Seit Februar 2023 verfasst der ukrainische Oppositionelle und Jurist Maxim Goldarb (Union der Linken Kräfte) regelmäßig für die NachDenkSeiten Artikel zur Lage in seiner Heimat unter der Rubrik „Stimmen aus der Ukraine“. Er schrieb unter anderem über Korruption im Verteidigungsministerium, zunehmende totalitäre Tendenzen, die brutale Verfolgung jeder Art von linker Opposition, die voranschreitende Auflösung des Rechtsstaates und sprach sich für Friedensverhandlungen aus. Nun erreichte uns ein Hilferuf von ihm, in welchem er schildert, wie nach der letzten Veröffentlichung bei den NDS der ukrainische Geheimdienst SBU seine Wohnung durchsuchte und die Staatsanwaltschaft ihn wegen „Informationstätigkeiten zugunsten des Aggressors“ angeklagt hat. Wir dokumentieren sein Schreiben im Wortlaut.
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Lieber Florian Warweg, liebe Redaktion der NachDenkSeiten,
ich bin Ihnen und Ihrer Publikation dankbar, dass Sie meine Artikel unerschrocken veröffentlicht haben, obwohl die westlichen Regierungen und die meisten Medien eine Politik des Schweigens über die tatsächliche Situation in der Ukraine betreiben.
Vor kurzem haben Sie meinen Artikel darüber veröffentlicht, dass in der Ukraine alle, die mit der Regierung nicht einverstanden sind, zu „Staatsverrätern“ erklärt werden. Nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung dieses Artikels, am 12. Oktober 2023, führte der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) eine Durchsuchung in meiner Kiewer Wohnung durch, bei der persönliche Gegenstände und die Rentenersparnisse meiner Eltern beschlagnahmt wurden, da die Strafbehörden nichts Illegales finden konnten. Dann haben der Sicherheitsdienst der Ukraine und die Staatsanwaltschaft, als ob sie dem Algorithmus folgten, den ich in diesem kürzlich erschienenen Artikel erwähnt habe, mich in Abwesenheit angeklagt, weil ich angeblich Informationstätigkeiten zugunsten des Aggressors begangen und eine Aggression gegen die Ukraine gerechtfertigt habe.
Dem Gericht wurde ein Antrag auf meine Verhaftung und Einweisung ins Gefängnis übermittelt. Gleichzeitig wurde mir das Verdachtsdokument selbst nicht gemäß dem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren ausgehändigt und nicht zugestellt, wodurch meine Rechte auf Verteidigung grob verletzt wurden. Was war die Grundlage für den SBU und die Staatsanwälte, um eine so schwere Anschuldigung zu erheben?
Ernsthafte Beweise für meine Schuld wie operative Daten, nicht klassifizierte Informationen, Ergebnisse von Zeugenbefragungen, Ergebnisse von Telefonabhörungen und Durchsuchungen? Nein. Vielleicht Spionage, Sabotage, Staatsstreich, Mord, Korruption? Auch nein. Denn das war nicht der Fall und könnte es auch gar nicht sein: Als Jurist, als Anwalt, bin ich immer ausschließlich im gesetzlichen Rahmen tätig.
Aber heutzutage braucht man in der Ukraine keine Schuldbeweise mehr, um Oppositionelle strafrechtlich zu verfolgen. Es genügt, in sozialen Netzwerken Äußerungen über die Ursachen und Folgen des Krieges in der Ukraine zu veröffentlichen, die von offiziellen Positionen ukrainischer Behörden abweichen.
Worüber habe ich also in meinen Artikeln, Beiträgen in sozialen Netzwerken, Reden und Interviews gesprochen?
- Ich habe über die Notwendigkeit einer sofortigen Einstellung der Kampfhandlungen und den Beginn von Friedensgesprächen gesprochen.
- Ich habe über die sich anbahnende nukleare Katastrophe geschrieben.
- Ich habe auf die Nutznießer des Krieges in der Ukraine hingewiesen, in erster Linie auf die Oligarchie und den militärisch-industriellen Komplex.
- Ich habe über die unvorstellbare Korruption in der Ukraine und insbesondere im Militär geschrieben.
- Ich habe offen über das Aufblühen des Neonazismus in meinem Land gesprochen.
- Ich habe historische Parallelen gezogen, um sie mit den heutigen Umständen zu vergleichen.
Ich schrieb und sprach über all das, was in der Ukraine, in den Vereinigten Staaten, in Europa und überall auf der Welt schon lange bekannt ist.
Doch in der heutigen Zeit ist eine solche Meinungsäußerung in der Ukraine ein Gedankenverbrechen, eine schwere Sünde in den Augen der gegenwärtigen Regierung, weil Dissens, Objektivität und Wahrheit die Grundlage ihrer Macht untergraben. Dies wird in der heutigen Ukraine mit der obligatorischen Verhaftung ohne Haftbefehl, bis zu 15 Jahren Gefängnis und der Konfiszierung des gesamten Eigentums geahndet.
Meine politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung ist ein bezeichnendes Beispiel für die Gesetzlosigkeit und die systematisch aufgebaute repressive Politik des Selenskyj-Regimes, die meiner Einschätzung nach auf die vollständige Vernichtung von Dissens und Opposition in der Ukraine und die Errichtung einer Diktatur abzielt.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen, wenn die Opposition in der Ukraine verboten und verfolgt wird, wenn die ukrainischen Oppositionsmedien geschlossen sind, die verbliebenen nur noch offizielle Propaganda verbreiten, wenn das Gesetz in der Ukraine nicht gilt und die Menschenrechte von den Behörden systematisch und demonstrativ verletzt werden, ist die Unterstützung und gegenseitige Hilfe von anständigen und aktiven Menschen unerlässlich.
Heute brauchen ich und die Ukraine als Ganzes mediale und menschliche Unterstützung wie nie zuvor, in welcher Form sie auch immer zum Ausdruck kommen mag:
- Veröffentlichung dieses Schreibens;
- Unterstützung bei der Verbreitung dieser Informationen in allen möglichen anderen Massenmedien;
- Appell an Menschenrechtsorganisationen, die Regierungen und Parlamente Deutschlands, Österreichs und anderer Länder, sich der Kampagne zur Verteidigung der Redefreiheit und der Demokratie in der Ukraine anzuschließen;
- jede andere Form der Unterstützung, die Sie für möglich halten.
Vielen Dank!
Mit den besten Grüßen
Maxim Goldarb,
Vorsitzender der Partei „Union der linken Kräfte – Für einen neuen Sozialismus“
Hintergrundinformationen zur Person von Maxim Goldarb und der Partei „Union der linken Kräfte“:
Maxim Goldarb ist aktuell Vorsitzender der „Union der linken Kräfte“ und war vor dem Maidan-Putsch leitender Rechnungsprüfer und Kontrolleur der Finanzen des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Die Union der linken Kräfte ist eine 2007 gegründete ukrainische Oppositionspartei, die sich am Demokratischen Sozialismus orientiert und unter anderem zum Ziel hatte, die ausufernde Privatisierung strategischer Staatsunternehmen sowie den Verkauf landwirtschaftlicher Flächen an ausländische Großkonzerne zu stoppen sowie die Ukraine geopolitisch neutral auszurichten. Zudem setzte sie sich für Russisch als zweite Amtssprache und eine Stärkung des ländlichen Raums ein. Diese Ziele reichten aus, dass die Partei zusammen mit weiteren linken Parteien am 17. Juni 2022 verboten und ihr gesamtes Vermögen enteignet wurde. Ihre Mitglieder arbeiten seit diesem Zeitpunkt aus dem Untergrund oder Exil heraus. Einige ihrer Führungspersönlichkeiten wurden in den letzten Monaten entführt und gelten seitdem, wie beispielswiese der Parteigründer Wassilij Wolga, als spurlos verschwunden.
Anmerkung der Redaktion: Maxim Goldarb bezieht sich in seinem Schreiben explizit auf Florian Warweg, da dieser in unserer internen Aufteilung der Betreuung der verschiedenen Gastautoren redaktionell für Herrn Goldarb zuständig und daher sein direkter Ansprechpartner ist.
Titelbild: Maxim Goldarb
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