Nur echtes Mitleid führt zum Frieden. Doch selbst Kirchenfürsten hielten sich manches Mal nicht an diese Botschaft. Wer zu der vernunftgeleiteten Einsicht kommt, dass es Sicherheit nur gemeinsam und nicht gegeneinander geben kann, wird erkennen, dass die gegenwärtige Politik weder in der Ukraine noch in Nahost zum Frieden führen kann. Von Oskar Lafontaine.
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Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das ist die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens, auf den sich viele in der westlichen Wertegemeinschaft berufen. Die Bibel geht noch weiter: „Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, welche euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid.“
Nächsten- und Feindesliebe sind im Wertewesten unterentwickelt. Selbst die Kirchenfürsten hielten sich nicht an die Botschaft des Christentums. Als Hitler die Sowjetunion überfiel, sah der Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger in der Sowjetunion „einen Tummelplatz von Menschen, die durch ihre Gottesfeindlichkeit und durch ihren Christenhass fast zu Tieren entartet“ seien. Und der geistige Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche schrieb: „Sie haben, mein Führer, die bolschewistische Gefahr im eigenen Land gebannt und rufen nun unser Volk und die Völker Europas zum entscheidenden Waffengang gegen die Todfeinde aller Ordnung und aller abendländisch-christlichen Kultur auf.“
„Kriegerischste Nation der Welt“
Heute ist es unvorstellbar, dass sich die beiden christlichen Kirchen in ähnlicher Weise äussern würden. Aber sie unterstützen gleichwohl die Lieferung von Waffen in die Ukraine, mit denen wieder Russen getötet werden. In den USA, der Führungsmacht des Westens, der „kriegerischsten Nation der Welt“ (Jimmy Carter), sind 41 Prozent der Bevölkerung Anhänger einer protestantischen Glaubensgemeinschaft. Im amerikanischen Kongress, der von der amerikanischen Waffenindustrie gesteuert wird und jährlich den höchsten Kriegsetat der Welt verabschiedet, bekennen sich 90 Prozent der Abgeordneten zum christlichen Glauben.
Nun muss sich nicht jeder von der Nächsten- oder Feindesliebe leiten lassen, aber ohne ethische Grundsätze geht es nun einmal nicht. Ohne sie gibt es auch keine regelbasierte Ordnung, von der so oft in den westlichen Staaten die Rede ist. Es genügt schon, die in allen Weltreligionen gültige Regel zu beherzigen: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füge auch keinem andern zu.“ Oder zu der vernunftgeleiteten Einsicht zu kommen, dass es Sicherheit nur gemeinsam und nicht gegeneinander geben kann. Dann wird man erkennen, dass die gegenwärtige Politik weder in der Ukraine noch in Nahost zum Frieden führen kann.
Ethik setzt Mitfühlen voraus, das Mitleiden mit dem anderen. Mitleid ist unteilbar, es unterscheidet nicht zwischen Religionen und nationalen Zugehörigkeiten. Wenn man sich die Erklärungen und Berichte zum Ukraine-Krieg und zum Krieg im Nahen Osten vor Augen führt, dann erkennt man, dass viele Politiker und Diskussionsteilnehmer zum Mitleiden nicht fähig sind. Sie instrumentalisieren ihr vorgebliches Mitleid, um Hass und Aggressionen gegen eine Seite zu schüren. Und diejenigen, die das Mitleid mit allen Opfern einfordern, werden beschimpft und mit Vorwürfen überhäuft.
Als die Schauspielerin und ehemalige Sondergesandte des Uno-Flüchtlingskommissars, Angelina Jolie, sagte, die von ihr deutlich verurteilten Hamas-Terroranschläge in Israel rechtfertigten nicht die unschuldigen Opfer der Bombenangriffe im Gazastreifen: „Die Menschlichkeit verlangt einen sofortigen Waffenstillstand. Palästinensisches und israelisches Leben – und die Leben aller Menschen weltweit – sind gleichermassen wichtig“, schrieb der Spiegel: „In den Kommentaren dazu gibt es nur wenig Verständnis für Jolies Bemühen um eine Position, die eine Eskalation verhindern möchte. Sowohl Unterstützer Israels als auch von Palästina werfen ihr vor, nicht genug Solidarität zu zeigen.“
Hier offenbart sich das weitverbreitete geheuchelte Mitleid, das auch zu den berühmten Doppelstandards bei der Beurteilung der Kriege und Kriegsverbrechen führt. Ein weiteres Beispiel: Vor mehreren 100.000 Teilnehmern sagte der türkische Präsident Erdogan an die Adresse des Westens: „Ihr habt um die getöteten Kinder in der Ukraine getrauert, warum schweigt ihr angesichts der getöteten Kinder im Gazastreifen?“ Den Terror der Hamas verurteilte er nicht. Vielmehr sieht er in der palästinensischen Terrororganisation „eine Gruppe von Befreiern“.
Einer der grössten Fehler der Weltpolitik
Die Unfähigkeit zum wirklichen Mitleiden kennzeichnete die deutsche Nachkriegszeit, wenn es darum ging, die Verbrechen der Nazizeit aufzuarbeiten. Die Erinnerung an die Schoah, an die Ermordung von sechs Millionen Juden, war allgegenwärtig. Die Sicherheit Israels erklärte die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zur deutschen Staatsraison; auch Bundeskanzler Olaf Scholz bekennt sich zu diesem Satz. In Hitlers Vernichtungskrieg verloren aber auch 25 Millionen Bürger der Sowjetunion ihr Leben, darunter viele Millionen Russen. Ungezählte verhungerten in den deutschen Gefangenenlagern. Verpflichten diese Toten uns zu nichts?
So, wie es unvorstellbar ist, dass wir eines Tages wieder Waffen liefern, mit denen Juden getötet werden, so sollte es unvorstellbar sein, dass wir Waffen liefern, mit denen wieder Russen getötet werden. Die Instrumentalisierung des Mitleids ist einer der grössten Fehler der Weltpolitik. Sie führt zu Hass und Zerstörung und verhindert den Frieden.
Oskar Lafontaine ist ehemaliger Vorsitzender der SPD und Finanzminister Deutschlands a. D.
Dieser Artikel ist eine Übernahme von der „Weltwoche“ Nr. 44.23.