UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk erklärte am 19. November 2023, die Ereignisse der vergangenen 48 Stunden „übersteigen das Vorstellungsvermögen“. Bei Angriffen auf zu Notunterkünften umfunktionierten Schulen würden Menschen getötet, Hunderte müssten aus dem Al Shifa-Krankenhaus flüchten, während Hunderttausende in den südlichen Gazastreifen vertrieben würden. Dies alles verstoße gegen den grundlegenden Schutz, „der Zivilisten nach internationalem Recht gewährt werden muss“ und weiter „Der Schmerz, der Schrecken und die Angst, die sich auf den Gesichtern von Kindern, Frauen und Männern zeigen, sind schwer zu ertragen.“ Türk forderte eine sofortige Feuerpause. Doch nicht nur Israel verstößt gegen Völkerrecht, sondern auch die das Land militärisch unterstützenden Staaten, vorneweg die USA. Washington verstößt damit sogar gegen die eigene Gesetzgebung, das sogenannte „Leahy Law“. Von Jürgen Hübschen.
Das internationale Recht in Nahost-Krieg
Niemand kann mehr bestreiten, dass beide Kriegsparteien gegen das internationale Recht verstoßen und die Menschenrechte verletzen. Dabei ist es nicht relevant, welche Partei damit begonnen hat. Fest steht allerdings, dass sich Israel in der Art seiner Selbstverteidigung nicht darauf berufen kann, dass die Hamas in ihrer Kriegsführung Völkerrecht und Menschenrechte missachtet. Das ist, wenn man so will, der Nachteil einer Demokratie, dass das völkerrechtswidrige Verhalten des Gegners eigene Verstöße gegen internationales Recht nicht legitimiert.
Das internationale Recht und das amerikanische „Leahy Law“
Eine der Fragen, die sich in diesem Nahost-Krieg stellt, ist, ob „nur“ die Hamas und Israel gegen geltendes Recht verstoßen oder sich auch die USA diesen Vorwurf gefallen lassen müssen.
Das „Leahy Law“ ist eine juristische Ergänzung zum „Foreign Assistance Act“ des Jahres 1961. Es wurde im Jahr 1997 verabschiedet und besagt:
„Nach diesem Gesetz und auch gemäß dem Gesetz zum Waffenexport dürfen Sicherheitskräfte eines fremden Staates nicht unterstützt werden, wenn dem US-Außenminister glaubhafte Informationen vorliegen, dass eine Einheit dieser Sicherheitskräfte eine grobe Verletzung der Menschenrechte begangen hat.“
Dieses Gesetz wurde entwickelt vom ehemaligen Senator Patrick Leahy aus Vermont und nach ihm benannt. Dieser ist mittlerweile 84 Jahre alt und im Januar dieses Jahr zurückgetreten.
Zum Vorgehen der israelischen Sicherheitskräfte im Gazastreifen sagt Patrick Leahy u.a.:
„Für mich sind das Schießen auf Zivilisten und Angriffe auf zivile Infrastruktur, falls nicht sicher ist, dass diese von der Hamas genutzt wird, ein Verstoß gegen die Menschenrechte.“
Leahy lässt keine Zweifel aufkommen, dass die Hamas gestoppt werden muss, sagt aber auch, dass Israel sein Vorgehen ändern muss, nämlich „Israel muss deutlich selektiver gegen die Hamas vorgehen.“
Die Einschätzung von Leahy wird mittlerweile von vielen US-amerikanischen Politikern und auch von Mitarbeitern des Außenministeriums geteilt, weil diese sich dem „Leahy Law“ und damit amerikanischem Gesetz und auch dem Völkerrecht verpflichtet fühlen. So schrieb der ehemalige Präsidentschaftskandidat und unabhängige Senator von Vermont Bernie Sanders gemeinsam mit Peter Welch, dem Nachfolger von Patrick Leahy, unterstützt von der jüdischen Abgeordneten Becca Balint und 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des amerikanischen Außenministeriums in einem gemeinsamen Statement, dass sie sich verpflichtet fühlen,
„(…) alles zu tun, das rücksichtslose Bomben, das massive zivile Opfer verursacht, zu stoppen, dringend benötigte humanitäre Hilfe zu bringen und unschuldige Menschen im Gazastreifen zu schützen. Das Ganze ist eine humanitäre Katastrophe, und wir müssen jetzt handeln.“
Josh Paul, ein Mitarbeiter des amerikanischen Außenministeriums, ist wegen der ständigen Verletzung des „Leahy Law“ durch die amerikanische Regierung zurückgetreten. Er war elf Jahre lang der verantwortliche Leiter des „Congressional and Public Affairs Office“ im Büro des Außenministeriums für „Political Military Affairs“, das in der Hauptsache für den amerikanischen Waffenexport an Verbündete zuständig ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, hat er vor seinem Rücktritt erklärt, dass der Überfall der Hamas „an atrocity and an outrage “ („eine Gräueltat und ein ungeheuerlicher Frevel“) war. Aber dann sagt Paul:
„Israel wird zwar ständig unter dem Aspekt des „Leahy-Gesetzes“ überprüft, aber noch nie hat man eine israelische Einheit gefunden, die die Menschenrechte schwerwiegend verletzt hat. Das System ist kaputt.“
Zusammenfassung
Durch ihre militärische Unterstützung Israels bei der Verletzung des internationalen Rechts machen sich die USA ebenfalls schuldig. Israel missbraucht sein verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung durch die Unverhältnismäßigkeit seiner militärischen Reaktion, vor allem durch das Bombardieren der palästinensischen Bevölkerung, das Versagen von Nahrungsmitteln, der medizinischen Versorgung und die Vertreibung innerhalb des Gazastreifens. Das alles geschieht mit der militärischen Unterstützung durch die USA. Dazu gehören zunächst einmal die amerikanischen Waffensysteme, die durch Israel eingesetzt werden. Nicht nur die Flugzeuge und Hubschrauber stammen aus amerikanischer Produktion, sondern auch ein Großteil der Ausstattung der israelischen Streitkräfte insgesamt. Ohne die Nachlieferung von amerikanischen Bomben und Artilleriegranaten wären die laufenden Militäroperationen Israels gegen die Hamas, aber auch gegen die palästinensische Bevölkerung und Infrastruktur nicht möglich. Wie dargestellt, verstoßen die USA aber nicht nur gegen internationales Recht, sondern auch gegen die eigenen Gesetze. Diese Tatsache ist nicht nur ein wesentlicher Grund für die zunehmenden Differenzen im Kongress und Senat, sondern auch für die immer größer werdenden Demonstrationen in den USA.
Es ist Zeit, dass „der Westen“ nicht nur politischen Druck auf Israel ausübt, die Verletzung der Menschenrechte im Gazastreifen zu beenden, sondern auch in Washington vorstellig zu werden, das Völkerrecht zu achten und die eigenen Gesetze einzuhalten.
Titelbild: Shutterstock / Anas-Mohammed
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