Nach vier vergeblichen Anläufen hat der UN-Sicherheitsrat in New York am Mittwoch (15.11.2023, New York Ortszeit) eine Resolution angenommen, die „dringende und ausgedehnte humanitäre Unterbrechungen“ des Krieges in Gaza fordert. „Für eine angemessene Anzahl von Tagen“ müssen „humanitäre Korridore im ganzen Gazastreifen“ eingerichtet werden, um Hilfsgüter zu verteilen und kranke und verletzte Personen evakuieren zu können. Von Karin Leukefeld.
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Die Resolution 2712 (2023) fordert vollständigen, schnellen, sicheren und ungehinderten Zugang für UN-Agenturen und Partner in den Gazastreifen. Neben Hilfsgütern aller Art wird explizit auch die Lieferung von Benzin gefordert. Hamas und andere Gruppen müssen alle gefangen gehaltenen Entführten, besonders die Kinder, „sofort und bedingungslos freilassen“, zudem müsse sofort humanitärer Zugang zu den entführten Personen gewährleistet werden. Entsprechend dem humanitären internationalen Recht dürfe keine Seite der Zivilbevölkerung in Gaza den Zugang zur Grundversorgung und Hilfe versagen, die für das Überleben gebraucht würden. Der UN-Generalsekretär wird aufgefordert, bei der nächsten Gelegenheit – dem monatlichen Treffen zur Lage im Mittleren Osten – einen Bericht über die Umsetzung der Resolution vorzulegen.
In dem Text wird nicht der Angriff der Al-Qassam-Brigaden am 7. Oktober auf Israel erwähnt, bei dem nach israelischen Angaben 1.200 Personen getötet und mehr als 200 Personen entführt worden sein sollen. Auch der folgende Angriff Israels auf Gaza wird nicht erwähnt, bei dem große Teile der zivilen Infrastruktur in dem palästinensischen Küstenstreifen zerstört und mehr als 11.400 Menschen getötet wurden, zwei Drittel Kinder und Frauen. Es wird auch kein Waffenstillstand gefordert.
Der von Malta vorgelegte Resolutionsentwurf wurde mit 12 Stimmen angenommen. Es gab keine Gegenstimme. Die Veto-Mächte Russland, die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien enthielten sich. Die Veto-Mächte China und Frankreich stimmten dafür. Nach internationalem Recht ist die Resolution für alle 193 UN-Mitgliedsstaaten bindend.
Im Sicherheitsrat
Die Sitzung des UN-Sicherheitsrates am 15. November 2023 (New York Ortszeit) fand unter dem Vorsitz der Volksrepublik China statt, die im November die Sitzungen des obersten UN-Gremiums leitet. Die Sitzung begann mit einer Schweigeminute. Alle Anwesenden erhoben sich, um der Menschen zu gedenken, die in Israel am 7. Oktober und die seitdem in Gaza getötet wurden.
Vor der Abstimmung hatte Vassily A. Nebenzia, UN-Botschafter der Russischen Föderation, eine mündliche Änderung vorgeschlagen, die sich an dem Text der Resolution der UN-Vollversammlung (26.10.2023) orientierte, die von einer großen Mehrheit angenommen worden war.
Hinzugefügt werden solle die Forderung nach „einem sofortigen, dauerhaften und nachhaltigen humanitären Waffenstillstand, der zu einer Einstellung der Feindseligkeiten führt“. Das müsse der „kleinste gemeinsame Nenner sein, hinter den der Sicherheitsrat nicht zurückfallen dürfe“, sagte Nebenzia. Der Änderungsvorschlag wurde mit einer Nein-Stimme (USA) bei fünf Stimmen dafür und 9 Enthaltungen abgelehnt. Für die Änderung stimmten Brasilien, China, Mozambique, die Russische Föderation und die Vereinigten Arabischen Emirate. Es enthielten sich Albanien, Gabun, Ghana, Ecuador, Frankreich, Japan, Malta, Schweiz und Großbritannien.
Nach der Abstimmung erklärte Vanessa Frazier, UN-Botschafterin von Malta und Initiatorin der Resolution, die Abstimmung werde „Auswirkungen auf Menschenleben haben“. Frazier hatte – mit Unterstützung von Lana Zaki Nusseibeh, der UN-Botschafterin der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) – intensiv unter den UN-Diplomaten für die Annahme der Resolution geworben. Malta hat den Vorsitz der Arbeitsgruppe „Kinder und bewaffnete Konflikte“ im UN-Sicherheitsrat. Fokus des Resolutionsentwurfs war die humanitäre Situation und der Schutz für Kinder.
UN-Botschafterin Nusseibeh (VAE) würdigte die schwierigen Verhandlungen um die Resolution, die nun angenommen worden sei. Alle Seiten hätten Kompromisse gemacht. Sie betonte, dass das, was aus den Ruinen des Gazastreifens hervorgehen werde, die letzte Chance der Ratsmitglieder sein könnte, Gaza zu retten. Alle müssten zusammenarbeiten.
Der chinesische UN-Botschafter Zhang Jun erklärte, China unterstütze jede Initiative, die Zivilisten schütze und humanitäres Leid verringere. Allerdings sei China sehr besorgt über die Belagerung des Al-Shifa-Krankenhauses. Israel müsse seine militärischen Operationen gegen zivile Einrichtungen einstellen. Der Sicherheitsrat müsse sich auf die Seite der Gerechtigkeit stellen.
Antwort der palästinensischen Autonomiebehörde
Riyad Mansour, Ständiger Beobachter für den Staat Palästina (den es nicht gibt), merkte an, dass der Sicherheitsrat schon längst einen Waffenstillstand hätte fordern müssen. „Gaza blutet. Überall gibt es Tod, Verwüstung, Zerstörung. Niemand wurde geschont.” Die Resolution stelle die Kinder in den Mittelpunkt, von den mehr als 11.000 Palästinensern, die von Israel getötet worden seien, seien 5.000 Kinder. Wahllos greife Israel Krankenhäuser und Schulen an, töte Mitarbeiter der Vereinten Nationen, Journalisten und Ärzte. Hinzu komme die rassistische israelische Propaganda. Alle Parteien müssten sich an das internationale Recht halten, das sei gut. Aber seit Jahrzehnten werde Israel aufgefordert, das Recht einzuhalten, und seit Jahrzehnten habe Israel das Recht ignoriert und sei nie dafür zur Verantwortung gezogen worden, sagte Mansour. „Wird Israel zur Rechenschaft gezogen werden, wenn es diese Resolution, die gerade angenommen wurde, zurückweist?“, fragte er. „Der Wahnsinn muss aufhören.“
Antwort aus Israel
Für Israel äußerte sich der stellvertretende UN-Botschafter Brett Jonathan Miller. Er empfahl dem Sicherheitsrat, die sofortige Freilassung der 239 Geiseln zu fordern. Fast zehn Mal habe sich der Sicherheitsrat getroffen und habe sich nicht durchringen können, das Massaker der Hamas am 7. Oktober zu verurteilen. In der verabschiedeten Resolution gehe es nur um die humanitäre Situation in Gaza, nichts werde darüber gesagt, was dazu geführt habe. Hamas benutze die Bewohner in Gaza als „menschliche Schutzschilde“ und habe „geschworen, Israel auszulöschen“, so der Botschafter. Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung. Für Israel habe die Freilassung der Geiseln „oberste Priorität“. Israel habe Neugeborenen Inkubatoren und medizinische Hilfsgüter in das Al-Shifa-Krankenhaus gebracht und mehr als 300 Liter Benzin geliefert. Hamas habe verhindert, dass die Klinik es angenommen habe.
In einer zusätzlichen Erklärung über X, vormals Twitter, äußerte sich auch Gilad Erdan, der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen. Israel weise die Resolution zurück und werde sich nicht daran halten, wurde Erdan von der Nachrichtenagentur Reuters wiedergegeben. Die Resolution habe „nichts mit der Realität zu tun“ und sei „bedeutungslos“. Israel werde sich weiter an das internationale Recht halten, betonte er. „Die Hamas-Terroristen werden die Resolution gar nicht lesen, geschweige denn, sich daran halten.“
Kinder in bewaffneten Konflikten
Die UN-Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Kinder in bewaffneten Konflikten, Virginia Gamba, begrüßte die Annahme der Resolution durch den UN-Sicherheitsrat. Alle Akteure des Krieges in Gaza, sowohl Israel als auch Hamas als auch der Palästinensische Islamische Jihad, seien dem humanitären internationalen Recht verpflichtet, besonders wenn es um den Schutz der Kinder gehe, sagte Gamba. Man wisse, dass „Kinder unverhältnismäßig durch Krieg betroffen“ seien, so die UN-Diplomatin. „Besonders in so dicht bewohnten Gebieten wie Gaza, wo fast die Hälfte der Bevölkerung jünger als 18 Jahre ist.“ Schutz von Kindern müsse jeder gewährleisten. In den vergangenen sechs Wochen aber seien Kinder täglich entführt, getötet und verstümmelt worden. Krankenhäuser und Schulen „wurden angegriffen und nutzlos für das, wofür sie gebaut wurden“. Die Resolution gebe Hoffnung, dass der Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten wieder ernster genommen werde. „Die internationale Gemeinschaft muss lernen, Frieden mehr zu schätzen als Konflikte.“ Es müsse mehr Energie aufgebracht werden, um Konflikte friedlich zu lösen.
Titelbild: lev radin/shutterstock