Als ich heute morgen die Seite des SPIEGEL aufrief, musste ich doch staunen. Der Bremer Hauptbahnhof sei – so schreibt es das ehemalige Nachrichtenmagazin – der schlechteste und kundenunfreundlichste Bahnhof Europas. Nun hatte ich als Niedersachse schon öfter das Vergnügen, mit der Bahn nach Bremen zu fahren, und konnte an dem architektonisch netten Bahnhof, der von der Allianz pro Schiene vor wenigen Jahren noch als Bahnhof des Jahres ausgezeichnet wurde, nie etwas aussetzen. Also schaute ich mir die „Studie“ mal an, die als Quelle des SPIEGEL-Artikels diente. Prompt klappte mir die Kinnlade herunter. Was der SPIEGEL da zitiert, ist Junk Science im Reinformat, erstellt von einer neoliberalen Lobbyorganisation. Von Jens Berger.
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Aber der Reihe nach. Warum ein Bahnhofs-Ranking? Laut SPIEGEL ist die Antwort klar. „Sinnvoll beschilderte Bahnsteige, saubere Toiletten oder der bestens sortierte Buchladen“ – das wünsche sich jeder Reisende. „Unpünktliche Züge, schlechte Verbindungen – und mangelnden Komfort“ würden die Reisenden jedoch hassen. Das stimmt sicherlich. Nur dass die „Studie“ des Consumer Choice Center, die als einzige Quelle für diesen Artikel dient, diese Dinge entweder gar nicht oder nur unzureichend untersucht hat.
Nehmen wir die Toiletten – in der Tat ein Ärgernis in vielen Bahnhöfen. Die spielten bei der Punktevergabe überhaupt keine Rolle, ja, sie tauchen in der gesamten „Studie“ gar nicht auf. Ebenso wenig wie die Sortierung der Bahnhofsbuchläden, was ja auch verständlich ist. Dafür gibt es einen „Competition Score“, der Bahnhöfe höher bewertet, wenn diese von möglichst vielen privaten Bahnunternehmen angefahren werden. Weitere Boni gibt es, wenn man sich per App ein Uber rufen kann. Warum? Wäre es nicht sinnvoller, zum Beispiel zu testen, wie lange man auf ein Taxi oder ein öffentliches Verkehrsmittel zur Weiterfahrt warten muss?
Wenn man sich die Kategorien und die Bewertungen anschaut, stellt man schnell fest, dass die Daten nicht geprüft, sondern lediglich ergoogelt wurden. Und das sehr schlecht. So kriegt der Bahnhof im Bremen dicke Punktabzüge, weil es dort angeblich nur neun Einkaufsmöglichkeiten gebe. Das habe nicht nur ich ganz anders in Erinnerung. Die Allianz pro Schiene lobt den Bremer Hauptbahnhof wegen der „mehr als 30 Geschäfte und Gastronomie-Angebote“. Haben die „Studien“-Autoren etwa falsch gegoogelt? Offenbar. Denn auch andere Bewertungen passen nicht so recht zur Realität.
Abgeschlagen auf dem letzten Platz landet Bremen jedoch vor allem wegen der „unpünktlichen Züge“. Dass die Deutsche Bahn da ein Riesen-Problem hat, wird niemand ernsthaft bestreiten. Aber sind die Züge in Bremen (Platz 50) wirklich so viel unpünktlicher als die Züge im Berliner Hauptbahnhof (Platz 3)? Um dies herauszufinden, lohnt ein Blick in den Datenteil der „Studie“. Gemessen wurde nicht etwa die durchschnittliche Verspätung über das Jahr, sondern die Verspätungen an einem einzigen Tag, dem 3. Juli 2022. Und just an diesem Tag war der „Knoten Bremen“, wie die Deutsche Bahn es meldet, wegen einer Großbaustelle teilweise gesperrt und zahlreiche Zugverbindungen wichen vom Fahrplan ab. Da ist es ja schon fast ein Wunder, dass am Stichtag für die Bewertung „nur“ 42 Prozent der Züge Verspätungen hatten. Ist der Hauptbahnhof Bremen nun aber der schlechteste Bahnhof Europas, weil es im Bremer Netz am Stichtag eine Großbaustelle gab?
Die gesamte „Studie“ ist an Schlichtheit kaum zu übertreffen. Bis auf die Verspätungen geben sämtliche anderen Bewertungen lediglich statistische Daten wieder, die offenbar von den Internetangeboten der Bahnhöfe in Erfahrung gebracht wurden. Gibt es eine First-Class-Lounge? Wen interessiert das? Wie viele Geschäfte und Restaurants gibt es? Wäre es da nicht interessanter, mal eine Stichprobe zu machen, was beispielsweise ein Kaffee kostet und ob die Restaurants lokales Essen in guter Qualität anbieten oder ob es sich hierbei um die üblichen Franchise-Buden von McDonalds und Co. handelt? Qualitativ kann man aber nichts bewerten, wenn man die Bahnhöfe, die man „untersucht“, nur über Google Maps besucht.
Davon ist im SPIEGEL-Artikel jedoch nichts zu lesen. Im Gegenteil. Die Methodik der Studie wird vollkommen unkritisch geschluckt, dafür gibt man die – fragwürdige – Erklärung der Studienautoren, warum neben Bremen ausgerechnet so viele deutsche Bahnhöfe schlecht abschnitten, eins zu eins wieder: Schuld sei das 9-Euro-Ticket. Das ist erstaunlich. Welchen Einfluss hatte das 9-Euro-Ticket auf die Zahl der First-Class-Lounges, Restaurants und das Angebot eines kostenloses WLAN?
In der „Studie“ liest sich das folgendermaßen …
Der Hauptschuldige ist das deutsche Förderprogramm für die Bahn. Die Behörden wollten mit einem Neun-Euro-Ticket für den gesamten Regionalverkehr im Jahr 2022 die Bahn statt das Auto fördern. Was die Subvention bisher erreicht hat, ist, dass die Zahl der Zugfahrten auf dem Land drastisch über die Kapazität kleinerer Bahnhöfe hinausgeht (80 Prozent Anstieg im Vergleich zu 2019 vor Covid im Jahr 2022), ohne die Zahl der Autofahrten zu senken (die Zahlen für Autos sind wieder auf das Niveau vor der Pandemie zurückgegangen). Die Bundesregierung bietet nun eine neunundvierzig Euro teure Monatskarte an, um den Fahrgastansturm in Grenzen zu halten. Doch der Schaden für kleinere Bahnhöfe und die Pendler vor Ort ist jedoch bereits angerichtet worden. Alles andere als ein positives Beispiel hat die Subvention zu mehr Staus, längeren Wartezeiten und wachsender Frustration der deutschen Verbraucher geführt.
Das ist interessant. Man spricht von einer Überlastung „kleinerer Bahnhöfe“ und führt das als Grund für das angeblich schlechte Abschneiden der größten Bahnhöfe im Lande an. Nach Logik der Studienautoren bestünde die Lösung also darin, die Bahn nicht mehr zu fördern. Das liest sich wie eine Auftragsarbeit der Automobillobby.
Und genau darum scheint es sich bei der „Studie“ auch zu handeln. Das Consumer Choice Center ist mitnichten eine Verbraucherschutzorganisation, wie es der SPIEGEL schreibt, sondern eine der berüchtigtsten US-amerikanischen Lobbyorganisationen. Man lobbyiert für die Tabakindustrie, für Öl- und Gaskonzerne und natürlich auch für die Automobilindustrie. In der Vergangenheit hat man auf EU-Ebene schon gegen das Glyphosat-Verbot und gegen den EU Green Deal lobbyiert.
Dass der SPIEGEL vollkommen ohne Hintergrundinformationen eine nur dürftig als Studie getarnte plumpe Auftragsarbeit völlig unkritisch zitiert und sich deren absurde Forderung, die Förderung der Bahn zu streichen, zu eigen macht, ist einmal mehr ein Beleg dafür, wie tief dieses Medium gesunken ist.
Titelbild: Flagman_1/shutterstock.com