich zunächst gefragt: Ist das nicht übertrieben? Aber ich glaube, das ist es ganz und gar nicht. Erinnern wir uns doch an die „Märchenhochzeit“ von Christian Lindner auf Sylt, zu der der CDU-Vorsitzende mit dem eigenen Privatjet anreiste. Diese mediale Inszenierung der Hochzeit Lindners war eine demonstrative Zurschaustellung privaten Glücks und des neoliberalen Idealbildes eines „guten Bürgers“. Die Botschaft lautet: Glück ist eine moralische Tugend. Und man kann es sich verdienen.
Die neoliberale Auffassung von Lebensglück als etwas Privates, das man sich als Individuum erarbeiten muss, macht Glück zu etwas, das überhaupt nichts mit den gesellschaftlichen und politischen Umständen zu tun hat. Aber ein Obdachloser kann sein Unglück nicht „wegatmen“ oder „wegmeditieren“. Er braucht zu seinem Glück schlicht eine Wohnung und soziale Sicherheit. Und Menschen, die unter einem Krieg leiden, sind nicht wegen einer falschen Geisteshaltung unglücklich, sondern weil ihr Haus kaputtgebombt wurde und ihre Angehörigen ums Leben gekommen sind. Oder um es mit den Worten von Kindler zu sagen, die neoliberale Ideologie suggeriert:
„Jeder Schicksalsschlag kann, wenn man nur ausreichend verhaltenstherapeutische Übungen macht, im Gehirn zur großen Chance umcodiert werden. Somit werden menschliche Schicksale auf innere Vorgänge reduziert, die man auch im Innern zu bewältigen hat. Die Botschaft: Es ist eigentlich egal, wie gestresst die Menschen durch ihre Armut sind, jeder Stress ist im Innern des Menschen bewältigbar“ (S. 63-64).
Der ständige Verweis auf die Erarbeitbarkeit von Glück durch Glückscoaches und Influencer müsse deshalb, so Kindler, als das bezeichnet werden, was er sei: Klassenkampf von oben.
Resümee
Jean-Philippe Kindler hat ein lesenwertes Buch geschrieben, das insbesondere jüngere Menschen interessieren dürfte. Manche seiner Thesen darin kann ich zwar nicht teilen. So scheint er offenbar nicht zu begreifen, dass die für die Unterbringung von Migranten zuständigen Kommunen völlig überfordert sind, und dass es auch kulturell bedingte Konflikte im Zusammenhang mit Migration gibt. Auch ist mir Kindler in manchen Passagen seiner Kapitalismuskritik zu studierstubenhaft akademisch und zu wenig praxisbezogen, obwohl er genau dies beim linken Milieu kritisiert. Aber um ein Buch mit Gewinn lesen zu können, muss man weder unbedingt den Autor mögen noch in allen Punkten mit seinem Buch übereinstimmen.
In einer Hinsicht möchte ich allerdings noch deutlich Kritik üben: Kindlers Buch ist durchgegendert, und das ist nicht nur eine sprachästhetische Zumutung, die die Lesbarkeit des Textes stört. Es hat auch was Übergriffiges, denn es macht den Leser zu einem Erziehungsobjekt, dem man das „richtige Sprechen“ beibringen muss, weil er nicht über die höheren Weihen der erleuchteten Gendersekte verfügt. Wäre dies eine Amazonrezension, würde ich deshalb nur 4 von 5 möglichen Sternen vergeben.
Jean-Philippe Kindler: Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik, Rowohlt-Verlag, erschienen im November 2023, 160 Seiten, 12,00 Euro.