Draußen lag eine dünne Schneedecke auf den Wegen zwischen den Baracken, es grieselte und die Dunkelheit war schon nachmittags um vier Uhr hereingebrochen. Es war der Hungerwinter 1946, im ersten Jahr nach dem Ende des Krieges. Wir froren, obwohl wir unsere Stühle nah an den Ofen gerückt hatten, einen länglichen Blechkasten, Brennhexe genannt, in dem ein Torffeuer brannte. Meine Mutter holte Decken, in die wir uns einhüllten. Eine Nachkriegsgeschichte von Wolfgang Bittner.
Auf der Herdplatte lagen vier Brotscheiben, die meine Schwester und ich mit hungrigen Augen bewachten. Als sie endlich von beiden Seiten gebräunt waren, erhielt jeder so ein Röstbrot, das wir mit einer Knoblauchzehe einrieben. „Den Geruch mochte ich noch nie“, sagte mein Vater. Bedächtig kauend, schien er dem Geschmack nachzuspüren und setzte hinzu: „Aber ist es nicht ein Genuss?“ Er nickte uns zu und legte sein linkes Bein mit der Kriegsverletzung auf einen Schemel.
„Schmeckt gut, ist nur zu wenig“, erwiderte ich. Mir knurrte schon seit Tagen der Magen, denn ein richtiges Essen, so eins, von dem man satt wurde, hatte es schon länger nicht mehr gegeben. „Nachher, wenn wir die Kerze angezündet haben, gibt es noch ein leckeres Süppchen“, vertröstete mich meine Mutter. Sie hatte ein paar Kartoffeln und einen Klecks Schmalz aufgespart, dazu eine Steckrübe. Ich wollte beim Kochen helfen und konnte es kaum erwarten.
Eigentlich war es ganz gemütlich, wie wir im Dämmerlicht einer von der Decke herabhängenden Glühbirne um den Ofen herum saßen. Meine Mutter begann, uns eine Geschichte zu erzählen, was sie gern und öfter tat. Sie war eine begabte Erzählerin und wusste viele Geschichten, die zumeist in Schlesien spielten, woher wir vor einem Jahr gekommen waren. Das heißt, mein Vater war schon vorher im Lager gewesen, das ursprünglich ein Lazarett für verwundete Soldaten war.
Die Geschichte handelte von Bergleuten, die im Gebirge nach Edelsteinen und wertvollen Erzen gruben. Tief unter der Erde schlugen sie in einem engen Stollen die Steine und das Erz aus dem Felsen heraus. Aber eines Tages war ein Knistern und ein Grollen zu vernehmen, das immer mehr anschwoll, bis der Stollen krachend zusammenbrach. Der Eingang wurde verschüttet, die Laternen waren verlöscht und um die Bergleute war nur noch undurchdringliche Dunkelheit. Zwei Tage mussten sie voller Angst in dieser unheimlichen Finsternis verharren. Da bemerkte einer von ihnen plötzlich einen schwachen Lichtschein, wie von einer Grubenlampe, am Ende des Stollens, wo es eigentlich nicht mehr weiterging. „Der Berggeist“, rief der Mann, „er gibt uns ein Zeichen!“ Hastig krochen die Männer durch ein Gewirr von Steinbrocken, Hölzern und geknickten Stützbalken auf das flimmernde Licht zu, dem sie allmählich näher kamen. Und schließlich öffnete sich vor ihnen ein Notausgang in den hellen Tag hinein.
Nachdem meine Mutter geendet hatte, herrschte eine Weile Schweigen. Dann sagte meine kleine Schwester: „Gut, dass die armen Bergleute von dem Berggeist gerettet wurden.“
„Ja, sie waren wirklich sehr arm, damals in Schlesien“, erwiderte mein Vater. „Sie mussten jeden Tag in die Dunkelheit hinabsteigen und verdienten so wenig, dass sie kaum ihre Familien ernähren konnten.“
„Waren sie denn noch ärmer als wir?“, wollte meine Schwester wissen.
„Ich glaube, sie waren noch viel ärmer“, meinte meine Mutter. „Und sie lebten in ständiger Angst vor einem Unglück.“
Ich stellte mir noch die Bergleute in ihrem finsteren Stollen vor, als es unvermittelt an der Tür klopfte. „Wer kann denn das um diese Zeit sein?“, murmelte mein Vater und stand auf. „Es ist bestimmt der Weihnachtsmann!“, vermutete ich, lief zur Tür und öffnete. Und wirklich stand da in dem Schneegestöber, das inzwischen eingesetzt hatte, ein Mann in einem verschneiten Kapuzenmantel. Er hatte zwei Koffer abgestellt, die er wieder aufnahm und hereinbrachte. „Mensch, Helmut“, hörte ich meinen Vater sagen. „Du lebst und bist gesund!“
Der geheimnisvolle Besucher schüttelte den Schnee von seinem Mantel und umarmte meine Eltern. Es war der Bruder meines Vaters, von dem die Eltern nicht gewusst hatten, ob er noch lebte. Wir setzten uns an den Tisch, wo es heller war, und mein Onkel musste erzählen, wie es ihm ergangen war und woher er kam. Doch kaum hatte er begonnen, sprang er wieder auf, um einen der Koffer zu öffnen. Zum Vorschein kamen mehrere Würste, Corned Beef, Käse, Reis, Nudeln, Dosen mit Obst, zwei Flaschen Wein, Süßigkeiten und ein großes Weißbrot.
„Frohe Weinachten!“, wünschte uns mein Onkel. „Wenn ich mich nicht täusche, ist heute Heilig Abend.“ Er verteilte Kekse und Schokolade und begann, eine Apfelsine zu schälen. Meiner Schwester und mir gingen die Augen über. „Vorsicht, nicht zu viel auf einmal!“, warnte meine Mutter, „sonst bekommt ihr Bauchweh und Durchfall. Nachdem wir so etwas lange nicht mehr gegessen haben, muss sich der Magen erst wieder darauf einstellen.“
Mein Onkel erzählte, dass er gleich nach Kriegsende eine Stelle als Dolmetscher bei den Kanadiern gefunden hatte. „Sie sind fair und großzügig“, meinte er, „und was das Essen angeht, sorgen sie für sich.“ Er deutete auf die mitgebrachten Lebensmittel und fügte lachend hinzu: „Wie ihr seht, konnte ich einiges abzweigen.“ Noch Ende 1944 war er verwundet worden: „Schuss in den Oberarm, Knochenbruch.“ Er zuckte mit den Schultern und meinte, die Wunde sei gut verheilt, aber der Arm jetzt einige Zentimeter kürzer. „Glück im Unglück: Es ist der linke Arm, und ich bin bekanntlich Rechtshänder. Jetzt muss ich immer den linken Ärmel meiner Hemden und Jacken kürzen lassen.“
Ihm war aufgefallen, dass mein Vater humpelte. „Was ist passiert?“, erkundigte er sich, und mein Vater berichtete von seiner Verwundung. Der Splitter einer Granate hatte ihn getroffen und er hatte wochenlang auf Leben und Tod im Lazarett gelegen. Auch er sprach von Glück im Unglück. Denn er vermochte den Militärarzt davon abzuhalten, sein Bein zu amputieren. Außerdem war ihm durch die Verwundung – ebenso wie meinem Onkel – die Gefangenschaft erspart geblieben.
Inzwischen war es immer später geworden und der Hunger holte uns in die Realität zurück. Da mein Onkel auch Würste mitgebracht hatte, ließ sich aus den vorhandenen Kartoffeln, der Steckrübe und dem Schmalz mit einer der Mettwürste eine köstliche Suppe kochen. Zum Nachtisch gab es Weißbrot mit holländischem Käse und danach noch Pfirsiche aus der Dose. So gut war es uns lange nicht mehr gegangen. Nach diesem opulenten Mahl öffnete mein Onkel für sich und die Eltern eine Flasche Wein. Wir Kinder durften aufbleiben, für uns gab es süßen Tee, und wir lauschten mit heißen Ohren den Erzählungen der Erwachsenen.
Später kam die Sprache noch auf meine Großeltern, die ebenfalls aus Schlesien vertrieben worden waren und jetzt in Sachsen in der sowjetischen Besatzungszone lebten. Das hatte mein Onkel noch nicht gewusst, er wollte sich um eine Genehmigung bemühen, sie zu besuchen. Die zuvor große Familie war jetzt – soweit sie noch lebte – in alle Winde zerstreut. Aber an diesem Abend waren wir Davongekommenen wieder vereint. Wir waren glücklich zusammen und feierten den Heiligen Abend. Wenn ich so zurückdenke, war es eines der schönsten Weihnachtsfeste, die ich erlebt habe. Es dauerte dann allerdings noch einige Jahre, bis die Schrecken des Krieges allmählich verblassten.
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Der Schriftsteller und Publizist Wolfgang Bittner ist Autor zahlreicher Bücher, darunter des Romans „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“, Verlag zeitgeist 2019. Siehe auch https://wolfgangbittner.de