Der EU-Beitritt der Ukraine hat einen geopolitischen Hintergrund

Der EU-Beitritt der Ukraine hat einen geopolitischen Hintergrund

Der EU-Beitritt der Ukraine hat einen geopolitischen Hintergrund

Karsten Montag
Ein Artikel von Karsten Montag

Nachdem die EU-Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in Brüssel die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine mithilfe eines Verfahrenstricks und ohne die Zustimmung Ungarns beschlossen haben, stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Die Ukraine ist noch weit davon entfernt, die wirtschaftlichen Kriterien für einen Beitritt zu erfüllen. Bis zum Schluss hatte Ungarn angedroht, ein Veto gegen die Entscheidung einzulegen. Da sich die Ukraine zudem in einem Krieg mit Russland befindet, droht eine zeitnahe Aufnahme in die EU den Konflikt zum Nachteil der Bürger Europas dauerhaft zu verlängern und zu eskalieren. Dies ist offensichtlich das Ziel der EU-Kommission sowie der Mehrheit der europäischen Staatsoberhäupter. Von Karsten Montag.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wie die Tagesschau berichtete, hat die EU am Donnerstag beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbàn befand sich zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht im Raum und konnte daher nicht gegen den Antrag stimmen. Dieser Verfahrenstrick sei mit ihm abgesprochen gewesen.

Bereits seit 2014 existiert ein Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, das 2017 endgültig in Kraft getreten ist. Ende Februar 2022, nur wenige Tage nach dem Beginn des russischen Einmarsches, hat die Ukraine die Mitgliedschaft in der EU beantragt. Im Juni 2022 haben die EU-Mitgliedsstaaten der Ukraine den Status des Beitrittskandidaten zuerkannt. Anfang November 2023 hat die EU-Kommission dem Europäischen Rat empfohlen, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen.

Hat die Ukraine bereits 90 Prozent der Schritte zum EU-Beitritt erfüllt?

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte im Rahmen der Empfehlung an den Europäischen Rat zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, das Land hätte bereits 90 Prozent der Schritte erfüllt, die in einem vorangegangen Bericht der Kommission festgelegt worden sind. Diese Aussage ist leicht misszuverstehen, und so gab die Frankfurter Rundschau die Äußerungen der Präsidentin mit den Worten wieder: „Sieben Reformauflagen muss die Ukraine erfüllen, um EU-Mitgliedsstaat zu werden. Laut EU-Kommission seien bereits 90 Prozent erfüllt.“ Unter anderem stellt auch die Augsburger Allgemeine den Sachverhalt in einer Art und Weise dar, als hätte die Ukraine bereits 90 Prozent der Kriterien für einen Beitritt erfüllt.

Bei den sieben Schritten, die von der Leyen genannt hat und von denen sie 90 Prozent als abgeschlossen ansieht, handelt es sich jedoch nicht um Kriterien zum EU-Beitritt der Ukraine, sondern lediglich zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Sie wurden von der EU-Kommission im Juni 2022 im Rahmen ihrer Empfehlung an den Europäischen Rat zur Zuerkennung des Kandidatenstatus der Ukraine festgelegt und in der Empfehlung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen vom 8. November 2023 auf den Grad der Umsetzung überprüft.

Diese Schritte umfassen:

  • Reformen bei den Rechtsvorschriften zur Auswahl der Richter des ukrainischen Verfassungsgerichts (aus Sicht der EU-Kommission abgeschlossen),
  • die Integritätsprüfung der Kandidaten für den Hohen Justizrat und der ukrainischen Hohen Qualifikationskommission für Richter (aus Sicht der EU-Kommission abgeschlossen),
  • die Intensivierung der Korruptionsbekämpfung (aus Sicht der EU-Kommission weiteres Gesetz nötig),
  • die Anpassung der Bekämpfung von Geldwäsche an internationale Standards (aus Sicht der EU-Kommission abgeschlossen),
  • die Umsetzung eines Anti-Oligarchen-Gesetzes, um den übermäßigen Einfluss von Oligarchen im wirtschaftlichen, politischen und öffentlichen Leben zu begrenzen (aus Sicht der EU-Kommission weiteres Gesetz nötig),
  • die Verabschiedung eines Mediengesetzes, das die Rechtsvorschriften der Ukraine an die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste angleicht (aus Sicht der EU-Kommission abgeschlossen) sowie
  • den Abschluss der Reform des Rechtsrahmens für nationale Minderheiten (aus Sicht der EU-Kommission weiteres Gesetz nötig).

Der ukrainische Außenminister Kuleba erklärte am 11. Dezember, dass bis auf das Gesetz zur Eindämmung des Einflusses von Lobbyisten alle Anforderungen der EU-Kommission umgesetzt worden seien. Das noch ausstehende Gesetz sei bereits im Parlament registriert und werde ebenfalls angenommen werden. Dann sollte aus Sicht der Ukraine der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nichts mehr im Wege stehen.

Veto-Ankündigung aus Ungarn

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat in den letzten Tagen vor dem EU-Gipfel mehrfach bekräftigt, dass er gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine stimmen werde und lediglich eine strategische Partnerschaft für denkbar halte. Auch Ungarns regierende Fidesz-Partei lehnt die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine ab. Als offizielle Gründe für diese Haltung werden genannt, dass der Vorschlag der EU-Kommission zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nicht sorgfältig vorbereitet und dass die Ukraine noch immer eines der korruptesten Länder der Welt sei. Den ursprünglichen Grund, die Ukraine würde der dort lebenden ungarischen Minderheit nicht genügend Rechte einräumen, hat das ukrainische Parlament durch den kurzfristigen Beschluss eines Paketes von Gesetzesänderungen, das gleichsam den Forderungen der EU und der Minderheitenverbände entspricht, ausgeräumt.

In vielen deutschsprachigen Medien wird sehr abwertend über die Haltung Ungarns und noch abwertender über die Person Orbáns berichtet, darunter auch im ZDF. Die Autoren des ZDF-Beitrages vermuten, dass der ungarische Ministerpräsident mit seiner Veto-Androhung lediglich EU-Gelder für Ungarn, die aufgrund rechtsstaatlicher Mängel in seinem Land zurückgehalten werden, freipressen wollte. Die EU-Kommission war bereit, ihm entgegenzukommen und zehn Milliarden der insgesamt rund 30 Milliarden Euro bisher verweigerter Unterstützungsleistung an Ungarn auszuzahlen.

Des Weiteren unterstellt das ZDF Orbán eine zu große Nähe zu den „Diktatoren“ Wladimir Putin sowie Xi Jinping und bezeichnet ihn als „Putins Brückenkopf in der EU“. Der ungarische Premierminister war im Oktober als einziges Staatsoberhaupt der EU zum Seidenstraßen-Gipfel nach Peking gereist. Wie wichtig das Projekt der Neuen Seidenstraße für den zukünftigen wirtschaftlichen Erfolg auch der EU-Länder sein kann, ist allein daran zu erkennen, dass es mehr als 60 Prozent der Weltbevölkerung und 35 Prozent der Weltwirtschaft betrifft.

Doch es gibt neben den Einwänden, die Ungarn angeführt hat, noch weitere triftige Gründe, warum ein baldiger Beitritt der Ukraine problematisch für die Mitgliedsländer der EU sein könnte.

Die Ukraine hat bei Weitem noch nicht die Beitrittskriterien erfüllt, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht

Die Bedingungen für den Beitritt eines europäischen Landes zur EU sind 1993 vom Europäischen Rat in den sogenannten „Kopenhagener Kriterien“ festgelegt worden. Diese lauten:

  • institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten;
  • eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten;
  • die Fähigkeit, die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu erfüllen, einschließlich der Fähigkeit, die zum EU-Recht (dem ‚Besitzstand‘) gehörenden gemeinsamen Vorschriften, Normen und politischen Strategien wirksam umzusetzen, sowie Übernahme der Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion.

Weitere Kriterien wurden vom Rat 1995 und 2006 formuliert. Zum einen sollten vor einem Beitritt die Voraussetzungen für eine schrittweise und harmonische Integration von antragstellenden Ländern geschaffen werden, und zwar insbesondere durch die Entwicklung der Marktwirtschaft, die Anpassung der Verwaltungsstrukturen dieser Länder und die Schaffung stabiler wirtschaftlicher und monetärer Rahmenbedingungen. Zum anderen sollte auch die Fähigkeit der EU, neue Mitglieder integrieren zu können, in Betracht gezogen werden.

Es ist also zu erkennen, dass die Ukraine mit der Umsetzung der von der EU-Kommission im Juni 2022 formulierten sieben Schritte höchstens das erste der Kopenhagener Kriterien, das sogenannte politische Kriterium, erfüllt hat. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu Beitrittsverhandlungen kommen kann. Die dritte Bedingung, das sogenannte Acquis-Kriterium (von Acquis communautaire, französisch für gemeinsamer Besitzstand), beinhaltet die Übernahme aller Rechte und Pflichten, die für jedes EU-Mitglied verbindlich sind, in das nationale Gesetzeswerk des Beitrittskandidaten. Der EU-Acquis umfasst mittlerweile mehr als 100.000 Gesetzesakte, und dessen Übernahme wird im Rahmen der Beitrittsverhandlungen umgesetzt.

Wie lange ein derartiger Prozess dauern kann, ist am Beispiel der Türkei ersichtlich. Bereits 1963 hatte die Türkei mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen. Von 1999 bis 2004 hatte das Land den Status des Beitrittskandidaten inne. Seit 2005 führen die EU und die Türkei Beitrittsverhandlungen, die immer wieder abgebrochen werden und bis heute nicht abgeschlossen sind. Im Gegensatz dazu wurde Finnland 1992 Beitrittskandidat, die Verhandlungen zum Beitritt wurden bereits ein Jahr später aufgenommen, und seit 1994 ist das Land Mitglied der EU, damals noch Europäische Gemeinschaft genannt. Allerdings war Finnland zuvor bereits Mitglied der Europäischen Freihandelszone gewesen und hatte einen Großteil der Beitrittsbedingungen schon zu Beginn der Verhandlungen erfüllt.

Die problematischste Bedingung, welche die Ukraine erfüllen muss, wird jedoch mit Abstand das zweite Kopenhagener Kriterium sein, das sogenannte wirtschaftliche Kriterium. Damit einher geht die Fähigkeit der EU, die Ukraine aufnehmen zu können, da zu erwarten ist, dass nach deren Aufnahme große Unterstützungsleistungen in das Land fließen würden.

Der wirtschaftliche Zustand der Ukraine

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag 2022 in der Ukraine bei gerade einmal 4.500 US-Dollar, in der EU hingegen im Durchschnitt bei 37.000 US-Dollar. Selbst im ärmsten Land der Union, in Bulgarien, betrug die Wirtschaftsleistung 2022 knapp 14.000 Dollar pro Kopf. Aufgrund des Krieges mit Russland ist die ukrainische Wirtschaft zwischen 2021 und 2022 um fast ein Drittel geschrumpft. Die Inflationsrate lag 2022 bei über 20 Prozent und wird 2023 bei geschätzten knapp 18 Prozent liegen.

Die Staatsverschuldung betrug 2022 78 Prozent des BIP und wird 2023 auf geschätzte 88 Prozent klettern. Das Haushaltsdefizit lag 2022 bei knapp 16 Prozent und wird 2023 bei geschätzten 19 Prozent liegen. Damit würde die Ukraine deutlich gegen die Maastricht-Kriterien der EU verstoßen, die eine Staatsverschuldung von maximal 60 Prozent und ein Haushaltsdefizit von höchstens drei Prozent des BIP erlauben.

Angesichts der schlechten Wirtschaftsdaten kommt die EU-Kommission in ihrer Empfehlung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine hinsichtlich der Bewertung des wirtschaftlichen Kriteriums zu dem Schluss:

Aufgrund der Auswirkungen der anhaltenden umfassenden Invasion Russlands sowie der bereits bestehenden strukturellen wirtschaftlichen Herausforderungen befindet sich die ukrainische Wirtschaft zwischen einem frühen Stadium und einem gewissen Grad an Vorbereitung auf den Aufbau einer funktionierenden Marktwirtschaft. (…) Aufgrund der Auswirkungen der anhaltenden groß angelegten Invasion Russlands sowie der bereits bestehenden strukturellen wirtschaftlichen Herausforderungen befindet sich die Ukraine im Hinblick auf ihre Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten, in einem frühen Stadium der Vorbereitung.“ (Hervorhebungen im Original)

Sollten sich die EU-Länder trotzdem für einen zügigen Beitritt der Ukraine entscheiden, kämen große Herausforderung auf den Haushalt der EU zu. Damit würde die EU selbst womöglich gegen ihr Kriterium, die eigenen Fähigkeiten bei der Aufnahme neuer Mitglieder zu berücksichtigen, verstoßen.

Finanzielle Folgen eines EU-Beitritts der Ukraine

Da die Ukraine selbst im Vergleich zur Republik Moldau und den Westbalkanländern Albanien, Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina sowie Nordmazedonien hinsichtlich des BIP pro Kopf der Ärmste aller Beitrittskandidaten ist, gleichzeitig aber, abgesehen von Russland, von der Fläche das zweitgrößte und von der Einwohnerzahl das siebtgrößte europäische Land ist, hätte eine Vollmitgliedschaft beträchtliche finanzielle Ausgleichszahlungen zur Folge. Das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln hat die finanziellen Folgen einer Mitgliedschaft der Ukraine auf den derzeitigen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU von 2021 bis 2027 in einer Abschätzung auf rund 130 bis 190 Milliarden Euro beziffert, je nachdem, welche Annahmen über die Ackerlandfläche und die Bevölkerungszahl für die Ukraine getroffen werden. Davon würden zwischen 70 und 90 Milliarden Euro auf Agrarsubventionen entfallen und zwischen 50 bis 90 Milliarden Euro auf die Strukturförderung.

Da der MFR in der Periode 2021 bis 2027 mit einem Budget von 1.216 Milliarden Euro ausgestattet ist, würde allein die Ukraine eine Mehrbelastung von bis zu 15 Prozent ausmachen. Größter Nettoeinzahler in den EU-Haushalt ist Deutschland, gefolgt von Frankreich und den Niederlanden. Größte Nettoempfänger sind Polen, Belgien und Rumänien. Die Mehrbelastung könnte zur Konkurrenz um Unterstützungsleistungen bei den Nettoempfängern führen, sofern die EU keine Umschichtung und Aufstockung des Budgets vornimmt. Dies könnte wiederum dazu führen, dass die betroffenen Länder ihre Zustimmung zur Aufnahme der Ukraine verweigern. Das Institut kommt daher in seiner Abschätzung zu dem Schluss:

Wenn die politische Entscheidung, vor allem der Ukraine eine Beitrittsperspektive zu verschaffen, glaubwürdig sein soll, müsste die EU bereit sein, sich zu reformieren.“

Neben der regulären finanziellen Belastung, die auf die übrigen EU-Mitglieder bei einer Aufnahme der Ukraine zukommen würde, würden sie jedoch noch eine weitere, nicht zu unterschätzende Bürde auf sich nehmen, solange sich das Land noch im Krieg mit Russland befindet.

Die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland könnte zur Verpflichtung werden

Der bewaffnete Konflikt zwischen der Ukraine und Russland dauert mittlerweile seit fast zwei Jahren an und hat sich zu einem Abnutzungskrieg mit bisher nur geringen Geländegewinnen auf beiden Seiten der Parteien entwickelt. In derartigen Materialschlachten stehen nicht strategische Planungen im Vordergrund, sondern der schlichte massenhafte Einsatz von Truppen, Waffen und Munition. Ohne die finanzielle und militärische Unterstützung der EU und der USA hätte die Ukraine höchstwahrscheinlich schon längst einen Friedensvertrag mit Russland geschlossen.

Die USA haben die Ukraine bis Ende Oktober 2023 mit insgesamt 71,4 Milliarden Euro in finanzieller, humanitärer und militärischer Form unterstützt, die EU inklusive der einzelnen EU-Länder mit insgesamt 125,6 Milliarden Euro. Eine weitere Zahlung der EU in Höhe von 50 Milliarden Euro an die Ukraine steht derzeit aus, da der ungarische Premierminister Viktor Orbán dagegen ein Veto eingelegt hat. Auch eine weitere Unterstützung der Ukraine durch die USA in Höhe von 60 Milliarden Dollar wird derzeit durch die republikanische Mehrheit im US-Repräsentantenhaus blockiert. Sollten die Leistungen aus den USA dauerhaft ausfallen, müsste die EU diese zusätzlich übernehmen, sofern sie den Stellvertreterkrieg mit Russland in der Ukraine aufrechterhalten will.

Angesichts dieser immensen Belastungen ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis sich neben Ungarn auch in anderen EU-Ländern Widerstand gegen die hohen Kosten und das sinnlose Töten an der Front in der Ukraine, das an den Stellungskrieg an der Westfront in Frankreich im Ersten Weltkrieg erinnert, entwickelt. Der im Oktober neu gewählte Ministerpräsident der Slowakei hat bereits die Einstellung der Militärhilfe seines Landes an die Ukraine angekündigt und stimmt weiteren Finanzleistungen der EU an das Land nur unter Bedingungen zu. Dabei argumentiert er ähnlich wie sein Amtskollege in Ungarn.

An dieser Stelle könnte ein zügiger Beitritt der Ukraine zur EU die rechtliche Grundlage der Hilfeleistung verändern. Denn bei einer Mitgliedschaft wären die anderen EU-Länder verpflichtet, die Ukraine auf Basis von Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags zu unterstützen:

Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.“

Mögliche Folgen für die übrigen EU-Länder bei einer Verpflichtung zur Hilfe

Der Abnutzungskrieg in der Ukraine hat bereits dazu geführt, dass das Land auf eine Kriegswirtschaft umgestellt hat. 2022 lag der Anteil der Militärausgaben am BIP in der Ukraine bei 34 Prozent. 2023 soll er sogar auf 43 Prozent steigen. Russland ist derweil im Begriff, auf eine Kriegswirtschaft umzustellen, und plant jährlich knapp sechs Prozent seines BIPs in Militärausgaben zu investieren.

Sollten die EU-Länder verpflichtet sein, die Ukraine weiter in ihrem Kampf gegen Russland zu unterstützen, wird es in den übrigen Mitgliedsländern unweigerlich auch zu höheren Militärausgaben und einer schrittweisen Umstellung auf eine Kriegswirtschaft kommen. Selbst eine Unterstützung mit eigenen Truppen wäre denkbar. Aus den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts wird deutlich, was dies bedeuten würde:

  • umfassende Sparmaßnahmen in allen Bereichen des Staatswesens,
  • Beschlagnahmung und Enteignung von Geldern feindlicher Staaten und Staatsangehöriger auf inländischen Konten (ist im Rahmen der Sanktionen gegen Russland bereits geschehen),
  • Aufnahme von Kriegskrediten sowie Druck neuen Geldes, was unweigerlich in eine höhere Inflation münden würde,
  • Erhebung von zusätzlichen Steuern und Abgaben,
  • Verknappung von Rohstoffen,
  • Entzug von Arbeitskräften für den Kriegsdienst.

Ein EU-Beitritt der Ukraine in naher Zukunft hat einen geopolitischen Hintergrund

Unter normalen Umständen wäre davon auszugehen, dass ein Beitritt der Ukraine aufgrund der aktuellen Nichterfüllung des wirtschaftlichen Kriteriums der EU sowie der Notwendigkeit, die Voraussetzungen für eine schrittweise und harmonische Integration hinsichtlich der Entwicklung der Marktwirtschaft zu schaffen, Jahrzehnte dauern würde. Angesichts der gescheiterten ukrainischen Offensive, des drohenden Ausfalls der Unterstützung aus den USA sowie der bereits geleisteten immensen Waffenlieferungen und finanziellen Leistungen geht es bei dem Beitritt der Ukraine jedoch um deutlich mehr als nur um die Aufnahme eines neuen Mitglieds.

Das ist unter anderem auch daran zu erkennen, dass die EU am 14. Dezember auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Republik Moldau beschlossen hat. In dem Land hat sich bereits 1992 ein prorussischer Landesteil namens Transnistrien mithilfe Russlands abgespalten. Seitdem droht dort ein ähnlicher Konflikt wie derzeit in der Ukraine.

Das eigentliche Ziel der zügigen Aufnahme der Beitrittsgespräche ist es offenbar, Russland Paroli zu bieten und den Stellvertreterkrieg in der Ukraine, unter dem die Bürger des Landes am meisten leiden, weiter fortzuführen und Russland militärisch zu besiegen. Anstatt Friedensverhandlungen zu fördern, drohen die politisch Verantwortlichen der EU, ihre Bürger in einen langwierigen militärischen Konflikt mit Russland zu ziehen, der zu Kriegswirtschaft, Wohlstandverlust, weiteren Verlusten an Menschenleben sowie zu einer Eskalation des Krieges bis hin zu einem atomaren Weltkrieg führen kann.

Titelbild: Screenshot ZDF MoMa

Anhang

Zeittafel des bisherigen Fortschrittes des EU-Beitritts der Ukraine

Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine

  • 21. März 2014: Unterzeichnung des politischen Teils des Assoziierungsabkommens
  • 27. Juni 2014: Unterzeichnung des wirtschaftlichen Teils des Assoziierungsabkommens
  • seit November 2014: vorläufige Anwendung des politischen Teils
  • seit Januar 2016: vorläufige Anwendung des wirtschaftlichen Teils
  • 1. September 2017: Inkrafttreten des Assoziierungsabkommens, nachdem alle EU-Mitgliedsstaaten es ratifiziert hatten

Beitritt der Ukraine zur EU

  • 28. Februar 2022: Ukraine beantragt Mitgliedschaft in der EU
  • 17. Juni 2022: EU-Kommission empfiehlt dem Europäischen Rat, der Ukraine den Kandidatenstatus für den Beitritt zur Europäischen Union zuzuerkennen
  • 23. Juni 2022: Europäischer Rat erkennt der Ukraine den Kandidatenstatus zu; hierzu mussten alle Mitgliedsländer zustimmen
  • 8. November 2023: EU-Kommission empfiehlt dem Europäischen Rat, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen
  • 14./15. Dezember 2023: Entscheidung des Europäischen Rats über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine; hierzu müssen alle Mitgliedsländer zustimmen

Titelbild: Screenshot ZDF Morgenmagazin (15.12.2023)

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