Wie sähe eine „richtige Erinnerung“ an die Zeit der Corona-Maßnahmen aus? Diverse Plattformen sammeln momentan Beispiele aus der enthemmten Hetze gegen Andersdenkende. Diese Praxis der Dokumentation ist gesellschaftlich wichtig – aber ist der nochmalige Abstieg in die Tiefen der offiziellen Meinungsmache für den einzelnen Bürger gesund und hilfreich? Und welcher Umgang mit dem schweren Erbe der Corona-Politik wäre sonst zu empfehlen? Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Es gibt diverse Foren, in denen besonders skandalöse Äußerungen und Vorgänge gesammelt werden, die von Befürwortern der Corona-Politik genutzt wurden, um die eigene Politik mit harten Diffamierungen gegen auch seriöse Kritik Andersdenkender abzusichern. Die aktuellste Sammlung von Pressezitaten, offiziellen Verfügungen etc. ist wohl bei „X“ zu finden, unter dem Schlagwort „RichtigErinnern“.
Diese Sammlungen sind erschütternde Zeugnisse von Tabubrüchen. Eigentlich müssten die wichtigen sprachlichen Tabus wiedererrichtet werden, die vor der Corona-Politik den Umgang mit Andersdenkenden zumindest noch ansatzweise in Grenzen des Anstands gehalten hatten und die während der Corona-Politik vorsätzlich gebrochen wurden, um politische Gegner noch unfairer, aber auch wirksamer bekämpfen zu können. Viele fragwürdige, bereits vorher bestehende Tendenzen der Meinungsmache haben sich im Laufe der Corona-Politik nochmals zugespitzt.
Erinnerungen an die Hetze: Nichts für schwache Nerven!
Ich möchte eine Warnung aussprechen: Diese Sammlungen sind nichts für schwache Nerven. Gerade, wenn man sich eine Weile nicht mit der Zeit der Lockdowns, der maskierten Kinder, der verbotenen Demos, der einsam Verstorbenen und der geschlossenen Schulen beschäftigt hatte, können die Zitate und Bilder, die Diffamierungen und die Polizeieinsätze, die dokumentierte Kälte, Härte und Skrupellosigkeit eine brutale Wirkung erzielen: Wie durch eine unbarmherzige Zeitmaschine ist man dann wieder mitten in dem Gefühl von 2021. Das kann produktiv genutzt werden, um die Empörung zu erneuern und die Dringlichkeit zu erhöhen, dass eine solche Politik sich nie wiederholen darf. Es kann auf manche Bürger aber vielleicht auch eine lähmende und deprimierende Wirkung entfalten. Das sollte jeder Leser für sich selber abwägen.
Es gibt Versuche vonseiten der Unterstützer der unangemessenen Corona-Politik, solche Sammlungen als unredliche „Pranger“ oder als „Menschenjagd“ zu interpretieren. Das trifft nicht zu. In dem Zusammenhang soll hier ein Twitter-Nutzer sinngemäß zitiert werden:
„Diese Sammlungen bedeuten keine Menschenjagd, sie dokumentieren eine.“
Neben „RichtigErinnern“ sei hier auf die Projekte „Aufarbeitung Jetzt“ und „Ich habe mitgemacht“ verwiesen. Es gibt sicherlich noch weitere Plattformen, auf denen die harte Meinungsmache gegen Andersdenkende gesammelt wird, dazu sicherlich solche, die sich mit anderen Facetten der an Skandalen reichen Zeit der Corona-Politik befassen. In den Parlamenten wird die Aufarbeitung der Corona-Politik viel zu sehr der AfD überlassen, so plant die Partei am kommenden Wochenende ein Corona-Symposium im Bundestag – unter anderem die fortgesetzte Praxis der anderen Parteien, solche zentralen Themen der AfD zu überlassen, macht die Rechten voraussehbar stark.
Mythenbildung und Geschichtsklitterung
Wie wichtig es ist, der vonseiten der Vertreter der unangemessenen Coronapolitik kultivierten Mythenbildung und Geschichtsklitterung entgegenzutreten, zeigen viele aktuelle Beispiele einer versuchten Kontinuität – als könnte ein stures Verharren auf als unangemessen enttarnten Handlungen diese Handlungen in der Vergangenheit (unter anderem etwa evidenzlose Panikmache) rechtfertigen.
Ein Beispiel liefert aktuell das Ärzteblatt:
Fünf Sekunden Luft anhalten könnte Risiko für Coronainfektion reduzieren: Tsukuba – Wer sich im Vorbeigehen an anderen Menschen vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 schützen will, sollte für 5 Sekunden die Luft anhalten… https://t.co/rLj2subLAv #ScientificReports #SARSCoV2 pic.twitter.com/6uS76qYkeL
— Deutsches Ärzteblatt (@Dt_Aerzteblatt) November 6, 2023
Härter geht die Zeit in einem Kommentar zur Sache – Christian Vooren argumentiert dort noch immer ganz im Stile der Meinungsmache, die etwa ab 2020 stark in Mode kam:
„Ja, es gibt Antisemitismus unter Linken und Migranten. Doch zu Hause ist er im deutschen Bürgertum. Das hat zuletzt die Corona-Pandemie deutlich gezeigt. (…) Reihenweise wurde der Holocaust relativiert, sogar geleugnet. Es wurden Verschwörungsmythen gesponnen, die Jüdinnen und Juden die Schuld an der Pandemie gaben. Rechtsextreme Hetzer wie Attila Hildmann galten in der Szene als Helden, er hetzt bis heute auf seinen Telegram-Kanälen aufs Widerlichste gegen Juden. Nach zwei Jahren Pandemie waren die antisemitischen Parolen längst in der Mitte der Querdenker-Bewegung angekommen, raus aus dem rechten Rand, rein ins Bürgerliche. Die Pandemie ist unter Kontrolle, die Wut und der Hass sind geblieben. Im Netz kursiert er ungebremst.“
Als sei nichts geschehen…
Dieser fragwürdige Beitrag führt einige der Techniken, die gegen Andersdenkende bei der unangemessenen Corona-Politik zum Einsatz kamen, einfach weiter – als sei nichts geschehen. Dieses „als sei nichts geschehen“ verdeutlicht die Dringlichkeit einer Aufarbeitung nicht nur der Corona-Politik, sondern auch der begleitenden Hetzkampagne gegen Andersdenkende.
Es gibt und gab unter den Kritikern der Corona-Politik radikale Akteure, die über das Ziel hinausgeschossen sind – aber diese Akteure sind eine kleine Minderheit innerhalb einer weitgehend gesittet auftretenden und sehr gemischten Gruppe von Bürgern. Dass der stets (und auch hier von der Zeit) beklagte „Hass“ viel mehr und viel härter von der Seite der Befürworter der Corona-Politik kultiviert wurde (und wird) – das ist offensichtlich. Die „verzweifelten“ Klagen über „Hass und Hetze“ in vielen politisch-gesellschaftlichen Diskursen vonseiten vieler Mainstream-Journalisten kann also als ziemlich dreiste Variante der Taktik „Haltet den Dieb!“ eingeordnet werden.
Folgende Taktiken werden in dem Text der Zeit beispielhaft fortgeführt: die pauschale Behauptung, Kritiker der Corona-Politik seien alles „Querdenker“, wobei oft offenbleibt, ob Organisationen gemeint sind, die den Begriff im Namen tragen, oder einfach Bürger, die Schulschließungen ablehnten. Daran kann dann die pauschale Behauptung anschließen, Querdenker seien alles radikale Spinner, denn es gebe dort Personen wie Attila Hildmann. Radikale Akteure wie Hildmann sind zwar in der realen Betrachtung der Folgen der Lockdown-Politik relativ bedeutungslos, aber sie wurden von vielen Medien zu relevanten Bedrohungen aufgeblasen.
Als Summe dieser unredlichen Verknüpfungen können dann (bis heute) alle Bürger, die die unangemessenen und teils gefährlichen Corona-Maßnahmen mit sehr guten Argumenten kritisiert haben, als radikale Spinner abgetan werden, die zumindest auch im Geiste von Figuren wie Hildmann handelten. Im Umgang mit diesen „Spinnern“ müssen dann keine Regeln des Anstands mehr gelten. Solche zerstörerischen, stillen Übereinkünfte haben sich während der Corona-Kampagne endgültig etabliert, etwa dass medizinische Betrachtungen unhinterfragt als „rechtsradikal“ eingeordnet werden können oder dass ganze Gruppen pauschal einer harten Diffamierung ausgesetzt werden „dürfen“, weil sie die falsche Meinung vertreten.
Dass Kritik an den unangemessenen Corona-Maßnahmen nicht die Existenz dieses für bestimmte Gruppen gefährlichen Virus bestreitet, ist selbstverständlich. Ebenso, dass es meiner Meinung nach prinzipiell Situationen geben kann, in denen eine Lockdown-Politik möglicherweise als angemessen betrachtet werden kann.
Allzweckwaffen im Meinungskampf
Dass ich mich von den sich selber als „Querdenker“ bezeichnenden Organisationen politisch nie vertreten gefühlte habe, habe ich an vielen Stellen geschrieben. Auf der anderen Seite wende ich mich aber gegen die viel zu pauschale Diffamierung dieser Gruppen. Zu einigen dieser Punkte hatte ich im Artikel „‚Querdenker‘: Ein Kampfbegriff als Allzweckwaffe“ geschrieben:
„Die Verknüpfung von gesundheitlichen Themen mit dem Attribut ‚rechtsextrem’ muss als propagandistisches Meisterstück bezeichnet werden. Ebenso die unseriösen, aber medial geglückten Verallgemeinerungen: Inzwischen kann man als Journalist fast ungestraft alle Kritiker der Corona-Politik pauschal als ‚Querdenker’ bezeichnen – durch die vorgelagerte giftige Propaganda schwingen dann Beleidigungen als ‚verrückt‘ oder ‚extremistisch‘ unausgesprochen mit. Gleichzeitig wurde es medial etabliert, dass ‚Querdenker’ pauschal unter Naziverdacht stehen. Durch diese beiden unseriösen und unzutreffenden Verallgemeinerungen und Verknüpfungen ist ein weites Feld der ‚Kontaktschuld‘ eröffnet worden: Der Kampfbegriff ‚Querdenker‘ kann nun als Allzweckwaffe genutzt werden.“
Solche Praktiken der pauschalen und gruppenbezogenen Diffamierungen empfinde ich als viel rechtsradikaler als die seriöse Kritik an Schulschließungen, maskierten Kindern, zum einsamen Sterben verdammten Alten, evidenzlosen Lockdowns und einer bis dahin beispiellosen Enthemmung in der Meinungsmache – eine Enthemmung, die nicht etwa wieder eingefangen werden soll, sondern mit Kommentaren wie dem in der Zeit fortgeführt wird und auf andere Themenbereiche ausgeweitet wurde.
Ich bin in diesem Zusammenhang kürzlich in diesem Artikel kritisch auf einen Beitrag in der Berliner Zeitung eingegangen. Ich möchte hier aber betonen, dass mir die Berliner Zeitung oft sehr positiv im Sinne von Meinungsvielfalt auffällt und ich diese Entwicklung des Blattes prinzipiell sehr begrüße.
„Freies Geleit“ oder strenges Tribunal?
Ich habe nur sehr wenig Hoffnung auf eine echte Aufarbeitung – zu viele Bürger wurden indirekt zu „Komplizen“ der Corona-Politik gemacht, sie fürchten die Beschämung. Ich bin darum inzwischen der Meinung, dass man auf die Drohung mit juristischen und moralischen Abrechnungen verzichten sollte, wenn im Gegenzug das Bekenntnis erfolgt, dass man sich einig ist, dass sich eine solche zerstörerische Dynamik auf keinen Fall wiederholen darf.
Zugespitzt: Die Gesellschaft gewährt freies Geleit für die Verantwortlichen der Corona-Politik (juristisch und moralisch) – als Gegenleistung räumen diese Verantwortlichen laut und eindeutig ein, dass die Corona-Politik (im besten Fall) ein schwerer Irrtum war, der sich nicht wiederholen darf.
Das erscheint vielleicht unbefriedigend, aber mir ist dieses Bekenntnis für die Zukunft wichtiger als eine juristische Abrechnung mit der Vergangenheit (die ich mir selbstverständlich auch wünschen würde). Beides gleichzeitig zu erreichen, erscheint mir unrealistisch. Aber vielleicht täusche ich mich auch und gerade eine Verhinderung der Wiederholung bedingt umso mehr einer strengen Aufarbeitung?
Geschlossen werden soll dieser Text mit den ruhigen Worten des inzwischen verstorbenen, aber nicht vergessenen Gunnar Kaiser:
Titelbild: fizkes / Shutterstock