Drei Monate vor den Präsidentschaftswahlen in Russland, bei denen Wladimir Putin wieder kandidieren wird, beantwortete der russische Präsident im Gostiny Dwor, einem Veranstaltungszentrum nicht weit vom Roten Platz in Moskau, über vier Stunden lang die Fragen in- und ausländischer Journalisten und per Video zugeschalteter Bürger zur internationalen Politik und zu den Alltagssorgen der Russen. Neben dem Krieg in der Ukraine ging es vor allem um Fragen der medizinischen Versorgung, Renten und Sozialleistungen. Von Ulrich Heyden.
Die jährlich abgehaltene Bürgersprechstunde und die jährlich veranstaltete große Pressekonferenz für in- und ausländische Journalisten hatte man in diesem Jahr zusammengelegt (hier das Protokoll auf Englisch). Mehrere Hundert Journalisten machten mit Schildern auf ihre Region oder ihr Anliegen aufmerksam, in der Hoffnung, dass man ihnen die Möglichkeit gibt, eine Frage zu stellen.
Eine klare Struktur hatte die von Putins Pressesprecher und zwei Journalisten moderierte Veranstaltung nicht. Es ging hin und her zwischen der „Spezialoperation“ in der Ukraine, dem Mangel an Medikamenten und geringer Rente. Viele Bürger aus der russischen Provinz riefen an oder schickten Video-Botschaften, in denen sie um neue Krankenhäuser, mehr Ärzte, soziale Hilfe für Teilnehmer der „Operation“ in der Ukraine und um neue Fernstraßen und Flughäfen baten.
„Ziele in der Ukraine noch nicht erreicht“
Der Kreml-Chef, der letzte Woche seine Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen im März ankündigte, erklärte, Frieden in der Ukraine werde es dann geben, wenn Russland seine Ziele erreicht hat, nämlich die Neutralität der Ukraine sowie die Entnazifizierung und Entmilitarisierung des Nachbarlandes.
So lange der Hitler-Kollaborateur Stepan Bandera in der Ukraine als Nationalheld gefeiert werde, sei die Ukraine nicht denazifiziert. Und so lange die Lieferung von Hunderten von Panzern in die Ukraine nicht gestoppt sei, sei das Land nicht demilitarisiert.
Die Ukraine versuche, mit der Entsendung von Sturmtruppen an das linke Ufer des Dnjepr Stützpunkte am Rande des von Russland kontrollierten Gebietes aufzubauen. Dieser Versuch sei sinnlos, solle aber den Beweis erbringen, dass die ukrainische Armee noch offensivfähig ist. Dabei verheize die Ukraine ihre besten Sturmtruppen, die in Gummibooten über den Dnjepr übersetzen und dabei Ziel russischer Waffen würden.
Der russische Präsident erklärte, Odessa sei eine „russische Stadt“. Diese Äußerung kann man deuten als einen Hinweis, dass die russische Armee Odessa irgendwann zu erobern gedenkt, um die Zentralukraine vom strategisch wichtigen Schwarzen Meer abzuriegeln.
Keine zweite Mobilisierung geplant
Eine zweite Mobilisierung werde es in Russland nicht geben, erklärte der Kreml-Chef. Es reiche, dass täglich 1.500 Russen Verträge über einen freiwilligen, zwei bis drei Jahre dauernden Militärdienst unterschreiben. Von 617.000 russischen Soldaten in der Ukraine seien 486.000 Vertragssoldaten.
Eine heikle Frage sprach der Korrespondent des russischen Fernsehkanals Das Erste, Dmitri Kulko, an. Der Korrespondent berichtete, er kenne russische Soldaten, die monatelang auf Zahlungen des Staates gewartet haben. Außerdem gäbe es das Problem, dass Soldaten, deren Verwundungen in russischen Krankenhäusern auskuriert wurden, nach der Entlassung zurück an die Front müssen, um dort vor einer medizinischen Kommission ihren Gesundheitszustand überprüfen zu lassen.
Der russische Präsident erklärte, er werde den russischen Verteidigungsminister Sergej Schojgu fragen, warum sich die verwundeten Soldaten nicht am Ort der Rehabilitation, sondern an der Front einer medizinischen Kommission stellen müssen. Außerdem kündigte Putin an, die Kontrolle über Zahlungen an Soldaten stärker zu kontrollieren.
Zum Gazastreifen erklärte Putin, man habe Israel angeboten, in dem Kriegsgebiet ein russisches Feldhospital aufzubauen, doch die israelische Seite habe erklärt, dass das „zu gefährlich“ sei. Russland werde aber die medizinische Hilfe für die Menschen im Gazastreifen erhöhen.
Putin: „Wir wollen Migranten nicht um jeden Preis“
Eine Journalistin, welche die Bürgersprechstunde mitmoderierte, leitete zu einem schwierigen Thema über. Sie erklärte, viele Bürger in Russland seien unzufrieden über die Migranten. Diese kommen nach Russland nicht als Flüchtlinge, sondern als Arbeitsmigranten, meist aus den mittelasiatischen Republiken Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan. Sie leisten den entscheidenden Anteil auf Neubaustellen und beim Straßenbau.
Viele Russen haben gegenüber Migranten ein kritisches Verhältnis. Die Migranten seien ungenügend ausgebildet und sie drückten die Löhne, hört man immer wieder. Auch hört man teilweise, dass sie angeblich die russischen Sitten nicht genug beachten würden.
Allerdings tut die russische Regierung auch kaum etwas dafür, die Migranten auf einen Arbeitseinsatz in Russland vorzubereiten, geschweige denn, sie in das gesellschaftliche Leben in Russland zu integrieren. Die einfachen Russen nehmen Migranten oft als Menschen wahr, die nur russische soziale Einrichtungen nutzen wollen, sich aber nicht wie Staatsbürger verhalten. Bei den Migranten wiederum führt die ablehnende Haltung vieler Russen dazu, dass sie sich nicht als willkommene Menschen empfinden.
Der russische Präsident erklärte, in Russland lebten zurzeit sechs Millionen Migranten. Es gäbe einen Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften in Russland, aber man werde Migranten „nicht um jeden Preis“ nach Russland holen, „um Schaden von der russischen Bevölkerung abzuwenden“. Man müsse in den Heimatländern der Migranten Schulen eröffnen, welche die Migranten auf ihr Leben in Russland vorbereiten, ihnen die russische Sprache und die russischen Sitten vermitteln.
Putin erklärte, es gäbe sehr viele Anfragen von Staatsbürgern aus westlichen Ländern für die russische Staatsbürgerschaft. „Alle gesetzhörigen“ Antragsteller werde man als Staatsbürger aufnehmen, allerdings nicht so weit gehen wie in Europa und den USA, wo eine zu große Zahl von Neubürgern das Staatsgefüge bedrohe, so Putin.
Nord Stream 2 – „höchstwahrscheinlich waren es die Amerikaner“
Putin wies Beschuldigungen, Russland habe Gaslieferungen nach Europa gestoppt, zurück.
„Die Tatsache, dass Europa nicht genug Gas bekommt, ist ihr Problem. Sie haben versucht, uns die Schuld dafür zu geben, dass wir nichts verkaufen. Das ist völliger Unsinn, denn wir haben die Jamal-Europa-Gaspipeline in Polen nicht geschlossen, wir haben den zweiten Zweig der Gaspipeline durch die Ukraine nicht geschlossen, das war die Ukraine. Es waren nicht wir, die Nord Stream 1 und teilweise Nord Stream 2 in die Luft gesprengt haben, sondern höchstwahrscheinlich die US-Amerikaner oder jemand auf ihr Geheiß.“
Putin erklärte, dass Deutschland die eine verbliebene Leitung von Nord Stream 2 nicht für Gaslieferungen öffnet. Zur Situation in Deutschland erklärte der russische Präsident:
„Dort gibt es einen Preisanstieg, ganze Industrien machen dicht: Glas-, Chemie- und Hüttenindustrie leiden darunter. Und dementsprechend ist alles, was damit zusammenhängt, ein echtes Problem. Höchstwahrscheinlich wird die deutsche Wirtschaft in ein Minus gehen, ein kleines, aber ein Minus. Aber das ist ihre Entscheidung, nicht unsere.“
Wirtschaftliche Lage
Der Kreml-Chef erklärte, Russland sei trotz der westlichen Sanktionen wirtschaftlich und politisch stabil. Das Wirtschaftswachstum liege bei 3,5 Prozent. Die Inflation liege bei 7,5 Prozent, die Arbeitslosenquote liege mit 2,9 Prozent auf historisch niedrigstem Stand. Die Lebenserwartung der Russen habe sich von 70 auf 72 Jahre erhöht. Daran könne man sehen, dass sich die Lebensqualität verbessert habe.
Ein Problem, das der russische Präsident nur am Rand ansprach, war, dass man nicht wisse, wie viele Rubel im Ausland gelagert werden. Vor 2022 habe man diese Informationen aus den westlichen Ländern noch erhalten. Heute erhalte man diese Informationen nicht mehr. Die fehlenden Daten erschweren vermutlich Planungen der russischen Finanzbehörden.
Preissteigerungen
Die Rentnerin Irina Aleksandrowna rief per Video-Schaltung in der Bürgersprechstunde an und erklärte, sie sei immer traurig, wenn sie Eier kaufe. Der Preis für eine Zehnerpackung sei von 180 auf 220 Rubel (2,26 Euro) gestiegen. „Helfen sie uns Rentnern“, bat die Frau.
Putin erklärte, die Löhne in Russland seien gestiegen, deshalb habe sich auch die Nachfrage erhöht. Die Eier-Produktion sei aber nicht entsprechend gesteigert und der Import von Eiern aus Weißrussland und der Türkei nicht rechtzeitig erhöht worden. Das sei ein Fehler der russischen Regierung gewesen. Aber „die Situation wird sich verbessern“, versprach der Präsident.
Nicht genügend Impfstoff gegen Masern
Das Eier-Defizit habe – so der russische Präsident – auch dazu geführt, dass man nicht genug Impfdosen gegen Masern habe produzieren können. Nicht alle Ersatzimpfstoffe aus dem Ausland seien geeignet. Bei Migranten und Millionen Menschen, die aus der Ukraine nach Russland übergesiedelt sind, sei die Immunität gegen Masern sehr niedrig, was zu einem Anstieg der Erkrankungen geführt habe.
Ein Rentner aus Nowosibirsk erklärte, die Rente sei zuletzt um 7,5 Prozent erhöht worden, die Wohnungsbetriebskosten seien aber um Werte zwischen neun und 14 Prozent gestiegen. Putin erklärte, die Rente sei im Dezember 2022 um zehn Prozent erhöht worden. Doch seitdem sei die Inflation gestiegen.
Ein junger Mann, der in der Luftfahrt beschäftigt ist, fragte den Präsidenten, mit welchen Flugzeugen die russische Zivilluftfahrt in Zukunft fliegen werde, wo man doch zurzeit vorwiegend mit ausländischen Flugzeugen fliege, die aber irgendwann ausrangiert werden müssen, da keine Ersatzteile mehr geliefert werden.
Der russische Präsident erklärte, er hoffe, dass es gelingt, bis 2030 1.000 neue russische Flugzeuge für die Zivilluftfahrt zu produzieren. Der Starttermin für die Serienproduktion des neuen russischen Mittelstreckenflugzeugs MC 21 wurde wegen der westlichen Sanktionen bereits mehrmals verschoben und soll nun 2025 beginnen.
Eine US-Amerikanerin im Military-Look
Auf der Veranstaltung in Moskau trat auch eine Korrespondentin der New York Times auf. Sie hatte sich im Military-Look a la Selenski gekleidet und bat um die Freilassung von zwei wegen Spionage in Russland inhaftierten US-Amerikanern, dem Journalisten Evan Gershkovitsh und dem ehemaligen Militär Paul Whelan.
Putin erklärte, man sei nicht gegen die Rückführung dieser Personen in die USA und führe mit den amerikanischen Stellen darüber einen Dialog, bei dem es bisher aber nicht zu einer Einigung gekommen sei.
In seinem Schlusswort erklärte Putin, bei ihm selbst habe es Anfang der 2000er-Jahre gegenüber „unseren Partnern“ im Westen „ein Übermaß an Naivität und Vertrauen“ gegeben. Ein „Garant für die Entwicklung Russlands“ sei, wenn man „an das russische Volk glaubt“.
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