Am 24. Februar 2022 waren die russischen Streitkräfte in die Ukraine einmarschiert. Bereits im März 2022 hatte es in Istanbul auf Vermittlung von Präsident Erdogan Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine gegeben, um den Krieg zu beenden. Die zwischenzeitlich erreichten Ergebnisse waren nach Aussagen von Insidern durchaus Erfolg versprechend. Nach einem Besuch des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew am 09. April 2022 wurden die Verhandlungen ohne irgendwelche öffentlichen Verlautbarungen abgebrochen. Es ist davon auszugehen, dass Großbritannien und auch die USA an einem Waffenstillstand nicht interessiert waren, sodass Kiew nichts anderes übrig blieb, als die Gespräche zu beenden. Von Jürgen Hübschen.
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Praktisch seit dieser Zeit lehnt der ukrainische Präsident Selenskyj bis zum heutigen Tag jede Art von Verhandlungen ab und hat diese mittlerweile sogar per Gesetz verboten. Er betont immer wieder, dass er erst zu Gesprächen mit Präsident Putin bereit sei, nachdem alle russischen Soldaten aus der Ukraine abgezogen wären. Der ukrainische Präsident fügte seit dem Sommer 2023 in der Regel noch hinzu, dass die im Juni begonnene ukrainische Offensive erfolgreich verlaufe und die Ukraine den Krieg gewinnen würde. Dafür müsse allerdings die militärische Unterstützung „des Westens“ beibehalten und nach Möglichkeit noch intensiviert werden.
Bislang war man davon ausgegangen, dass diese unnachgiebige Position des Präsidenten, verbunden mit einer optimistischen Beurteilung der Gesamtlage, auch von der militärischen Führung der ukrainischen Streitkräfte grundsätzlich loyal mitgetragen wurde, obwohl zwischenzeitlich immer mal wieder kritische Stimmen laut wurden.
Die Differenzen zwischen der militärischen Führung und dem ukrainischen Präsidenten
Mittlerweile wird aber immer klarer, dass die militärische Führung der Streitkräfte die Gesamtlage sehr viel schlechter beurteilt als der Präsident, der als ziviler Befehlshaber über dem Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte steht und damit die letzte Entscheidungsgewalt hat.
Erstmalig wurden erhebliche Differenzen zwischen Präsident Selenskyj und der Führung der Streitkräfte im Zusammenhang mit dem Gefecht um die ukrainische Stadt Bachmut offenkundig. Die Generalität hatte erkannt, dass die Stadt nicht zu halten war, und wollte deshalb weitere Verluste vermeiden. Auf Weisung des Präsidenten musste die Stadt noch einige Wochen länger „gehalten“ werden, bis man letztlich vor der russischen Übermacht aufgeben musste, nachdem zusätzlich Tausende ukrainische Soldaten gefallen waren oder verwundet wurden. Im Verlauf der im Juni begonnenen ukrainischen Offensive mehrten sich die kritischen Stimmen aus dem Militär, die aber von Präsident Selenskyj ignoriert wurden. Offensichtlich war das Maß jetzt voll, vermutlich auch bedingt durch die schlechten Witterungs- und Bodenverhältnisse, die den Einsatz von Panzern und anderen schweren Waffen immer schwieriger machten, sodass der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyi, in einem Interview mit der britischen Zeitschrift Economist an die Öffentlichkeit ging. Wörtlich sagte er u.a.:
- „Wie im ersten Weltkrieg haben wir ein Niveau der Technologie erreicht, das uns in eine Sackgasse bringt.“
- Der Krieg stecke angesichts der gegenwärtigen „militärischen Parität“ der russischen und ukrainischen Armee fest.
- „Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach keinen tiefen und schönen Durchbruch geben.“
- Ändern könne sich das nur, wenn die Ukraine Luftüberlegenheit und mehr Ausrüstung für das Räumen der bis zu 20 Kilometer tiefen russischen Minenfelder bekomme, mehr Artilleriemunition und bessere Ausrüstung zur Störung der effektiven russischen Elektronik, und zudem mehr Ukrainer einziehen und trainieren könne.
- All dies sei umso notwendiger, als das gegenwärtige Patt es Russland ermögliche, „seine militärische Macht wiederherzustellen und aufzubauen“.
- Trotz hoher Verluste behalte Moskau seine „Überlegenheit in Waffen und Ausrüstung, Raketen und Munition für beachtliche Zeit, während die Fähigkeiten seiner Militärindustrie wachsen“.
- Zwar steigerten auch Kiews Partner die Produktionskapazität von Waffen und Munition dramatisch, doch dauere dies je nach Waffen- oder Munitionstyp ein oder auch zwei Jahre.
Zwei Tage nach diesem Interview entließ Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Empfehlung von Verteidigungsminister Rustem Umjerow den Kommandeur der Spezialeinheiten der ukrainischen Streitkräfte, General Wiktor Chorenko. Dies berichtete die Ukrajinska Prawda unter Berufung auf den stellvertretenden Leiter des Präsidialamtes, Roman Mashovets. Die Entlassung erfolgte, ohne den Offizier vorher angehört und ohne sich vorher mit Walerij Saluschnyi als dessen Vorgesetzten abgestimmt zu haben. Selenskyj hatte den Geheimdienstveteranen Chorenko erst im Juni 2023 zum Chef der oft hinter den feindlichen Linien operierenden Spezialeinheiten gemacht und ihn im September wegen seiner Erfolge zum General ernannt. In seiner Abendansprache sagte das Staatsoberhaupt, dass Chorenko weiterhin Sonderaufgaben im Rahmen der Hauptdirektion für Nachrichtendienste des Verteidigungsministeriums wahrnehmen wird. Der ehemalige Kommandeur der Sondereinsatzkräfte sagte, er kenne die Gründe für seinen Rücktritt nicht.
Als neuen Kommandeur der Sondereinsatzkräfte ernannte der Präsident Serhij Lupantschuk.
Die Entlassung von General Chorenko und vor allen Dingen auch die Art und Weise der Entlassung – Chorenko hatte wohl aus der Zeitung davon erfahren – haben zu großer Unruhe im ukrainischen Offizierskorps geführt, die bis heute offensichtlich anhält. Die Militärführung ist empört über die Einmischung des Präsidenten in militärische Belange ohne Absprache mit seinem Oberkommandierenden. Vor allem wegen der Art und Weise der Entlassung wird dem Präsidenten ein Verstoß gegen die „militärische“ Ethik“ vorgeworfen. Saluschnyi hat sich bislang zu dem Vorgang nicht öffentlich geäußert.
Am 05. November 2023 widersprach der ukrainische Präsident in einem Interview mit dem US-Fernsehsender NBC der Analyse seines höchsten Militärs und erklärte u.a.:
„Ich glaube nicht, dass dies eine Sackgasse ist. Unser Militär kommt mit verschiedenen Plänen, verschiedenen Operationen, um schneller vorwärtszukommen und die Russische Föderation unerwartet zu treffen.“
Am 06. November 2023 starb der persönliche Adjutant von Walerij Saluschnyi, Major Hennadij Tschastijakow, an seinem Geburtstag, als eine ihm von einem Kameraden geschenkte Handgranate explodierte. Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte erklärte auf „Telegram“ dazu: „Heute ist mein Assistent und naher Freund an seinem Geburtstag im Kreis seiner Verwandten unter tragischen Umständen ums Leben gekommen.“ Innenminister Ihor Klymenko sprach von einem Unglücksfall. Demnach hatte der Major einige ihm zum Geburtstag geschenkten Granaten seinem Sohn gezeigt. Dabei sei die Granate zufällig entsichert und der Vater bei der Explosion getötet worden. Das Kind wurde verletzt. Der Mann, der dem Offizier die verhängnisvollen Granaten geschenkt hatte, wurde laut Innenminister Klymenko bereits identifiziert. Er soll dem Adjutanten eine Flasche Whiskey und sechs Granaten geschenkt haben. Bei einer Durchsuchung von dessen Arbeitszimmer seien weitere Handgranaten gefunden worden, hieß es weiter. Die Ermittlungen dauerten an. Ein Anschlag oder eine Moskauer Spur im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurden in Kiew ausgeschlossen.
Zeitenwende in der Ukraine?
Ob man bereits von einer Zeitenwende in der Ukraine sprechen kann, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt zwar etwas verfrüht, kann aber nicht ausgeschlossen werden.
Neben den unübersehbaren Differenzen zwischen dem Präsidenten und der Führung der ukrainischen Streitkräfte müssen vor allem die politischen Veränderungen gesehen werden. Bei seinem letzten Besuch in den USA wurde Präsident Selenskyj nicht mit Standing Ovations im Kongress hofiert, sondern musste vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass die umfassende finanzielle und militärische Unterstützung durch die USA nicht mehr als selbstverständlich eingeordnet werden kann. Neben den zunehmenden amerikanischen Zweifeln am militärischen Erfolg der Ukraine spielt dabei der Krieg in Nahost eine entscheidende Rolle. Dieser hat den Ukrainekrieg nicht nur aus den Schlagzeilen verschwinden lassen, sondern auch in den Interessen vieler Abgeordneter. Das gilt im Übrigen nicht nur für die USA, sondern auch für viele Politiker in Europa. Insgesamt ist man offensichtlich zu derselben Erkenntnis gelangt wie Walerij Saluschnyi, dass der Krieg von der Ukraine auf absehbare Zeit nicht gewonnen werden kann, völlig unabhängig davon, wie viel Geld und Waffen „der Westen“ in die Ukraine pumpen wird. Der bereits begonnene Wahlkampf in den USA ist sicherlich auch kein Vorteil für den ukrainischen Präsidenten.
Last, but not least scheint Präsident Selenskyj mittlerweile der Einzige zu sein, der immer noch glaubt, die Ukraine könne den Krieg militärisch für sich entscheiden.
Fachleute sind sich einig, dass Saluschnyi mit seiner Lagebeurteilung grundsätzlich recht hat. Dabei ist allerdings die entscheidende Frage, ob oder wie lange es überhaupt noch eine Pattsituation gibt oder ob Russland bereits die Oberhand gewonnen hat, wofür vieles spricht.
Die Differenzen mit der militärischen Führung haben dem ukrainischen Präsidenten massiv geschadet. Die Tatsache, dass er offensichtlich nicht die Kraft und Autorität hat, den Oberkommandierenden zu entlassen, obwohl ihm dieser öffentlich widersprochen hat, ist offenkundig. Die unbegründete Entlassung von General Chorenko erscheint in diesem Licht wie der untaugliche Versuch, Führungsstärke zu beweisen, was ihm vor allem beim Militär immens geschadet hat. Den Tod des Adjutanten Saluschnyis sollte man nicht überbewerten, obwohl es dazu durchaus berechtigte Fragen gibt. Eine Handgranate explodiert nun einmal nicht von allein…
Wer genau zuhört und die Entwicklung aufmerksam verfolgt, gewinnt den Eindruck, dass die Zeit des halsstarrigen und zu Kompromissen unfähigen Präsidenten abgelaufen ist. Seine Entscheidung, keine Wahlen abzuhalten und dies mit dem Kriegszustand zu begründen, erscheint vielen als durchsichtiges Manöver der Machterhaltung. Es gibt durchaus viele Stimmen in der Ukraine, die den populären Saluschnyi für den besseren Präsidenten halten. Ob die USA Selenskyj immer noch für den richtigen Mann am richtigen Platz halten, kann ebenfalls durchaus bezweifelt werden.
Die Ukraine braucht nicht erst jetzt einen Präsidenten, der begreift, dass immer mehr Tote und eine immer größere Zerstörung der Ukraine keine tragfähige Alternative zu Verhandlungen mit Moskau sind. Es wäre geboten, dass auch die USA, zusammen mit der EU, ihm dieses klarmacht und ihn, falls er es selbst nicht einsieht, durch eine andere Persönlichkeit ersetzen lässt. Das könnte durchaus Walerij Saluschnyi sein, der das Vertrauen der Bevölkerung besitzt und sich vielleicht durch sein Interview bereits selbst in Stellung gebracht hat.
Titelbild: Shutterstock / Philipp Edler
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