In der Politikwissenschaft existiert eine Methode, die Politik in das Primat (Vorrang) der Außen- oder Innenpolitik zu kategorisieren. Innenpolitik ist in diesem Kontext nicht auf innere Sicherheit begrenzt, sondern umfasst im weitesten Sinne des Begriffs auch Wirtschafts- und Sozialpolitik etc. Natürlich bilden Kategorien die Wirklichkeit immer nur unzureichend ab. Aber Kategorisierungen sind unerlässlich zum Verständnis der Wirklichkeit. Und so ist es mit der politischen Wirklichkeit eben auch: Staaten, die der Außenpolitik das Primat einräumen, sind eher Großmächte respektive Möchtegern-Großmächte. Kleinere, international weniger machtvolle Staaten konzentrieren sich eher auf die innenpolitische Ebene, sofern sie keiner direkten äußeren Gefahr ausgesetzt sind. Von Alexander Neu.
Das Primat in die eine oder andere Richtung hat in der Logik immer auch unmittelbare Auswirkungen auf die andere, die sekundäre Sphäre, da politische Aufmerksamkeitssetzung immer auch nur über begrenzte Ressourcen (geistige, personelle, materielle, finanzielle etc.) verfügt. Jeder Euro, der für das Militär oder für diplomatische Initiativen ausgegeben wird, fehlt woanders, beispielsweise in der Gesundheitspolitik. Und selbst wenn eine Regierung bei einer sich exponierenden Außenpolitik durch sozialpolitische Investitionen Ruhe im Innern sichern möchte, so bedeutet dies kreditfinanzierte Maßnahmen, sei es für die außenpolitischen oder innenpolitischen „Investitionen“. Die Schulden müssen irgendwann plus Zinsen beglichen werden. So ist es mit dem vermeintlichen 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“ – ein Etikettenschwindel, da es sich tatsächlich um Sonderschulden handelt –, die an der Schuldenbremse vorbei für die militärische Aufrüstung kreditiert wurden. Und so ist es auch mit den kreditierten Coronahilfen um die 400 Milliarden Euro. So liegt der geplante Schuldendienst (Tilgung) im Bundeshaushaltsplan 2024, der Anfang Dezember im Bundestag verabschiedet werden soll, bei rund 37 Milliarden Euro (Einzelplan 32). Bei einem Gesamthaushalt von 445,6 Milliarden Euro sind das rund acht Prozent des Bundeshaushaltes, die nur zur Bedienung der Schulden und Zinsen benötigt werden.
Wandel des Primats
Die alte Bundesrepublik verfolgte zwangsläufig angesichts der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert und der damit einhergehenden limitierten Souveränität eine Politik des Primats der Innenpolitik. Die Bundesrepublik fuhr mit diesem Ansatz nicht schlecht: Wirtschaftswunder, sich aufbauender Wohlstand durch den Rheinischen Kapitalismus (Soziale Marktwirtschaft) etc. Damit hatte sich die Bundesrepublik auch international Respekt, ein Standing erarbeitet.
Seit der Wende 1989/90 gewannen in der politischen Elite und den sie wohlwollend begleitenden Leitmedien Ideen die Oberhand, wonach Deutschland international nun mehr Gewicht erhalten müsse – mithin die Fähigkeit zu einer gestaltenden Machtpolitik in den internationalen Beziehungen anzustreben sei. Und dieses „mehr Gewicht Erhalten“ stützt(e) sich sehr auf den Ausbau militärischer Fähigkeiten und deren Anwendung (materielle Fähigkeiten und politische Absichten). Die Debatten über Auslandseinsätze („out of area“) der Bundeswehr, angefangen bei Kambodscha und Somalia Anfang der 1990er-Jahre und endend mit der Flucht aus Afghanistan im August 2021, sind sicherlich noch vielen in Erinnerung. Stets wurde mit wachsender internationaler Verantwortung – mal mehr, mal weniger offen – im militärischen Sinne argumentiert. Neben der schleichenden Verlagerung des politischen Primats gab es auch beschleunigte Schubphasen.
Schübe der Primatwandels
Dazu gehören sicherlich die Beteiligung an dem völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien 1999, mit der sich Deutschland endgültig von der Kohl’schen Prämisse, wonach keine deutschen Soldaten in Regionen eingesetzt werden sollten, die vom faschistischen Deutschland angegriffen worden waren. Mit der Beteiligung am NATO-Angriffskrieg 1999 gehörte man schließlich in der Selbstwahrnehmung und -darstellung zu den Guten – Deutschland war damit zumindest mit Blick auf Osteuropa von seiner dunklen Vergangenheit rehabilitiert, so die nichtöffentliche Auffassung nicht weniger Protagonisten im damaligen politischen Bonn. Einen weiteren Schub stellte 9/11 dar, das die Möglichkeit bot, in Afghanistan militärisch mitzumischen – mit dem bereits erwähnten manifesten Misserfolg 2021.
Ein weiterer, wohl heute nur wenigen in Erinnerung gebliebener Schub dürfte im Februar 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz erfolgt sein. Seit dieser Konferenz ist die Öffentlichkeit einer Dauerbeschallung angesichts einer angeblich unterfinanzierten und nicht einsatztauglichen Bundeswehr ausgesetzt. Auf besagter Sicherheitskonferenz, an der ich selbst teilnahm, wurde ein orchestrierter Auftritt zwischen dem damaligen Bundespräsidenten J. Gauck, dem damaligen Außenminister F.-W. Steinmeier und der damaligen Verteidigungsministerin U. von der Leyen inszeniert: Deutschland müsse endlich internationale Verantwortung übernehmen und seine Bündnisverpflichtungen erfüllen. Worin denn genau das angebliche Verantwortungs- und Bündnisverpflichtungsdefizit bestand, war sie nicht willens zu erläutern.
Und der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident F.-W. Steinmeier forderte, Deutschland sei zu groß, um „Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren“. Nicht dahinter zurückbleiben wollte der damalige Bundespräsident J. Gauck: Deutschland dürfe sich nicht mehr hinter „seiner historischen Schuld verstecken“ und müsse „auch militärisch“ mehr tun. (Quelle) Hier dringt er durch, der Anspruch auf einen militärisch gestützten Großmachtstatus. Denn wirklich Weltpolitik gestalten kann nur eine Großmacht, können nur miteinander konzertierende Mittelmächte oder aber eine Mittelmacht als Anhang einer Großmacht.
Zu Letzterem passt wie die Faust aufs Auge die Anbiederung des deutschen Wirtschaftsministers R. Habeck bei seinem Antrittsbesuch im Februar 2022 in Washington:
„Je stärker Deutschland dient, umso grösser ist seine Rolle.“
Die „Bereitschaft, eine dienende Führungsrolle auszuüben“ werde in der US-Hauptstadt erfreut zur Kenntnis genommen. Die Hoffnung und Erwartung sei, dass mit der Bereitschaft zu höheren Militärausgaben und zu Waffenlieferungen in die Ukraine auch die Bereitschaft zu mehr Verantwortung innerhalb der NATO verbunden sei. „Und das ist ja auch der Plan.“ (Quelle)
Und natürlich wird so wenig deutsche Selbstachtung vom Washingtoner Establishment erfreut zur Kenntnis genommen. Man kann den US-Amerikanern diese Freude über den von R. Habeck ausgedrückten deutschen Willen, den USA zu dienen, gar nicht verübeln. Und wie weit der deutsche Wille, den USA zu dienen, fortgeschritten ist, zeigt sich am passiven Verhalten des deutschen Kanzlers O. Scholz auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem US-Präsidenten J. Biden Anfang Februar 2022. Dieser erklärte: „Wenn Russland einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben.“ Auf die Nachfrage anwesender Journalisten, wie die USA das verhindern wollten, antwortete der US-Präsident trocken: „Ich verspreche Ihnen, dass wir das schaffen werden.“ Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland O. Scholz steht regungslos daneben und akzeptiert scheinbar damit die US-Dominanz über die deutsche Energiepolitik – mithin das Ende der Energiesouveränität.
Der letzte und wohl massivste Schub, auch für das Portemonnaie des deutschen Steuermichels, war die Verkündung der „Zeitenwende“ am 27. Februar 2022 als Reaktion des russischen völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine. Diese Zeitenwende beinhaltet eben zu tilgende Sonderschulden in Höhe von 100 Milliarden Euro plus Zinsen – Gelder, die in der innenpolitischen Sphäre fehlen. 100 Milliarden Euro öffentliche Investitionen beispielsweise in die deutsche Verkehrsinfrastruktur (Deutsche Bahn), in die Bildungsinfrastruktur, in die Gesundheit und Umwelt wären Investitionen in die Zukunft unseres Landes. Es wären Investitionen von den Menschen (Steuergelder sind unsere Gelder) für die Menschen in unserem Land, die das internationale Standing Deutschlands gewiss erhöhen würden.
Aufrüstung schafft nicht notwendigerweise Stabilität
Ja, der Krieg Russlands scheint denen recht zu geben, die eine starke und kriegstaugliche Bundeswehr einfordern, so wie unser Verteidigungsminister B. Pistorius. Aber es scheint eben nur so – auf dem niedrigen Reflexionsniveau.
Denn unter sicherheitspolitischem Gesichtspunkt schluckt eine Rüstungsspirale sehr viel Steuergelder, die in anderen Bereichen (innenpolitische Sphäre) eben eingespart werden müssen. Die Rüstungsausgaben schaffen aber im umgekehrten Verhältnis nicht mehr, sondern mitunter weniger Stabilität und Sicherheit. Denn die Russische Föderation sitzt als größte Nuklearmacht im Zweifel immer am längeren Hebel, da jegliche konventionelle Überlegenheit der NATO, die objektiv gegeben ist, durch das russische Nuklearpotenzial mehr als kompensiert wird. Ein unmittelbarer Krieg gegen die Russische Föderation ließe sich wohl wenig wahrscheinlich auf die konventionelle Ebene begrenzen. Diese Erkenntnis gilt übrigens für beide Seiten, für die Russische Föderation wie für die NATO. Denn auch in Moskau weiß man, dass die USA im Zweifel ihre Nuklearwaffen in einem militärischen Schlagabtausch einsetzen würden. Diese Situation nennt man gegenseitige nukleare Abschreckung auf der Grundlage des Wissens um die „gegenseitig gesicherte Zerstörung“ („mutual assured destruction“, kurz „MAD“), die – so pervers, wie sie ist – doch bis heute einen dritten Weltkrieg verhindert hat.
Und genau diese Tatsache zeigt, wie unsinnig, ja geradezu verantwortungslos mit unseren wertvollen Steuergeldern in Form immer weiterer Aufrüstung umgegangen wird – finanziell und sicherheitspolitisch verantwortungslos. Das heißt nicht, dass wir keine Bundeswehr benötigen. Es heißt aber, eine Bundeswehr mit rein defensiver Ausrichtung zur Landesverteidigung begleitet durch eine konstruktive, auf Abrüstung und gemeinsamer Sicherheit für Europa unter Einschluss der Ukraine und Russland orientierte Sicherheitspolitik. Dass wissen auch die etwas aufgeklärteren außen- und sicherheitspolitischen Experten, die sich nicht in gesinnungsethischem Denken verrennen, sondern verantwortungsethisch verhalten.
Mittelstand? Egal.
Wie weit unsere Ampelregierung von dem Primat der Innenpolitik über das Primat der Außenpolitik zumindest tendenziell hin zum Primat des Militärischen gegangen ist, zeigt nicht zuletzt die absolut skurrile Situation um die Mehrwertsteuer in der Gastronomie: Die Bundesregierung hatte im Kontext der Coronapandemie die Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf sieben Prozent gesenkt, um die Belastungen für die Gastronomie während der Pandemie zu mindern. Und O. Scholz versprach in der ARD-Wahlarena (Bundestagswahlkampf 2021), die Absenkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie werde „nie wieder“ abgeschafft. (Quelle).
Es ist eine sehr sinnvolle Maßnahme – nicht nur, um die Belastungen während der Pandemie für die Gastronomie zu senken, sondern generell. Als nun gewählter Bundeskanzler sieht Olaf Scholz das plötzlich anders: Nun sei die Pandemie vorbei, und man müsse diese Ausnahmeregelung auslaufen lassen. Ob er sich nicht mehr an seine Zusage, es sei keine Ausnahmeregelung, erinnern kann oder nicht mehr erinnern will, sei dahingestellt. Festzuhalten bleibt, dass er ganz dem Adenauer’schen Motto „Was stört mich mein Geschwätz von gestern“ folgt.
Und außerdem führte eine Fortsetzung der Sieben-Prozent-Regelung zu einem Mehrwertsteuerausfall von rund 3,4 Milliarden Euro, so die ergänzende Begründung für den Wortbruch. Warum diese Größenordnung von 3,4 Milliarden Euro interessant ist, beleuchte ich weiter unten. Jedenfalls solle daher die Mehrwertsteuer ab Januar 2024 wieder auf 19 Prozent erhöht werden. Ganz so, als ob erstens die Gastronomie sich wieder gänzlich von den Belastungen der Coronaphase erholt hätte und ganz so, als ob es keine neuen Belastungen für die Gastronomien gäbe – wachsende Energie- und Lebensmittelkosten.
Die Ampel vertröstet die Kleinunternehmer und den Mittelstand damit, sie habe ja die Energiepreisbremse bis Ende März 2024 verlängert. Darüber hinaus ginge es indessen nicht aufgrund von Bedenken aus der EU. Also, im Klartext drei Monate mehr Galgenfrist – diese ändert in der Logik der Galgenfrist liegend aber nichts an der Problematik als solches: zu hohe Belastungen für die Gastronomien. Und zu Recht protestieren die Gastronomen und der deutsche Hotel- und Gaststättenverband gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Denn diese Erhöhung führt mutmaßlich zu einer Reihe von Pleiten im Gastronomiegewerbe. Gäste bleiben aus, da der ohnehin inflations- und kostensteigerungsgeplagte Michel noch genauer in seine Geldbörse schauen muss. Eine mögliche Pleitewelle bedeutet Jobverluste und ggf. Arbeitslosigkeit, was wiederum die sozialen Sicherungssysteme, wie die Arbeitslosenversicherung, stärker belasten dürfte. Dieser anzunehmende geringere gastronomische Konsum bis hin zu gastronomischen Insolvenzen dürfte erheblich dazu beitragen, dass die Mehrwertsteuereinnahmen durch die Erhöhung auf 19 Prozent eben nicht ein Plus von 3,4 Milliarden Euro, sondern deutlich weniger oder sogar ein Nullsummenspiel generieren. Obendrauf kommen die Zusatzkosten für die sozialen Sicherungssysteme. Kurzum: ein erstaunlich geniales Vorhaben der Ampel, um es mit etwas Zynismus zu bewerten.
Und nun zurück zu den 3,4 Milliarden Euro und der Frage des Primats der Innen- oder Außenpolitik: Verteidigungsminister B. Pistorius erklärte kürzlich, ohne mit der Wimper zu zucken, die Militärhilfe (wohlgemerkt nicht humanitäre Hilfe) für die Ukraine um vier Milliarden Euro auf acht Milliarden Euro für 2024 zu verdoppeln. (Quelle) Wie locker doch die Steuermilliarden sitzen, wenn es um militärische Fragen geht. Und wie sehr die Ampel auf dem Steuersäckel sitzt, wenn es darum geht, die Wirtschaft unseres Landes vor der wachsenden Rezession zu bewahren.
Diese finanzielle Verdoppelung für militärische Maßnahmen einerseits und die Gefährdung der Gastronomie andererseits stellen keine Ausnahmen dar. Sie stehen vielmehr paradigmatisch für ein prinzipielles Politikverständnis, das sich in den letzten 30 Jahren durch einen schleichenden Prozess sowie offensichtliche Schübe breitgemacht hat:
Vom Primat der Innenpolitik weg, hin zum Primat einer militärisch abgestützten Außenpolitik.
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