Dem deutschen Kulturbetrieb ist angesichts des Terrors der Hamas am 7. Oktober in Israel ein unheimliches Schweigen vorgeworfen worden – man vermisse Menschlichkeit und Empathie. Unter dem Motto „Gegen das Schweigen, gegen Antisemitismus“ hat am 27. November ein sicher gut gemeintes Solidaritätskonzert im Berliner Ensemble unter viel medialem Beifall demonstriert, was man tun muss, um sich über derart moralische Fragwürdigkeit zu erheben. Man sollte aber die übrige Kulturszene nicht unwidersprochen im Zwielicht des Tadels stehen lassen. Denn das vermeintliche Schweigen ist sicher kein Schweigen aus Gleichgültigkeit oder gar emotionaler Distanz. Es ist eine große Traurigkeit ausgebrochen, in der sich das schnelle Bescheidwissen nicht empfiehlt. Es ist ein Schweigen aus Ratlosigkeit und wohl auch aus Rücksichtnahme. Denn wer jetzt sein Schweigen bricht, muss Tacheles reden. Diesen Mut hat man auf der Bühne des Berliner Ensembles weitgehend vermisst. Von Daniela Dahn.
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Was derzeit im Nahen Osten und darüber hinaus eskaliert, ist nicht das Ergebnis von Antisemitismus, sondern von Anti-Politik. Seit über 70 Jahren sind Araber und Juden nicht bereit, sich dieses geschichtsträchtige Palästina friedlich miteinander zu teilen. Und die internationale Gemeinschaft, die die Gründung des Staates Israel nicht eben sensibel eingeleitet hat, ist unfähig, eine dauerhafte, tragfähige Lösung anzubieten. Künstler und Intellektuelle haben in all den Jahren empathisch versucht, mit ihrem Vermögen Fremdheit und Hass entgegenzutreten und stattdessen Brücken des gegenseitigen Verständnisses zu bauen – auch sie stehen vor einem Trümmerhaufen. Aber man kann sie für das Scheitern nicht verantwortlich machen.
Die Berichte der Überlebenden des Pogroms der Hamas im Kibbuz Kfar Aza und Umgebung sind entsetzlich, jeder Mensch mit Herz möchte tröstend an ihrer Seite stehen. Dennoch greift die Forderung nach bedingungsloser Solidarität mit Israel zu kurz. Wer oder was ist Israel? Die Gesellschaft ist tief gespalten – Spalt beschönigt noch, es besteht eine tiefe Kluft zwischen den Anhängern der ultrarechten Regierung Netanjahu und den meist säkularen Israelis, die seit Monaten millionenfach auf der Straße demokratische Strukturen verteidigen wollten. Israelische Künstler und Intellektuelle haben Kanzler Scholz im März dieses Jahres gebeten, den Berlin-Besuch von Benjamin Netanjahu abzusagen, weil die Einladung des Chefs der rechtesten Regierung, die Israel in seiner Geschichte je hatte, der Demokratiebewegung im Lande schade. Doch Staatsraison ging vor Demokratieverlust.
Angesichts des Kriegsrechts sind die Protest-Demonstranten nun auch still geworden. Was unterscheidet das Schweigen dieser uns Verbündeten von unserem eigenen Schweigen? Wie soll man sich erklären, dass ausgerechnet im von Shoa-Überlebenden gegründeten Staat mehrheitlich rechtsextrem gewählt wurde? Dass gar Finanzminister Bezalel Smotrich, der sich selbst als „faschistischen Homophoben“ rühmt, vom korruptionsverdächtigen Netanjahu die Kontrolle über große Teile der besetzten Gebiete übertragen bekommen hat – und dort gegenüber den Palästinensern ein anderes Rechtssystem durchsetzt, als es für die benachbarten israelischen Siedler gilt. Dies hat Amnesty International oder Human Rights Watch wie auch jüdische Intellektuelle in Israel, Europa und den USA veranlasst, die Besatzung als Apartheid zu verurteilen.
Wie soll man die Provokation verkraften, wenn der auch für die besetzten Gebiete zuständige Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, einst verurteilt wegen Unterstützung terroristischer Vereinigungen, als „religiöser Faschist“ gilt – so bezeichnet von dem Politologen der Ben-Gurion-Universität Dani Filc, der eine Erosion des moralischen Gefüges in der israelischen Gesellschaft sieht.
„Die jahrzehntelange Besatzung der Palästinenser-Gebiete braucht Rassismus, um sich zu legitimieren. Das bringt gewisse Tabus zu Bruch.“
Wer jetzt beschließt, nicht zu schweigen, muss diese Tabus benennen. Daran mangelte es der mit großem Medienlob begleiteten Veranstaltung von Vertretern der Kulturszene im Berliner Ensemble. Dort wurden, soweit der Berichterstattung zu entnehmen war, das Antisemitismus-Narrativ als Erklärung für die Ursache von Hass und Gewalt benutzt und der Kampf dagegen als wichtigste Voraussetzung zur Beilegung des Konfliktes beschworen. Doch der gänzlich unbrauchbare, inkohärente Begriff des Antisemitismus verwirrt mehr, als er erklärt. Er hebt die Debatte aus den realen Interessenlagen politischer Verfehlungen auf eine schwer zu fassende irrationale Ebene. Ich habe mich dazu unlängst ausführlich geäußert.
Natürlich ist nicht das Geringste dagegen zu sagen, sich gemeinsam wunderbare Musik wie auch gekonnt vorgetragene, weise Texte der klassischen Weltliteratur oder eigene ältere Texte anzuhören, die belegen, dass man schon immer auf der Seite des Guten stand. Doch das Ganze hat auch etwas von Ablasshandel. Wer nur laut genug vermeintlichen Antisemitismus beklagt, der wird öffentlich exkulpiert und auf der richtigen Seite eingeordnet, ob im Publikum oder besser noch auf der Bühne. Und auch die nächsten geplanten Solidaritätskonzerte dieses Formates werden in vier Minuten ausverkauft sein, weil die mediale und vielleicht auch persönliche Schuldbefreiung so gut funktioniert.
Für einen Menschen mit humanistischer Gesinnung, die ich bei allen Künstlern und Intellektuellen voraussetze, ist es in gewisser Weise auch eine Zumutung, Selbstverständliches öffentlich bekennen zu sollen, nämlich, dass man Antisemitismus verurteilt und ebenso die brutale Attacke der Hamas – dass beides auch durch Vorgeschichte nicht zu rechtfertigen ist. Was jetzt wirklich gebraucht wird, ist kein Bekenntniszwang, sondern Vorschläge für Friedenslösungen. Nur durch sie wird die Hamas ihrer Existenzgrundlage beraubt werden. Wenn derart Praktikables auch von Kulturschaffen kommt, umso besser. Ihre Hauptaufgabe ist es nicht. Sie sind auf ihre Art für das Menschliche zuständig, für die Überwindung von Fremdheit – die uns leider nach wie vor als aus dem Tierreich herkommend und in der Zivilisation noch nicht gänzlich Angekommene ausweist.
Hier muss der aus der Aufklärung stammende Toleranzgedanke immer wieder verteidigt werden – so, wie es im Berliner Ensemble atemberaubend die großartige, 102-jährige Shoa-Überlebende Margot Friedländer getan hat, mit einem Appell, der vorgeblichem Antisemitismus jede rationale Grundlage entzieht: „Es gibt kein christliches, muslimisches oder jüdisches Blut. Wir sind doch alle Menschen. Wir müssen achtsam sein. Wir müssen menschlich sein. Seid Menschen!“
Dafür hat sich das Solidaritätskonzert dann doch allemal gelohnt.
Dieser Beitrag wurde zuerst in Ossietzky 24/2023 veröffentlicht.
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