Stimmen aus Lateinamerika: Die Probleme der regionalen Migration

Stimmen aus Lateinamerika: Die Probleme der regionalen Migration

Stimmen aus Lateinamerika: Die Probleme der regionalen Migration

Ein Artikel von amerika21

Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Armenfeindlichkeit haben zugenommen. Migranten werden zunehmend als „Bedrohung” eingestuft. Ersteres hängt mit dem Verständnis Südamerikas und vor allem der Länder des kontinentalen Südkegels als Orte der Aufnahme von Einwanderern, insbesondere aus Europa, zusammen, die vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Hauptmigrationsstrom bildeten. Das zweite Muster bezieht sich auf die Migrationsströme von Südamerikanern mit dem bevorzugten Ziel USA und Europa, die ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine Zunahme erfuhren und bis heute anhalten, vor allem bei der Bevölkerung der Andenregion. Das dritte Muster ist schließlich die sogenannte interregionale oder Süd-Süd-Migration, die durch Ströme innerhalb des Patria Grande[1] gekennzeichnet ist, von denen viele grenzüberschreitenden und binationalen Charakters sind. Von Jacques Ramírez Gallegos.

Von diesen drei Mustern ist Letzteres dasjenige, das in ganz Lateinamerika am stärksten zugenommen hat. Diese Region ist im 21. Jahrhundert mit einer Rate von 72 Prozent laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der Vereinten Nationen (Cepal) diejenige mit dem weltweit höchsten Wachstum der interregionalen Migration.

Zwei Gruppen von Migranten waren bei uns in den letzten zehn Jahren am stärksten vertreten: Haitianer, die vor allem in die Dominikanische Republik, nach Chile und Brasilien ausgewandert sind, und Venezolaner, die sich vor allem in den Ländern an der Südpazifikküste niedergelassen haben: Kolumbien, Peru, Ecuador und Chile (in dieser Reihenfolge).

Dieser schwindelerregende Anstieg der Zahl der Menschen, die sich in der Region in menschlicher Mobilität befinden, hat viele Staaten überrascht, vor allem diejenigen, die wenig Erfahrung mit der Aufnahme von Einwanderern haben, wie Kolumbien und Peru, die Länder waren, aus denen Menschen vertrieben wurden und die einen sehr geringen Prozentsatz an ausländischer Bevölkerung auf ihrem Territorium hatten (0,3 Prozent bis 2015).

Und obwohl sie anfangs die Vorreiter des humanitären Diskurses waren, der als Einsatz moralischer Gefühle in der Politik – in diesem Fall in der Migrationspolitik – verstanden wird, die Diskurse und Praktiken staatlicher Intervention umfasst, in denen das Leiden als neues Schlagwort erscheint, das Hilfspraktiken rechtfertigt (wie uns der französische Minister, Arzt, Anthropologe, Soziologe und Hochschullehrer Didier Fassin in Erinnerung rief), haben sie in der Praxis nur neue befristete Genehmigungen geschaffen, ohne eine langfristige Lösung anzubieten.

So schuf Kolumbien unter Iván Duque die Grenzmobilitätskarte, die Sonderaufenthaltsgenehmigung und den befristeten Status für venezolanische Migranten. Ecuador führte unter Lenín Moreno und Guillermo Lasso das befristete Aufenthaltsvisum aus humanitären Gründen und das befristete Ausnahme-Aufenthaltsvisum für venezolanische Bürger ein; in Peru wurden seit (Ex-Präsident) Pedro Kuczynski die befristete Aufenthaltsgenehmigung und das humanitäre Visum eingeführt; in Chile war man unter Sebastian Piñeira „einfallsreicher” und schuf das berühmte Visum der „demokratischen Verantwortung”, das letztendlich nur sehr wenigen gewährt wurde.

Diese Visa oder „Flicken-Politiken”, wie ich sie vorzugsweise nenne, die dazu dienten, venezolanische Migranten als Opfer zu sehen, die die Folgen der Misswirtschaft des Sozialismus des 21. Jahrhunderts erleiden, wurden im Rahmen des sogenannten Quito-Prozesses ausgebrütet. Dieser wurde als „zwischenstaatliche Initiative technischer und regionaler Art” definiert, „die geschaffen wurde, um nicht bindende Mechanismen und Verpflichtungen zwischen den Ländern Lateinamerikas und der Karibik zu etablieren, um Antworten auf die Krise menschlicher Mobilität der venezolanischen Bürger koordinieren zu können”.

Im Laufe der Zeit wurden die Migranten jedoch nicht mehr als Opfer, sondern als Bedrohung eingestuft. Damit folgte man dem Weg der meisten modernen Staaten, die begannen, Migranten als abweichende, schädliche und potenziell bedrohliche Subjekte zu betrachten, und zwar nicht nur für die nationale Sicherheit, sondern auch für die Mehrheit der Bevölkerung in ihrem Heimatland.

So wurden sie im sozialen Bereich für die Zunahme von Kriminalität, Prostitution, Femiziden usw. verantwortlich gemacht. Als die Pandemie ausbrach, wurden sie beschuldigt, deren Ausbreitung zu verursachen. Auf dem Gebiet der Arbeit und der Wirtschaft kehrte man zum „Altbewährten” zurück und beschuldigte sie, Arbeitsplätze wegzunehmen, sie zu prekarisieren und die informelle Arbeit auszuweiten. Venezolanische Frauen wurden sogar als „Räuberinnen von Ehemännern” und Zerstörerinnen von Haushalten gebrandmarkt.

Und in der politischen Sphäre – bei den Mobilisierungen, die zwischen 2019 und 2020 in Ecuador, Chile und Kolumbien stattfanden – wurden sie von den damaligen Regierungen gar als Anstifter der inneren Destabilisierung bezeichnet. Das ging so weit, dass einige von ihnen zu Unrecht inhaftiert wurden.

All dies brachte zwei große Probleme mit sich: einerseits die Dominanz von Sicherheitsmaßnahmen und Militarisierung der Grenzen, während die Region erst vor Kurzem Fortschritte bei der Einbeziehung eines auf Rechten basierenden Ansatzes in ihre rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für die Migration gemacht hatte. Die Einreiseverfahren begannen sich zu ändern, neue Dokumente wurden verlangt, Einreisevisa wurden gefordert, und schließlich wurden die Grenzen geschlossen. Der absurdeste Fall in jüngster Zeit war die Schließung der Grenze Chacalluta-Santa Rosa zwischen Chile und Peru, um die Durchreise venezolanischer Migranten zu verhindern, die in ihr Land zurückkehren wollten oder angesichts der prekären Lage, in der sie sich in diesen Ländern befanden, an eine erneute Migration in ein Drittland dachten.

Andererseits haben Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Armenfeindlichkeit zugenommen, bis dahin, dass die These der „sozialen Säuberung” aufgebracht wurde, bei der die wenigen Habseligkeiten der Migranten verbrannt und sie gezwungen wurden, die Orte, an denen sie sich niedergelassen hatten, zu verlassen. Wir haben Bilder der Barbarei in Roraima (Brasilien), Ibarra (Ecuador) und Antofagasta (Chile) gesehen, um nur die bekanntesten zu nennen. Aber diese Fremdenfeindlichkeit war nicht nur gesellschaftlich, sondern auch staatlich, angestimmt durch höchste Regierungsvertreter, die dem Stil des Ex-Präsidenten Donald Trump folgten.

Man hat uns weisgemacht, dass Migration ein Problem ist, während das wirkliche Problem die Ansätze, Ansichten, Diskurse und Migrationspolitiken sind, die den anderen stigmatisieren, kriminalisieren und ausweisen – diesen Grenzgänger, diese Grenzgängerin, die es auf der Suche nach besseren Tagen für sich selbst und ihre Familie gewagt haben, eine imaginäre Grenzlinie zu überschreiten.

Jacques Ramírez Gallegos aus Ecuador ist Sozialanthropologe und Spezialist für lateinamerikanische Migration. Er arbeitet als Gastprofessor an mehreren Universitäten in Lateinamerika und als Forscher am Strategischen Lateinamerikanischen Zentrum für Geopolitik (Centro Estratégico Latinoamericano de Geopolítica, Celag).

Übersetzung: Klaus E. Lehmann, Amerika21.

Titelbild: Shutterstock / Pere Rubi


[«1] Patria Grande ist ein Integrationskonzept, das zunächst Südamerika umfasste, später Lateinamerika und die Karibik. Seinen Ursprung hat es im Befreiungskrieg gegen die spanischen Kolonialisten und deren Vorhaben, den Subkontinent in kleine Einzelstaaten zu zerteilen. Es wurde im 19. Jahrhundert von Simón Bolívar und José de San Martín und später unter anderem von Kubas Revolutionsführer Fidel Castro und Venezuelas Präsident Hugo Chávez vertreten. Die Integration Lateinamerikas ist heute Teil der Programmatik der fortschrittlichen und linken Bewegung der Region.

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