Artikel 51 der UN-Charta legitimiert das Selbstverteidigungsrecht eines Staates nur im Fall des Angriffs durch einen anderen Staat. Dies zudem nur, bis der UN-Sicherheitsrat über die getroffenen Maßnahmen informiert und eine Entscheidung über deren Recht- wie Verhältnismäßigkeit getroffen wurde. Doch weder der Gazastreifen noch die Hamas gelten im völkerrechtlichen Verständnis als staatliche Akteure. Die immer wieder von der Bundesregierung wiederholte Rechtfertigung, Israel habe nach den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober das „völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung“, kann also zumindest nicht über Artikel 51 legitimiert werden. Vor diesem Hintergrund fragten die NachDenkSeiten bei der Bundespressekonferenz nach. Der Antwortversuch des Auswärtigen Amts geriet nicht wirklich überzeugend. Von Florian Warweg.
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Egal ob Tausende Wohngebäude zerstört, Tausende Kinder getötet oder UN-Schulen und medizinische Einrichtungen im Gazastreifen dutzendfach von der israelischen Armee bombardiert werden, die Standardantwort der Bundesregierung auf Fragen, ob dieses Vorgehen völkerrechtskonform ist, lautet seit rund drei Wochen:
„Israel hat das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen diesen massiven Terrorangriff der Hamas zu verteidigen.“
Wie sieht es aber ganz konkret mit dem „völkerrechtlich verbrieften Recht“ Israels aus, auf das die Bundesregierung so oft in den letzten Wochen verwiesen hat? Wie bereits ausgeführt, ist dies im Völkerrecht im Fall des aus Gaza erfolgten Angriffs mitnichten so klar geregelt, wie es Auswärtiges Amt und Bundeskanzler behaupten, da Hamas als nichtstaatlicher Akteur gilt, und laut Artikel 51 der UN-Charta nichtstaatliche Akteure keine Angriffe im Sinne des Völkerrechts ausführen. Wenn eine Tat wie die am 7. Oktober keinem souveränen Staat zugeordnet werden kann, dann gilt dies im völkerrechtlichen Verständnis nicht als militärischer Angriff, sondern als Terrorakt. Das macht in der völkerrechtlichen Bewertung einen enormen Unterschied hinsichtlich der Legitimation beim Einsatz von Streitkräften und entsprechenden Waffensystemen.
Im Falle des Gazastreifens kommt noch ein anderer Aspekt hinzu. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die übergroße Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft, darunter auch die USA und die Bundesregierung, bezeichnen den Gazastreifen ebenso wie Ostjerusalem und die Westbank als „von Israel besetzte Gebiete“. Diese Einschätzung bezüglich des Gazastreifens bestätigte das Auswärtige Amt erst kürzlich gegenüber den NachDenkSeiten, nachlesbar direkt in den Protokollaufzeichnungen vom 11. Oktober des AA:
„Wir sprechen von den besetzten palästinensischen Gebieten.“
Zahlreiche Völkerrechtler und Politologen weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass, wenn der Gazastreifen als völkerrechtlich besetzt gilt, dies „weitreichende Konsequenzen“ in der Bewertung des Ausmaßes der völkerrechtlich legitimierten militärischen Maßnahmen durch Israel habe. So verweist etwa der an der walisischen Swansea-Universität lehrende Politologe Dennis R. Schmidt gegenüber dem FREITAG (Ausgabe vom 19. Oktober 2023) darauf, dass das Völkerrecht das Recht zum Gewalteinsatz von Besatzungsmächten massiv einschränkt und diesen zudem „vielfältige Pflichten“ hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern auferlegt.
Vor diesem skizzierten völkerrechtlichen Panorama fragten die NachDenkSeiten auf der Bundespressekonferenz nach und wollten vom Auswärtigen Amt wissen, welcher konkrete Artikel in der UN-Charta die aktuellen „Selbstverteidigungsmaßnahmen“ Israels legitimiere und ob das AA, da es den Gazastreifen als „besetztes Gebiet“ bewertet, auch die damit einhergehenden völkerrechtlichen Begrenzungen des Gewalteinsatzes gegeben sieht:
Protokollauszug von der Bundespressekonferenz am 23. Oktober 2023:
Frage Warweg
Sie haben ja noch einmal betont, Israel habe ein völkerrechtbasiertes Recht auf Selbstverteidigung. Gleichzeitig haben Sie auch immer wieder von den Terrorangriffen gesprochen. Jetzt ist ja das allgemeine Verständnis zumindest in Bezug auf Artikel 51 der UN-Charta, dass das ausschließlich Bezug auf den Angriff staatlicher Akteure nimmt. Mich würde interessieren: Sieht die Bundesregierung dieses von Ihnen erwähnte Selbstverteidigungsrecht in Bezug auf Artikel 51, oder greifen angesichts dessen, dass es sich bei der Hamas und dem Gazastreifen ja nicht um einen staatlichen Akteur gehandelt, ein anderes Kapitel oder ein anderer Artikel in der UN-Charta?
Fischer (AA)
Ich glaube, es ist unbestritten, dass dieser umfassende Terrorangriff, den die Hamas mit mehr als 1.400 Toten, deutlich mehr als 100 Verschleppten und vielen, vielen Verletzten gegen Israel geführt hat, völkerrechtlich das Recht auf Selbstverteidigung auslöst. Dieses Selbstverteidigungsrecht muss natürlich im Rahmen des Völkerrechts ausgeübt werden. Ich habe in den letzten Tagen auch niemanden gesehen, der das in irgendeiner Weise bestritten hätte.
Zusatzfrage Warweg
Zum einen gibt es zahlreiche Völkerrechtler, die tatsächlich hinterfragen, ob zumindest Artikel 51 in diesem Fall eines nichtstaatlichen Akteurs greift.
Eine weitere Frage: Sowohl Ihr Kollege als auch Frau Hoffmann haben bei meiner letzten Frage diesbezüglich gesagt, dass die Bundesregierung nach wie vor den Gazastreifen, Ostjerusalem und auch die Westbank als von Israel besetztes Gebiet bezeichnet. Jetzt sieht das Völkerrecht für Gewaltanwendung durch die Besatzungsmacht noch weit stärkere Limitationen vor. Da würde mich auch interessieren: Sieht das AA Israel als Besatzungsmacht im Gazastreifen an und infolgedessen auch die vom Völkerrecht etablierten, weit stärkeren Begrenzungen, was den Gewaltansatz angeht, auch im Falle einer Selbstverteidigung?
Fischer (AA)
Ich glaube, diese Frage ist hier jetzt schon mehrmals diskutiert worden, und ich habe ihr nichts hinzuzufügen.
Anmerkung der Redaktion: Im Gegensatz zur Darlegung des AA-Sprechers war die Thematik, dass wenn – was die Bundesregierung tut – der Gazastreifen als von Israel „besetztes“ Territorium bewertet wird, ganz andere völkerrechtliche Mechanismen greifen, erstmals am 23. Oktober angesprochen worden.
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 23. Oktober 2023