Dieser Artikel basiert auf einer Rede, gehalten auf der Kundgebung „Nie wieder Krieg – die Waffen nieder“ vor dem Brandenburger Tor am 25. November 2023. Von Michael von der Schulenburg.
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Wir leben in einer Welt, die zunehmend in den Würgegriff von Gewalt und Kriegen geraten ist. Wir müssen uns daher fragen: Wie kommen wir da wieder heraus und in welcher Welt wollen wir denn leben?
Nach Angaben der Vereinten Nationen war 2022 das Jahr mit den meisten, intensivsten und am längsten andauernden kriegerischen Auseinandersetzung in der Welt seit dem Ende des Kalten Krieges – nach manchen Angaben sogar seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dieses Jahr wird es noch schlimmer geworden sein und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich die Situation wieder beruhigen wird. Im Gegenteil. Mit dem immer weiter sich anheizenden Konflikt der USA mit China um die globale Vormacht könnte die Menschheit vor noch gefährlicheren Zeiten stehen. Ohne eine entschiedene Umkehr ist zu befürchten, dass Gewalt und Kriege weltweit erneut zur größten Gefährdung der Menschheit führen.
Gewalt bringt keinen Frieden
Es hat sich wieder der Irrglaube durchgesetzt, dass Konflikte nur durch Gewalt gelöst werden könnten, dass wir erst militärisch siegen, ja, der Gegenseite erst einen vernichtenden Schlag versetzen müssten, um zu einem Frieden zu kommen. In keiner der kriegerischen Auseinandersetzungen gibt es heute ernsthafte diplomatische Bemühungen, um die Konflikte, die diesen Kriegen zugrunde liegen, zu lösen.
Die Kunst der Diplomatie scheint als Schwäche in Misskredit geraten zu sein. Denn die meisten Kriege haben sich über Jahre, ja, über Jahrzehnte als schwelende Konflikte angedeutet, bevor sie in einer kriegerischen Auseinandersetzung explodiert sind. Ist es erst einmal zum Krieg gekommen, scheinen beide Seiten, oft befeuert und unterstützt von ausländischen Staaten, in einer kompromisslos tödlichen Auseinandersetzung zu versinken. Die Außenminister der in solchen Konflikten involvierten oder unterstützenden Staaten scheinen heute eher zu Anwälten militärischer Siege geworden zu sein, die Waffenlieferungen und eine Weiterführung von Kriegen befürworten und nicht als Diplomaten nach friedlichen Lösungen suchen. Sollten die Interessen eines der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates berührt werden, so wird das ihnen zugestandene Veto nicht als besondere Verantwortung zur Erhaltung des Friedens verstanden, sondern wird zur Waffe einer in Gewalt versinkenden Welt eingesetzt.
Dabei wird das zutiefst Unmoralische mit scheinbar moralischen Argumenten gerechtfertigt. Dazu gehört die Gewalt gegenüber Zivilisten, gegen Mütter und Kinder, Unbeteiligte und gegen Musikveranstaltungen junger Menschen sowie die Zerstörungen von ganzen Wohngebieten, Krankenhäusern und Schulen. Wir nennen dies das Recht zur Selbstverteidigung. Das Problem einer solchen Argumentation ist nur, dass auch die Gegenseite sich auf das Recht auf Selbstverteidigung berufen wird. Damit erzeugen wir eine Spirale der Gewalt. Gewalt rechtfertigt Gewalt. Von der Pflicht, eine solche Gewaltspirale durch Bemühungen für friedliche Lösungen zu durchbrechen, zu der wir uns in der UN-Charta verpflichtet haben, ist heute nichts mehr zu hören.
Was die heutige Situation militärischer Auseinandersetzungen besonders gefährlich macht, ist der völlig fahrlässige Umgang mit Atomwaffen. Im Ukrainekrieg spielen Atomwaffen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit in einem heißen Krieg eine entscheidende strategische Rolle. Auch im Israel-Palästina-Krieg wurde bereits mit dem Einsatz einer Atomwaffe gedroht. Es ist zu hoffen, dass es „nur“ bei Drohungen bleiben wird. Wir dürfen aber darüber nicht vergessen, dass die Atomwaffe die Waffe der ultimativen, vielleicht gar der finalen Zerstörung ist, die letztlich nicht zwischen Angreifer und Verteidiger und auch nicht zwischen Kriegsparteien und Unbeteiligten unterscheiden wird. Diese Drohungen sind Ausdruck eines Wahnsinns, um jeden Preis siegen zu wollen und zu glauben, man könne nur mit der Eskalation von Gewalt Frieden schaffen.
Wollen wir – ja, können wir überhaupt – in einer Welt leben, in der Gewalt das alles beherrschende Prinzip von Konfliktlösungen geworden ist?
Waffen bringen keine Sicherheit
Heute wird Sicherheit wieder in der Bewaffnung gesucht. So haben sich die Militärbudgets in der Welt seit Ende des Kalten Krieges verdoppelt und sie wachsen noch weiter.
Die exponentiellen Entwicklungen der Waffentechnik haben dazu geführt, dass Waffensysteme heute alles an Zerstörungskraft übertreffen, was wir aus der Zeit des Kalten Krieges kennen. Diese Entwicklung schließt die Modernisierung von Atomwaffen, Lasertechnologien, Hyperschallraketensysteme, Tarnkappentechnologie, unbemannte Marschflugkörper und Angriffsdrohnen, Roboterkriege, Cyberkriege, Weltallkriege sowie den Einsatz Künstlicher Intelligenz ein.
Gleichzeitig sind alle Rüstungskontrollabkommen und vertrauensbildende Maßnahmen, die während oder unmittelbar nach dem Kalten Krieg aufgebaut wurden, entweder aufgekündigt, nicht verlängert oder suspendiert worden. Diese Abkommen bildeten ein Sicherheitsnetz, um Waffensysteme zu begrenzen und um Vertrauen aufzubauen. So sollte verhindert werden, dass die mit Nuklearwaffen hochgerüsteten Staaten der NATO und des Warschauer Paktes ungewollt in einen alles vernichtenden Krieg hineinrutschen.
Heute ist dieser Wegfall vertrauensbildender Maßnahmen besonders gefährlich, da moderne Waffentechnik einem Gegner immer kürzere Reaktionszeiten auf einen eventuellen Angriff erlaubt. Das erzeugt Unsicherheiten und Misstrauen, und erhöht somit die Risiken eines Weltkrieges. Diese Waffensysteme werden uns also nicht sicherer, sondern im Gegenteil die Welt unsicherer machen. Durch die Komplexität und Schnelligkeit moderner Waffensysteme werden diese immer mehr durch Künstliche Intelligenz gesteuert werden. Der Mensch verliert so immer mehr die Kontrolle über die Entscheidung über Krieg oder Frieden.
Eine Welt, in der wir uns hinter immer stärkeren Waffen verschanzen und Entscheidungen zunehmend an eine Künstliche Intelligenz abtreten, kann doch nicht die Welt sein, in der wir leben wollen.
Frieden muss bei uns anfangen
Eine solche Entwicklung wäre nicht möglich, wenn Gewalt nicht in unsere Köpfe eingedrungen und viele unserer Medien und Denkfabriken zu Trommlern der Kriege geworden wären. Unsere Informationsbilder sind heute von Dämonisierungen, Feindbildern, Schwarz-Weiß-Sichtweisen, vom Glauben an Siege, ja, von manipulierten bis hin zu falschen Informationen geprägt.
In dieser Situation zeigen wir im Westen gerne mit dem Finger auf die Anderen: In unseren Selbstdarstellungen sind nur die Anderen schuld. Sie sind die Bösen und wir die Guten, die nun wieder einmal gezwungen sind, die wahren Werte der Menschheit mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Nur, die Realität ist leider eine ganz andere:
Mit der NATO haben sich westliche Demokratien ein gewaltiges Machtinstrument in der Welt geschaffen. Obwohl die Mitgliedsländer der NATO auf kaum mehr als 10 Prozent der Weltbevölkerung kommen, kontrollieren sie beinahe 60 Prozent aller weltweiten Militärausgaben. Die Führungsmacht der NATO, die USA, verfügen in etwa über 750 Militärbasen weltweit. Auch sind NATO-Staaten die größten Waffenhändler der Welt; sie sind für 70 Prozent des weltweiten Waffenhandels verantwortlich – Waffen, die die vielen Kriege erst möglich machen.
Es gibt keinen anderen Staatenbund in der Welt, der auch nur annähernd über eine vergleichbare Militärallianz verfügt. Wie aber sehen die „restlichen“ 90 Prozent der Weltbevölkerung eine derartige Konzentration militärischer Macht in den Händen von wenigen Staaten des Nordens?
Im letzten Jahr hat der wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses festgestellt, dass seit Ende des Kalten Krieges die USA unter Mitwirkung anderer NATO-Staaten 251-mal militärisch in anderen Ländern interveniert haben, und diese Zahl schließt CIA-Operationen oder Proxykriege nicht einmal ein. Diese Militärinterventionen werden oft mit der Ausweitung an Demokratie gerechtfertigt. Aber meines Wissens hat keine einzige von ihnen eine Demokratie errichten können, sondern sie haben nur Zerstörungen, Chaos, Verarmung und unermessliches menschliches Leid hinterlassen.
Es gibt keinen anderen Staat und keinen anderen Staatenbund, der auch nur annähernd für so viele Militärinterventionen in anderen Ländern verantwortlich ist.
Die renommierte Brown University hat in diesem Jahr eine Untersuchung des Krieges gegen den Terror seit 2002 vorgelegt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser Krieg durch seine direkten und indirekten Einwirkungen über 4,5 Millionen Menschen das Leben gekostet und 38 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat. Das heißt, dass dieser Krieg mindestens 4 Millionen Zivilisten das Leben gekostet haben muss. Nur schreiben unsere Zeitungen darüber nichts. Nicht einmal im Tod sind wir alle gleich! Das ist Rassismus, denn all diese getöteten unschuldigen Menschen, die wir gerne verschweigen, lebten in Ländern des globalen Südens.
Es gibt also auch keinen anderen Staat oder andere Staatengruppe, die für so viele zivile Opfer die direkte oder indirekte Verantwortung trägt. Wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns im Westen zuerst von unserer widersinnigen moralischen Überheblichkeit verabschieden.
Lernen, einander zu verstehen
Wir müssen also etwas ändern. Vielleicht braucht das da nicht viel mehr als die Anstrengung, „zu verstehen“, ja auch gerade einen Konfliktgegner zu verstehen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade das Wort „Verstehen“ von Kriegsbefürwortern so stark deskreditiert wird. Wie schnell wird man als Russland- oder Putin-Versteher gebrandmarkt.
Aber das Wort „Verstehen“ leitet sich ab von „Verstand gebrauchen“ und vom Wissen, wo der andere steht. Es hat also eine überaus positive Bedeutung. Ja, wir müssen die anderen besser verstehen, um dadurch einen Konflikt zu entschärfen. Und dazu müssen wir mit ihnen sprechen – oder wie die Berliner Zeitung in ihrem Aufruf gegen Gewalt es forderte, wir müssen miteinander kommunizieren. Den Verstand benutzen, sich mit den Anderen zu verstehen und fähig zu werden, Frieden zu schließen. Dabei bedeutet Verstehen ganz und gar nicht, die Meinung eines Anderen zu akzeptieren oder gar zu übernehmen. Es meint nur, dem Standpunkt der gegnerischen Seite Respekt zu zollen und sich dementsprechend zu verhalten. Der kleine Schritt, den Anderen zu verstehen, zu respektieren, kann zwischen Krieg und Frieden entscheiden.
Und der Rahmen für eine Welt, in der wir uns wechselseitig zu verstehen lernen, ist schon längst abgesteckt mit der UN-Charta, den Allgemeinen Menschenrechten, dem humanitären Völkerrecht und der Charta von Paris für ein friedliches Europa. Wir brauchen also nicht lange zu suchen.
Bald werden auf unserer Erde, die ja nicht viel mehr als ein winziges Sandkorn im unermesslichen Weltall ist, 10 Milliarden Menschen leben. Das wird zu Konflikten führen – hervorgerufen durch den Klimawandel, die Armut sowie den Kampf um limitierte Ressourcen, um soziale Gerechtigkeit, um Wasser, um Land und oft nur um das Lebensnotwendigste.
All das kann friedlich gelöst werden – wenn wir nur unseren Verstand gebrauchen und es gelingt, trotz aller Unterschiede uns zu verstehen und zusammenzuarbeiten. Mehr Waffen würden uns nur in permanente Kriege verwickeln und im schlimmsten Fall die gesamte Menschheit auslöschen. Wir können uns also eine Welt, die im Griff der Gewalt ist, gar nicht mehr leisten.
Dabei sollten wir uns an die Präambel der UN-Charta erinnern, die heute noch genauso aktuell und relevant wie vor 78 Jahren ist, als sie angesichts zweier verheerender Weltkriege geschrieben wurde. In der Präambel wendet sie sich an jeden Einzelnen von uns:
Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen,
- künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
- unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,
- Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,
- den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern,
und für diese Zwecke
- Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,
- unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,
- Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und
- internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern […]
Titelbild: dona nobis pacem – Der Krieg. Otto Dix (gemalt 1929-1932), Detailszene. Bild: jean louis mazieres, CC BY-NC-SA 2.0