Mehr als drei Dutzend Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen fordern ein Moratorium der Digitalisierung in Deutschlands Bildungseinrichtungen. Bevor man diese weiter mit Technik vollballert, solle fundiert und auf dem Stand neuester Forschung über die Konsequenzen und Gefahren für Kindeswohl und -entwicklung diskutiert werden. Ob das mal bei den Regierenden ankommt, fragt sich Ralf Wurzbacher.
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Wer wissen wolle, wie Digitalisierung geht, der schaue gefälligst nach Schweden. So oder ähnlich tönt es aus den Mündern hiesiger Politiker, wann immer es gilt, Deutschland zum lahmsten aller Schleichfahrer auf dem weltumspannenden Datenhighway zu stempeln. Ganz anders tickten die Skandinavier, allen voran die Menschen im schwedischen Königreich, ständig auf der Überholspur, Gaspedal am Anschlag und ohne falsche Scheu, selbst die Kleinsten der Kleinen beim digitalen Ritt mitzunehmen. Und richtig: Während hierzulande an vielen Schulen noch Tafel, Kreide und Füller das Lernumfeld prägen, haben Laptops und Smartphones in Schweden bereits die Vorschulen und Kindergärten erobert. Die Digitalstrategie der Schulbehörde Skolverket sah obendrein eine obligatorische Tabletnutzung für Einjährige in öffentlichen Einrichtungen vor, und mit der Umsetzung sollte es noch in diesem Jahr losgehen.
Daraus wird nun doch nichts. Die seit einem Jahr amtierende Regierung von Ministerpräsident Ulf Kristersson hat nicht nur dieses Vorhaben gekippt, sondern die Entscheidung der Vorgängerregierung, in der Primarstufe verpflichtend mit Digitaltechnik zu unterrichten, gleich mit. Womöglich ist das gar der Auftakt zu noch mehr. Weitere Schritte dieser Art, auch im Hinblick auf höhere Klassenstufen, erscheinen durchaus denkbar. Auslöser des Beschlusses war eine im Juli vom Stockholmer Karolinska-Institut – einer der renommiertesten medizinischen Universitäten in Europa – veröffentlichte Stellungnahme zur Digitalisierungsstrategie für das Schulsystem, die die Nationale Agentur für Bildung für die Jahre 2023 bis 2027 entworfen hatte.
Ohne Evidenz
Diese Pläne werden durch die Gutachter förmlich zerrissen. Die behaupteten Vorzüge digitaler Medien beim Lernen seien nicht evidenzbasiert, schreiben die fünf beteiligten Wissenschaftler. Stattdessen sei durch die Forschung der Nachweis erbracht, dass „die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler“ habe. Bildschirme behinderten das Lernen und die Sprachentwicklung, sorgten für Ablenkungen und Konzentrationsschwierigkeiten und verdrängten die körperliche Aktivität. Verwiesen wird zum Beispiel auf eine Studie, die zeige, dass Studierende mit angeschlossenem Computer bis zu 40 Prozent einer Vorlesung mit „irrelevanten Dingen“ verbringen. Bei einer anderen Untersuchung konnten Hochschüler mit Laptop die Inhalte einer Vorlesung zu 30 Prozent schlechter erinnern als ihre „analogen“ Kommilitonen. Im Falle von Grund- und Sekundarschülern wären die Folgen „wahrscheinlich“ noch gravierender, „da jüngere Kinder über schlechtere exekutive Funktionen verfügen“. Weiter heißt es: „Multitasking führt zu schlechterem Lernen, weil unser Gehirn nur begrenzt in der Lage ist, relevante Informationen im Arbeitsgedächtnis zu speichern.“ Auch würden Kinder erwiesenermaßen in ihrer Leseentwicklung weit zurückgeworfen, sofern sie am Bildschirm und nicht anhand von Büchern aus Papier lesen lernten.
Deutet sich also ausgerechnet im „digital wonderland“ ein Rollback zum Analogen an? Tatsächlich plädieren die Professoren dafür, den „Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über bedruckte Schulbücher und das Fachwissen des Lehrers“ zu legen. Wer sich dagegen Wissen „selbstorganisiert“ aus frei zugänglichen digitalen Quellen suchen müsse, verliere viel Zeit, um es auf Richtigkeit zu prüfen und lerne nur halb so viel wie im regulären Unterricht. All diese Einwände und noch viele mehr – etwa, was psychische und körperliche Schäden durch übermäßigen Medienkonsum betrifft – sind laut Gutachten wissenschaftlich vielfach belegt. Aber die Nationale Bildungsagentur scheine sich dessen „überhaupt nicht bewusst“ zu sein, befinden die Verfasser und empfehlen eigentlich Selbstverständliches: „Wichtige schulpolitische Entscheidungen sollten nicht getroffen werden, ohne dass man vorher weiß, was die Forschung sagt.“
Intellektuelles Fastfood
Man erinnert sich: „Digital first. Bedenken second.“ Der frühere Wahlkampfslogan der FDP steht für eine fatale Haltung im Umgang mit neuen Technologien. „Wenn die schon mal da sind, muss man sie auch einsetzen – koste es, was es wolle.“ In Deutschland erwuchs daraus der „DigitalPakt Schule“, in dessen Rahmen der Bund insgesamt 6,5 Milliarden Euro für die Ausstattung der Lehranstalten mit Laptops, Whiteboards und schnellem Internet bereitstellt. Weil die Gelder praktisch aufgebraucht sind, die „Zukunft“ aber längst nicht alle Klassenzimmer erreicht hat, wird bereits nach einem „DigitalPakt 2.0“ verlangt. Dabei hat sich inzwischen sogar bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) herumgesprochen, dass das Projekt keines der Vernunft, sondern der IT-Industrie ist. „Nach jahrzehntelangem Lobbyismus der Bertelsmann-Stiftung und anderer Interessenvertreter sind der Politik aber grundlegende Zusammenhänge abhandengekommen“, schrieb das Blatt Mitte Juli. Dabei seien dieser die wissenschaftlichen Zweifel am Nutzen digitaler Medien für den Unterricht bekannt. „Expertise wird aber oft nur dann in Anspruch genommen, wenn sie die politische Agenda stützt.“
Für den Pädagogen und Medienwissenschaftler Ralf Lankau von der Hochschule Offenburg hat all das System. „Seit mehr als 40 Jahren wird jede neue Generation von Rechnern in die Schulen gedrückt, vom PC über Laptops oder heute Tablets“, befand er am Mittwoch im Gespräch mit den NachDenkSeiten. Aber den Nutzen hätten allein die anbietenden Unternehmen, wie auch die UNESCO in ihrem „2023 Global Education Monitor“ festgestellt habe. „Dank Lobbyismus und großer Werbeetats werden die Positionen der IT-Industrie prominent in der Presse platziert, kritische Berichte delegitimiert.“ Dabei stünde in Gestalt Künstlicher Intelligenz (KI) bereits die „nächste Stufe der Automatisierung des Unterrichtens und Testens“ vor der Tür. KI in den Schulen sei „intellektuelles Fastfood“, warnte Lankau. „Wer kein Fachwissen hat – wie Schülerinnen und Schüler bei neuen Themen – muss entweder alles aufwendig nachrecherchieren und überprüfen – was niemand macht – oder der Software glauben. So werden sie Hörige und Gläubige statt Wissende.“ (Siehe dazu das NDS-Interview mit Lankau vom 12. Mai 2023 „Technischer Fortschritt ohne Technikfolgeabschätzung führt ins Desaster.“)
Kein Umdenken nach Corona
Immerhin: Auch in Deutschland formiert sich Widerstand. In der Vorwoche haben sich 40 Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen mit der Forderung nach einem „Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen“ an die Öffentlichkeit gewandt. „Es müssen zuerst die Folgen der digitalen Technologien abschätzbar sein, bevor weitere Versuche an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen mit ungewissem Ausgang vorgenommen werden“, heißt es in dem Aufruf. Kinder hätten „nur ein Leben, nur eine Bildungsbiografie, und wir dürfen damit nicht sorglos umgehen“. Zu den Unterzeichnern zählen Erziehungs-, Sozial-, Humanwissenschaftler, Psychologen, Mathematiker, Informatiker, Gesundheitsforscher sowie Kinder- und Jugendärzte. Gemeinsam betonen sie die Notwendigkeit, „die einseitige Fixierung auf Digitaltechnik in Kitas und Schulen zu revidieren, um interdisziplinär und wissenschaftlich fundiert, mit Fokus auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse über IT und KI in Bildungseinrichtungen zu diskutieren“.
Adressiert ist ihr Appell auch und vor allem an die Kultusminister der Länder. Die hatten lange Zeit eine absolut einseitige, emphatische Sicht auf die Digitalisierung, mussten nach den Erfahrungen während der Pandemie allerdings ein Stück weit zurückrudern. Unbestritten ist, dass die monatelange Onlinebeschulung erhebliche Lernrückstände und kognitive Defizite bei Heranwachsenden hinterlassen hat, die bis heute nachwirken. Laut einer Stellungnahme der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) ist der rein digitale dem analogen Unterricht deutlich unterlegen. Deshalb ist man mittlerweile eifrig darum bemüht, den Einsatz digitaler Medien als Ergänzung zum Regelunterricht und gestreut über sämtliche Fächer zu bewerben, ohne jedoch zu klären, wann und ob das überhaupt Sinn macht. Insofern ist das Kommissionspapier praktisch deckungsgleich mit dem der schwedischen Bildungsagentur, welches das Karolinska-Institut so zerpflückt hat.
Was zeigt: Am Starrsinn der Regierenden in Bund und Ländern, die Digitalisierung der Bildung auf Biegen und Brechen durchzuziehen, hat sich auch nach Corona nichts geändert. Allenfalls die PR ist publikumstauglicher.
Unterrichten oder Zurichten
In erster Linie für die Galerie ist auch die Argumentation mit dem „Primat der Pädagogik“. Durchdachte und verbindliche pädagogische Konzepte zum Gebrauch der Digitaltechnik im Unterricht gibt es bis heute nicht. Faktisch macht jede Lehrkraft ihr eigenes Ding, abhängig von eigener Medienaffinität und vorhandenen (oft nicht vorhandenen) Ressourcen. Überdies erscheint es unter dem Druck des grassierenden Lehrermangels vorgezeichnet, dass digitale Geräte bald nicht mehr nur Lernunterstützer sein werden, sondern Lehrerersatz. Das schwant selbst dem Deutschen Ethikrat, der in seiner Stellungnahme „Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz“ festhält: „Eine vollständige Ersetzung von Lehrkräften läuft dem hier skizzierten Verständnis von Bildung zuwider und ist auch nicht dadurch zu rechtfertigen, dass schon heute in bestimmten Bereichen ein akuter Personalmangel und eine schlechte (Aus-)Bildungssituation herrschen.“ Das allerdings lässt allerhand Spielraum. Denn unterhalb von „vollständig“ ließe sich ein Pädagoge nach dieser Vorgabe durchaus zur Hälfte, zu drei Vierteln oder ein klitzekleines Bisschen weniger als ganz ersetzen.
Hörten die politisch Verantwortlichen dagegen auf die Forschung – nicht die durch die IT-Lobby finanzierte –, müsste man das Digitale entweder ganz aus der Schule jagen oder, was wohl noch besser wäre, lediglich im engen Rahmen eines Fachs „Medienkompetenz“ über dessen Gefahren aufklären und Anleitung zu einem verantwortungsvollen Umgang damit geben. Das allerdings ist politisch nicht gewollt. Laut Lankau, Mitunterzeichner des besagten Aufrufs, stehen in der Pädagogik seit jeher zwei Prinzipien in Konkurrenz: „Unterrichten oder Zurichten“. Ersteres begreife Lernen als dialogischen Prozess, wogegen es beim zweiten um „Auswendiglernen und ums Abrichten von Humankapital für bestimmte Aufgaben mit abprüfbaren Kompetenzen“ gehe. Leider habe im Kapitalismus dieses Konzept die Oberhand gewonnen, beschied Lankau. „IT und KI vermitteln nur Repetitionswissen, weil eine Software ja gar nicht ‚weiß‘, was die Inhalte sind, alles sei nur computergeneriert, automatisierte Datenverarbeitung nach mathematischen Modellen. Die Frage ist daher, warum Menschen sich von dieser Simulation von Intelligenz täuschen lassen und warum diese Simulation und Mischung aus Fakten und Fakes so massiv in die Schulen gedrückt wird.“
Spiel, Spaß – und bilden?
Die Antwort lautet: Es geht um Geld, Macht und Kontrolle – und da muss das Kindeswohl zurücktreten. Die Kinderärztin Gesine Hansen führte jüngst gegenüber dem Spiegel (hinter Bezahlschranke) aus: „Kinder, die sehr viel Zeit vor dem Fernseher, Tablet oder Smartphone verbringen, sind häufiger übergewichtig als andere, haben Probleme, sich zu konzentrieren, zu schlafen, im schlimmsten Fall entwickeln sich Süchte wie die Computerspielsucht. Zu viel Bildschirmzeit schadet also klar. Ein anderer Aspekt ist, dass Medienkonsum ein Zeiträuber ist. Kinder, die viel vor dem Bildschirm sitzen, haben weniger Zeit für Freunde, Sport, Kunst, Musik oder andere Dinge in der realen Welt. Sie haben weniger Möglichkeiten, zu entdecken, was ihnen Spaß macht und wo ihre Begabungen liegen.“
Bei solchen Befunden mutet es geradezu schizophren an, die digitalen Spielzeuge auch noch zum ständigen Schul- und Lernbegleiter zu machen. „Intelligenter wäre es“, schreiben die 40 Streiter für eine digitale Auszeit, „von nationalen wie internationalen Praxiserfahrungen und Studienergebnissen zu lernen und darauf aufbauend Konsequenzen vor allem in der personellen statt der (medien-)technischen Ausstattung von Schulen und Ausbildungsstätten zu ziehen“. Notwendig sei die Berücksichtigung „ethischer, sozialer, entwicklungspsychologischer, pädagogischer und didaktischer Prämissen, um den Stellenwert digitaler Medien in der Schule verantwortbar zu gestalten“. Klare Worte findet auch die UNESCO. „Von Technologien, die für andere Zwecke entwickelt wurden, kann nicht unbedingt erwartet werden, dass sie für alle Bildungsbereiche geeignet sind“, und weiter: „Nur weil etwas getan werden kann, heißt das nicht, dass es auch getan werden sollte.“
Dumm und dümmer
Zudem gilt, dass sich aus Fehlern lernen lässt. In besagtem Report verweist die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur auf diverse Länder, die in puncto Digitalisierung der Bildung zum Rückzug blasen. In Frankreich gilt seit 2010 ein Handyverbot im Unterricht, 2018 erweitert zum Komplettverbot internetfähiger Geräte in allen Räumlichkeiten und bei schulischen Aktivitäten auch außerhalb des Schulgebäudes. Die Niederlande führen 2024 ein Smartphoneverbot an Schulen ein, Dänemark diskutiert darüber. Ähnliche Maßnahmen wurden inzwischen in einem Viertel aller von der UNESCO untersuchten Staaten initiiert.
Und was passiert bei uns? Bayern plant, in den nächsten fünf Jahren 1,6 Millionen Schüler mit Tablets zu versorgen, und Baden-Württemberg will den Einsatz digitaler Geräte per Schulgesetz verpflichtend machen. Dummes Deutschland – und bald noch viel dümmer…
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