Wer glaubt, dass die weltweite Blamage Deutschlands durch die deutsche Außenpolitik gegen Ende des Jahres 2022, als die Fußballweltmeisterschaft in Katar die Zeitungsseiten und TV-Sendungen beherrschte, beendet sein könnte, wird eines Besseren belehrt. Es geht munter weiter, wirft man einen Blick auf die (nicht nur Außen-)Politik der Ampel-Regierung. Von Ulrich van der Heyden.
Propaganda – Fake News – Wahrheit
Schauen wir einmal konkret auf die Vorwürfe der deutschen Politiker und dieser antichambrierenden Journalisten, die mit dem Heranrücken des Eröffnungsspiels der Fußball-WM folgend aufgeführtes Kritikwürdige zu entdecken glaubten (in Auswahl), was es nach ihrer Meinung unbedingt notwendig erscheinen lassen würde, die schon einmal auf dem afrikanischen Kontinent (wenigstens temporär) gescheiterte arrogante Strategie zu wiederholen, nämlich, dass am deutschen Wesen nunmehr endlich auch die Kataris (!) genesen sollten.
Das waren vor allem die im Lande geltenden Alkoholverbote, Ablehnung der Zurschaustellung von Homosexualität, die durchaus Ablehnung verdienende gesellschaftliche Stellung und Behandlung von Frauen und insbesondere eine vorgebliche Ausbeutung der Arbeitskräfte aus dem Ausland, die zu vielen tödlichen Arbeitsunfällen geführt haben sollen.
Vergegenwärtigen wir uns einmal die vergleichbaren historischen Basisdaten in der alten Bundesrepublik, aus denen sich eigentlich keine Überheblichkeit speisen sollte:
Der Paragraph 175 des (west)deutschen Strafgesetzbuches kriminalisierte 123 Jahre lang die Homosexualität schwuler Männer. Erst seit 1994 wurde der Paragraph in dem staatlich vereinigten Deutschland endgültig abgeschafft – in der DDR übrigens bereits im Jahre 1968.
Auch bei der Kritik an der Rolle der Frau am Golf sollte man sich an die eigene Nase fassen, denn: Als 1974 die BRD die Fußball-WM ausrichtete, war die westdeutsche Frau noch verpflichtet, den Haushalt zu führen. Die Frau hatte ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zu spielen; Ernährer der Familie war der Mann. Frauen benötigten die Erlaubnis ihres Mannes, um arbeiten gehen zu können. In der DDR war bereits in deren Verfassung von 1949 im Artikel 7 die Passage enthalten, dass alle Bestimmungen aufgehoben sind, die der Gleichberechtigung der Frau widersprechen. Abtreibungen bei ungewollten Schwangerschaften waren in Westdeutschland bei Strafe verboten; in der DDR wurde 1972 ein Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung verabschiedet.[1] Die Gleichberechtigung der Frau wurde erst am 25. Juni 1980 in der Bundesrepublik festgeschrieben.
Wenn sich nun einige moralische Tugendwächter hierzulande um die arabischen bzw. islamischen Frauen im Nahen Osten Sorgen machen, hätten sie eigentlich im eigenen Land genügend Gelegenheit, sich zu engagieren.
Denn es sollte doch eigentlich für betriebsame Aktivisten geradezu eine Notwendigkeit sein, sich um hier wohnende Angehörige des weiblichen Geschlechts aus jenen Regionen zu kümmern, in denen das Menschenrecht der Frauen missachtet wird. In Deutschland leben nämlich etwa 68.000 Frauen und Mädchen, die von weiblichen Genitalverstümmelungen betroffen und 15.000 weitere, die davon bedroht sind.[2] Auch wäre es möglich, wenn man die angeblich diskriminierte Stellung der Frauen in arabischen Ländern anprangern will, diese für ein Verbot des Kopftuchtragens zumindest hierzulande zu unterstützen. Aber was war das Resultat ihrer Kritik? Da die deutschen Journalisten, die sich im arabischen Raum zur Fußball-WM aufhielten, sich angesichts der vielen verschleierten Frauen verpflichtet fühlten, etwas zu tun, aber es nicht vor Ort tun konnten, genderten die Radioreporter besonders stark. So sahen sie in Doha „Fans“ und „Fäninnen“ sowie „User“ und „Userinnen“. Die unterdrückten Frauen werden den aktivistisch eingestellten Reportern für so viel Unterstützung zu Dank verpflichtet sein!
Am heftigsten wurden die sozialen und betriebsbedingten Umstände der Arbeitsbedingungen Tausender ausländischer Arbeitskräfte, die vornehmlich aus Asien stammen, kritisiert. Man tat das gern und oft, ohne – wie sich herausstellte – je einen Blick auf die Baustellen getan zu haben. In den Reden der Politiker und in den der ihnen dienenden Medien überschlugen sich die Horrormeldungen über die angeblich unmenschlichen Bedingungen der Arbeiter, die vor allem im Stadionbau eingesetzt worden waren.
Zur viel diskutierten Situation der Lage der in Katar arbeitenden ausländischen Arbeitskräfte äußerte sich Anfang November 2022 das Mitglied des Präsidiums der Arabisch-Deutschen Handelskammer und ehemaliger SPIEGEL-Nahostkorrespondent Jürgen Hogrefe, der als ein wirklicher Kenner der Situation im arabischen Raum gilt:
„Das Ausmaß der verdrehten Berichterstattung über Katar und die Diffamierung seiner Bewohner und seiner Regierung hat längst einen kampagnenartigen Charakter angenommen, in dem die Fakten unter die Räder gekommen sind.“
Er analysierte in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel, wie die Zahl von angeblich 6.500 toten Gastarbeitern in Katar bei den Bauten der Sportstadien seit der Vergabe der WM in den Medien entstehen konnte.[3] Bestätigen lasse sich, so Hogrefe, lediglich eine Anzahl von 35 „nicht arbeitsbedingten Todesfällen“ auf den Stadionbaustellen. Inzwischen geisterte jedoch schon eine Zahl von 15.021 toten Gastarbeitern, die die Menschenrechtsorganisation Amnesty International genannt hatte, in den Gazetten.[4] Damit hatte man zwar eine richtige Anzahl von Toten erfasst, jedoch von der gesamten ausländischen Bevölkerung Katars, die seit der Vergabe der Fußball-WM an diesen Golfstaat verstorben waren. Man hatte die Zahl einfach übernommen. Das seien, nach Hogrefe, bei etwa drei Millionen Wanderarbeitern nicht allzu viele Unfalltote. Die natürliche Sterberate Katars läge, so der Nahostexperte, sogar unter der in Deutschland.[5]
Aber die Klarstellung eines Fachmanns erreichte nicht die Mainstreammedien und vermutlich auch nicht die Politiker, die sich so weit aus dem Fenster gelehnt hatten. Soweit es zu recherchieren war, wurde selbst in linken Zeitungen und Zeitschriften auch die Klarstellung einer Schweizer Gewerkschafterin, Rita Schiavi, die in der Luzerner Zeitung in Form eines Interviews veröffentlicht wurde, nicht beachtet.[6] Dort machte die Vertreterin in der internationalen Bau- und Holzarbeitergewerkschaft deutlich, dass auf den katarischen Stadionbaustellen „die Arbeitssicherheit von Anfang an besser als auf anderen Baustellen“ außerhalb der zukünftigen Sportstätten gewesen war. Es herrschten dort europäische Standards – so die renommierte Gewerkschafterin. Sie hätte seit 2016 insgesamt siebenmal das Baugelände besucht und konnte feststellen:
„Es hat sich in den letzten Jahren wirklich viel zum Guten verändert.“
In dem Interview machte Rita Schiavi noch einmal sehr deutlich, dass die kritisierten Arbeitsbedingungen, welche zuvor hauptsächlich von Amnesty International medienwirksam verbreitet wurden, sich auf Hausangestellte oder Arbeitskräfte beziehen, die in kleinen Betrieben in Katar arbeiten, nicht auf Angestellte von großen Firmen. Die dortigen Arbeitskräfte hätten durch vorheriges gewerkschaftliches Engagement „heute keine Probleme mehr, den Arbeitgeber zu wechseln“. 300.000 Arbeitsmigranten hätten dies schon getan. Sie klärte ebenso auf, wie die Zahl von 6.500 Toten zustande gekommen ist und von der Zeitung Guardian als erste in die weltweite Presse gebracht wurde. „Der ‚Guardian‘ ist zu den Botschaften jener Länder gegangen, aus denen die Arbeitsmigranten in Katar kommen, und hat Todeszahlen erfragt. So kamen 6.500 Tote über zehn Jahre zusammen. Das hat aber nichts mit den Baustellen zu tun.“ Und zum Vergleich führte sie an: „Über zehn Jahre gibt das 6.500 Tote, bei einer Population von 1,4 Millionen Arbeitsmigranten aus den angefragten Ländern. Ich habe nachgeschaut, wie viele Todesfälle es in der Schweiz bei den Leuten unter 65 im Verhältnis waren. Die Zahl ist doppelt so hoch.“
In ihrem Interview rückte sie weitere unrealistische Zahlen gerade und beklagte: „Es gibt im Westen viele falsche Vorstellungen“ und kritisierte aufgrund ihrer Erfahrungen, dass die relevanten Debatten in westlichen Medien „teilweise sehr scheinheilig geführt“ würden, und hält auch den Schweizern einen Spiegel vor: „Für die Toten auf unseren Baustellen – im Durchschnitt 13,4 pro 100.000 Arbeiter – interessiert sich nie jemand.“ Das Anfang November 2022 veröffentlichte Interview haben anscheinend weder Journalisten der Mainstreammedien noch Politiker, die sich zu dieser Thematik meinten äußern zu müssen, gelesen.
Bitte in den Spiegel schauen!
Immer wieder waren auch schon vor dem ersten Anstoß der WM Anklagen laut geworden, dass die Todesfälle bei den WM-Stadienbauten in einem direkten Zusammenhang mit den Arbeitsverhältnissen als WM-Austragungsort stehen würden. Das sei, so pflichtet der zitierte Fachmann Jürgen Hogrefe bei, „nur wenig lauter“. Denn einen Beleg hierfür hat niemand liefern können. Dass es Defizite bei den Arbeitsbedingungen gab und gibt, gesteht der Fachmann ein. Aber der dortige Staat arbeite an einer Verbesserung. Er zitierte in seinem Interview einen weiteren hohen internationalen Gewerkschaftsfunktionär, der festgestellt hatte, dass in Katar „die Verhältnisse in Bezug auf Arbeits- und Gesundheitsschutz vergleichbar (sind) mit dem deutschen oder US-amerikanischen Standard“. Da anderslautende Verlautbarungen von so viel Überheblichkeit und Anmaßung nicht nur in die Presse sowie ins TV und Radio getragen, sondern selbst von Politikern übernommen wurden, wird in dem Interview darauf hingewiesen, dass heute noch auch in der EU ähnliche Verhältnisse herrschen: „In Europa gibt es nach EU-Erhebungen rund eine halbe Million moderne Arbeitssklaven – darunter osteuropäische Ausbeiner in Schlachthöfen oder illegale afrikanische Tomatenpflücker in Spanien.“ Warum werden diese Arbeitsbedingungen und -verhältnisse nicht ebenfalls in der Öffentlichkeit vehement kritisiert?
Bekannt sollte zudem sein, dass insbesondere in Deutschland jahrelang und teilweise bis heute in Schlachthöfen und Fleischbetrieben vornehmlich sogenannte Werkvertragsarbeiter unter dem gesetzlichen Mindestlohn arbeiten. Sie mussten schon vor einigen Jahren und müssen vermutlich noch heute 170 bis 300 Euro im Monat vom ohnehin nicht hohen Lohn „für ein Bett in irgendeine heruntergekommene Bude“ bezahlen.[7] Tausende von ihnen arbeiten im Oldenburger Land oder im Emsland. Es sind Polen, Ukrainer, Bulgaren, Rumänen. Sie arbeiten im Akkord. Diese nach einer Bundestagsabgeordneten „Sklavenhaltermethoden“ sind seit Langem bekannt. Jedoch erst im Sommer 2017, nachdem Belgien, Frankreich und Dänemark sich laut einer AFP-Meldung kritisch zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in den deutschen Betrieben geäußert hatten[8], begann sich die Politik dafür zeitweilig zu interessieren.
In einem Zeitungsartikel heißt es dazu:
„Dank dieser Armee von Lohnarbeitern ist das reiche Deutschland zum Billigland für Schlachter geworden. Die Arbeitsbedingungen sind nach Ansicht von Experten dabei oft miserabel. Doppelschichten von bis zu 15 Stunden, überzogene Mieten für Massenunterkünfte, groteske Gebühren für Zeiterfassungschips, Schutzkleidung oder die Nutzung des Pausenraums.“[9]
Erst im Dezember 2022 entschied der Europäische Gerichtshof, dass Leiharbeiter – die bekanntlich zum großen Teil sogenannte Gastarbeiter waren und sind – nicht schlechter bezahlt werden dürfen als Stammbeschäftigte. Bislang verdienten jene bis zu einem Drittel weniger Stundenlohn.[10]
Jeder, der sich einmal mit dem Bild Deutschlands in der Welt beschäftigt hat, wird ähnlich wie Jürgen Hogrefe angesichts des peinlichen „Zeichensetzens“ der deutschen Fußballmannschaft fragen: „Woher stammt eigentlich unsere Überheblichkeit? Und die Maßlosigkeit? Weswegen müssen wir unablässig Leuten aus anderen Ländern und Kulturen vorschreiben, was sie zu tun haben? Wo bleibt die viel beschworene Empathie?“[11]
In diesem Sinne argumentieren auch andere Persönlichkeiten, die um das außenpolitische Ansehen in Deutschland besorgt sind. Lars Pohlmeier von der Organisation Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) warb in einem Interview im Februar 2023 für mehr Realismus und selbstkritische Rückschau auf das eigne Verhalten, etwa im Ukraine-Krieg, und mahnte an: „Wir müssen wieder zurück dazu, universelle demokratische Werte zu vereinbaren, deren Einhaltung überprüft und bei Verstößen durch unabhängige internationale Gremien sanktioniert werden. Und wir müssen endlich dazu bereit sein, uns solchen Regeln auch selbst zu unterwerfen und dies nicht nur von anderen zu fordern (Hervorhebung von mir – UvdH).“[12]
Was wäre, wenn…?
Die TV-Übertragungen und Kommentierungen rund um das Sportereignis in Katar sowie das überhebliche Auftreten deutscher Politiker in anderen Regionen der Welt geben berechtigten Anlass, dass sich in ideologisch-politischer Hinsicht, seit Deutschland ein Kolonialreich hatte, nicht viel geändert hat. Denn bis in die Gegenwart hinein verspüren Aktivisten, Journalisten und Politiker das Bedürfnis, sich dafür einsetzen zu müssen, dass das deutsche Wesen dazu beitragen solle, eine andere Welt nach ihrem historisch und politisch zweifelhaften Gusto zu errichten. Das wären vor einigen Jahrzehnten Steilvorlagen für Außenpolitiker, Publizisten und Wissenschaftler damaliger Staaten des sozialistischen Lagers gewesen! Oder hätte sich „der Westen“ solch ein paternalistisch-kolonialistisches Gehabe angesichts des damals noch realen politischen Gegners erst gar nicht erlaubt?
Titelbild: Shutterstock / Pixelvario
[«1] Vgl. ausführlicher hierzu Schubert-Lehnhardt, Viola: Die DDR als Gesellschaftsentwurf mit sozialen und feministischen Anspruch, in: Bollinger, Stefan (Hrsg.): Die DDR in der gesamtdeutschen Geschichte – Vertane Chance, Sackgasse, Nachwirkungen, Neuruppin 2022, S. 97–108.
[«2] Siehe die Angaben der damaligen Ministerin und spätere Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, in dem Artikel „Kein Wort, das den Schmerz beschreibt“, in: Berliner Zeitung, 26.06.2020. Nach neuesten Informationen des Hessischen Rundfunks (HR 3) vom 12.11.2023 handelt es sich um etwa 17.000 bedrohte junge Frauen.
[«3] Vgl. Hogrefe, Jürgen: Der Umgang mit Katar ist scheinheilig, in: Der Tagesspiegel, 2.11.2022.
[«4] Vgl. hierzu auch Spiller, Christian: Wie viele Arbeiter sind für die WM gestorben?, Interview mit Ellen Wesemüller von Amnesty, in: Zeit online, 16.11.2022.
[«5] Vgl. von Mary Abdelaziz-Ditzow: Kritik an Katar ist berechtigt. Bashing aber ist unangebracht, in: Capital, 24.11.2022.
[«6] Wirth, Dominic: „6500 Tote, aber nicht auf den Baustellen“. Interview mit Rita Schiari, in: Luzerner Zeitung, 8.11.2022.
[«7] Brümmer, Matthias: „Ausbeutung breitet sich aus.“ Interview mit dem Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten in der Region Oldenburg/Ostfriesland, in: Die Tageszeitung (taz), 4.12.2015.
[«8] Vgl. 44 Millionen Schlachttiere importiert, in: Neues Deutschland, 23.06.2017.
[«9] Balser, Markus: Geheime Schlachtordnung, in: Süddeutsche Zeitung, 2.06.2017.
[«10] Vgl. die DPA-Meldung in: Neues Deutschland, 16.12.2022.
[«11] Hogrefe, Jürgen: Der Umgang…, a.a.O.
[«12] Pohlmeier, Lars: Mediatoren dringend gesucht. Interview mit Gisela Dürselen, in: Neues Deutschland, 13.02.2023.