„Jetzt geht das schon wieder los“, wird sich so manch ohnehin dauergenervter Bahnkunde jetzt denken. Zwar ist die Planung von längeren oder auch kürzeren Bahnreisen in Deutschland inzwischen generell ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, was die Verlässlichkeit der Verbindungen betrifft. Doch jetzt setzt auch noch die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bereits wenige Tage nach dem ersten Gespräch in der Tarifrunde mit der Bahn AG einen drauf. Heute beginnt um 22 Uhr ein 20-stündiger Warnstreik, der alle Sparten des Bahnverkehrs (Fern-, Nah- und Güterverkehr) weitgehend lahmlegen wird, und zu dem nicht nur die Lokführer, sondern auch Zugbegleiter, Werkstattmitarbeiter und Disponenten in allen Unternehmen des Bahn-Konzerns und Fahrdienstleiter sowie weitere Berufsgruppen bei DB Netz zum Streik aufgerufen wurden. Von Rainer Balcerowiak.
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Überraschend kommt das nicht, denn der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky, der dieses Amt im kommenden Jahr nach 16 Jahren abgeben wird, hatte bereits vor Beginn der Verhandlungen unmissverständlich klargestellt, dass seine Gewerkschaft kein Interesse an einer Hängepartie in Form von mehr oder weniger unverbindlichen Plauderrunden habe, sondern an einem schnellen Ergebnis interessiert sei, was wohl kaum ohne massive Arbeitsniederlegungen zu erreichen sein werde. Und wer diese relativ kleine, aber sehr schlagkräftige Spartengewerkschaft in den vergangenen Jahren ein bisschen verfolgt hat, konnte wissen, dass Weselsky zu jener raren Spezies von Gewerkschaftsführern gehört, deren manchmal auch markigen Ankündigungen man durchaus Glauben schenken kann.
Knackpunkt ist die Arbeitszeitverkürzung
Über eine Lohnerhöhung nebst einer steuerfreien Einmalzahlung als Inflationsausgleichsprämie hätte man sich sicherlich einigen können. Die entsprechenden Forderungen der GDL nach einer Entgelterhöhung von 555 Euro für alle Lohngruppen pro Monat und einer Einmalzahlung von 3.000 Euro sprengen keineswegs den Rahmen des in vergleichbaren Tarifsegmenten Verhandelten und auch bei Abschlüssen Vereinbarten. Das Angebot der Bahn vom vergangenen Donnerstag sah statt der einheitlichen Erhöhung eine prozentuale Lohnsteigerung um 11 Prozent und eine Einmalzahlung von 2850 Euro vor. Eine größere Differenz gab es bei der angestrebten Laufzeit des neuen Tarifvertrages. Die GDL hätte gerne 12 Monate, die Bahn am liebsten 32. Doch in dieser Frage einigt man sich bei Tarifverhandlungen traditionell ziemlich in der Mitte. Nach großem Konfliktpotential klingt das jedenfalls nicht, und einen derart massiven, flächendeckenden Warnstreik wenige Tage nach Verhandlungsbeginn würde dies auch kaum rechtfertigen.
Doch für die GDL steht in dieser Tarifrunde eine andere Forderung im Mittelpunkt: Die Absenkung der Wochenarbeitszeit für Schichtarbeiter von 38 auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Und in dieser Frage hatte der Bahn-Vorstand bereits vor Beginn der Tarifrunde kategorisch ausgeschlossen, darüber auch nur zu verhandeln. Weil das a) viel zu teuer sei, und man b) die dann notwendigen Neueinstellungen mangels Fachkräften auf dem leergefegten Arbeitsmarkt gar nicht realisieren könnte, erläuterte Vorstandschef Martin Seiler diese Haltung. Was für Weselsky natürlich eine Steilvorlage war. Weil es a) höchste Zeit sei, die Tätigkeiten von Schichtarbeiten angemessen zu honorieren und ihre Belastung zu reduzieren, und dass b) nur derartige Schritte eine Perspektive eröffnen würden, dass genügend Menschen derartige Berufe künftig überhaupt noch erlernen und ausüben wollen. Seit Jahren beschwere sich das Management darüber, dass es nicht genug Nachwuchskräfte für diese Berufe gebe. Aber eine „zündende Idee, wie man dem abhelfen kann“, habe er von dieser Seite in all den Jahren nicht vernommen, kritisiert er. Man habe als Gewerkschaft aber verstanden, dass die „Work-Life-Balance“ gerade für jüngere Menschen bei der Berufswahl einen viel höheren Stellenwert habe als früher.
Eine Einschätzung, mit der Weselsky wahrlich nicht alleine steht. Auch die IG Metall setzt bei den jetzt anlaufenden Tarifverhandlungen in der Stahlindustrie auf eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich und einem Stufenplan für die Einführung der Vier-Tage-Woche. Ähnliches wird auch die nächste Tarifrunde bei den Berliner Verkehrsbetrieben prägen, einem der größten deutschen Nahverkehrsunternehmen. „Sollten die Arbeitgeber also glauben, die GDL am Nasenring durch die Manege führen zu können, haben sie sich geirrt. Die GDL-Mitglieder belehren sie gerne eines Besseren, auch gemeinsam mit Mitgliedern anderer Gewerkschaften“, kommentiert das Weselsky.
Komplizierte Situation durch Tarifeinheitsgesetz
Bahn-Chef Seiler schwingt derweil die bekannte, leicht ranzige rhetorische Keule gegen die GDL. Mit ihrem „unverantwortlichen“ Streik vor den unmittelbar bevorstehenden weiteren Verhandlungen würde sie „Millionen Menschen in Haftung nehmen und die Sozialpartnerschaft mit Füßen treten“. Auch die einschlägigen Medien laufen sich allmählich in ihrem Furor gegen den „Egomanen“ Weselsky warm. Geschenkt. Wie auch der „Appell“ von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), doch bitte den „Weihnachtsfrieden“ zu wahren. Doch statt sich mit barmendem Geblubber unverschämterweise in Tarifauseinandersetzungen einzumischen, sollte sich Wissing endlich mal um den maroden Bahn-Konzern kümmern, dessen oberster Dienstherr er ist.
Der heutige Warnstreik wird bestimmt nicht der letzte sein. Im Gegenteil: Weselsky hat bereits angekündigt, sehr schnell eine Urabstimmung über unbefristete Streiks einleiten zu wollen, falls die Bahn bei ihrer Verweigerungshaltung bleibe. Und auch diese Ankündigung kann man getrost für bare Münze nehmen. Doch die Sache hat einen Haken. Zwar spricht einiges dafür, dass die GDL ihre Forderungen in der laufenden Tarifrunde teilweise durchsetzen kann, das bedeutet aber nicht, dass alle ihre Mitglieder davon automatisch profitieren würden. Denn die Bahn wendet das Tarifeinheitsgesetz (TEG) an, wonach in Betrieben mit konkurrierenden Tarifverträgen derjenige mit der jeweiligen Mehrheitsgewerkschaft gilt. Das betrifft beim Bahn-Konzern 71 von insgesamt rund 300 Betrieben. Den bis vor wenigen Jahren konzernweit geltenden Spartentarifvertrag für Lokführer, die zu über 80 Prozent in der GDL organisiert sind, gibt es durch die Anwendung des TEG nicht mehr.
Zwar sind die juristischen Auseinandersetzungen um die Mehrheitsfeststellung noch lange nicht abgeschlossen, aber derzeit geht die Bahn davon aus, dass GDL-Tarifverträge nur in 18 Betrieben angewendet werden müssen. In den anderen gilt der aktuelle Tarifabschluss der konkurrierenden Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Und die hatte keinerlei Forderungen für Schichtarbeiter aufgestellt und agiert ohnehin seit Jahren sehr konzernfreundlich. Bislang hatte die Bahn nach guten GDL-Tarifabschlüssen für das Zugpersonal allerdings der EVG angeboten, diese Ergebnisse zu übernehmen, um unterschiedliche Arbeitszeitregelungen und Entlohnungen innerhalb des Konzerns zu vermeiden. Doch ob das diesmal auch so funktionieren würde, ist alles andere als sicher. Wobei schwer vorstellbar ist, dass es sich das Bahn-Management angesichts der ohnehin angespannten innerbetrieblichen Konstellation leisten kann und will, GDL-Lokführer in EVG-dominierten Betrieben von jenen Verbesserungen auszuschließen, die sich diese eigentlich gerade erfolgreich erstreikt haben.
Jetzt wird jedenfalls erstmal gestreikt – und das ist auch gut so, denn anders geht es anscheinend nicht. Wer in den kommenden Wochen – also auch in der Weihnachtszeit – Reisen plant, sollte sich vielleicht Alternativen zum Schienenverkehr suchen. Und auf keinen Fall in die vermutlich bald heftig anschwellende Hetze gegen Weselsky und die GDL einsteigen. Denn deren konsequenter Kampf für bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen ist – und das nicht zum ersten Mal – ein wichtiger Impuls für die mitunter recht dröge Gewerkschaftsbewegung.
Titelbild: Jiaye Liu/shutterstock.com