Dass der Parteiaustritt der zehn Abgeordneten rund um Sahra Wagenknecht bei der Linkspartei die Emotionen hochkochen lässt, ist verständlich. In einer gemeinsamen Erklärung sprachen die drei direkt gewählten Linken-Abgeordneten Lötzsch, Pellmann und Gysi gestern von einem „höchst unmoralischen Diebstahl“ der Mandate. Subjektiv mögen die drei dies so sehen. Anders sieht das bei den Journalisten auf der gestrigen Pressekonferenz aus, für die die Frage der Mandatsmit- oder -übernahme ebenfalls das wichtigste Thema war. Das Grundgesetz und das Parteiengesetz sehen dies jedoch diametral anders. Fraktionsaustritte und Fraktionswechsel hat es im Bundestag schon immer gegeben – teils mit historischen Folgen. Der Ruf nach einen Mandatsverzicht ist jedoch neu und zeigt einmal mehr, wie weit diejenigen, die dies fordern, sich bereits innerlich von den demokratischen Vorstellungen des Grundgesetzes verabschiedet haben. Von Jens Berger.
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Artikel 38 Grundgesetz
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
In Deutschland werden nicht Parteien, sondern Personen gewählt. Das gilt für die Direktkandidaten, aber genauso für die über die Zweitstimme gewählten Kandidaten, die auf den Landeslisten stehen. Diese Listen werden zwar von den Parteien zusammengestellt und dabei geht es nicht immer demokratisch zu. Am Ende macht der Wähler jedoch sein Kreuz nicht bei einer Partei, sondern bei einer Liste von Kandidaten. Diese Unterscheidung ist wichtig; wäre es anders, wäre dies ein klarer Verstoß gegen Artikel 38 des Grundgesetzes. Richtig ist jedoch, dass die Parteien diese Trennung in der Praxis nicht immer klar kommunizieren und schon gar nicht klar danach handeln und „ihre“ Abgeordnete gerne als Verfügungsmasse betrachten.
Dabei würde ein kurzer Blick auf die Geschichte des Bundestages schon reichen, um diese Vorstellungen geradezurücken. Vor allem in den ersten beiden Bundestagen, die sich 1949 und 1953 konstituiert haben, waren Ein- und Austritte sowie Wechsel innerhalb der Fraktionen eine Normalität. Später verfestigte sich die Einheit von Partei- und Fraktionszugehörigkeit zwar, aber spätestens im Vorfeld der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 wurden derartige Wechsel zu einem brisanten Politikum. Seit 1969 regierte Willy Brandts SPD mit einer relativ knappen Mehrheit zusammen mit der FDP. Im Laufe der Legislaturperiode verließen jedoch jeweils vier Abgeordnete der SPD und der FDP ihre Fraktionen aus Protest gegen die neue Ostpolitik, schlossen sich der CDU/CSU-Fraktion an und brachten so die Mehrheit der regierenden Koalition ins Wanken. Dies führte später nach einem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt zu den vorgezogenen Neuwahlen 1972, in denen die SPD ihr historisch bestes Ergebnis erzielte.
Zu den Hintergründen ist Albrecht Müllers Buch „Willy wählen ´72“ zu empfehlen, in dem er (Seite 19ff) auch auf die Fraktionswechsel eingeht.
Doch obgleich die Fraktionswechsel damals die maximal mögliche Folge des Verlusts der Regierungsmehrheit hatten, kam seinerzeit niemand auf die Idee, die Renegaten aufzufordern, ihr Mandat abzugeben und an einen Nachrücker abzutreten. Warum auch? So schmerzlich die Übertritte für die SPD – und auch die FDP – waren, so klar war es auch, dass diese Abgeordneten keine Verfügungsmasse der Parteien, sondern Abgeordnete sind, die nicht an Weisungen der Partei gebunden sind.
Die Trennung von Mandat und Parteizugehörigkeit geht in den maßgeblichen Gesetzen so weit, dass es jedem Abgeordneten ausdrücklich gestattet ist, aus einer Partei auszutreten und in eine andere Partei einzutreten, ohne deshalb den Anspruch auf sein Mandat zu verlieren. Die Enquetekommission des Bundestages und der wissenschaftliche Dienst des Bundestages haben dies auch genauso festgestellt.
Auch später gab es immer wieder Fraktionsaus- und -übertritte. Bekannt könnte beispielsweise der Wechsel von Vera Lengsfeld im Jahre 1996 von der Grünen-Fraktion zur Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU oder der Fraktionsaustritt des Linken-Abgeordneten Wolfgang Neskovic im Jahre 2012 sein. Gab es damals eine Debatte darüber, dass Lengsfeld oder Neskovic ihr Mandat zurückgeben sollten?
Haben Sie sich eigentlich gestern auch darüber gewundert, dass selbst den „Experten“ der Öffentlich-Rechtlichen nicht immer klar war, wie viele Fraktionsaustritte es benötigt, dass die Linkspartei ihren Fraktionsstatus verliert? Die richtige Antwort ist: „einer“. Verantwortlich dafür ist der Linken-Abgeordnete Thomas Lutze, der bereits vor zwei Wochen aus der Linkspartei ausgetreten und in die SPD eingetreten ist – Fraktionswechsel inklusive. Das SPD-Parteibuch gab es dafür aus der Hand eines strahlenden Kevin Kühnert. Haben Gysi und Co. eigentlich auch Lutze des „unmoralischen Diebstahls“ eines Mandats bezichtigt? Die SPD ist zumindest froh und kann sich sehr gut vorstellen, neben Lutze auch andere „vernünftige“ Abgeordnete der Linksfraktion in ihren Reihen willkommen zu heißen – die Abgeordneten rund um Sahra Wagenknecht sind damit wohlweislich nicht gemeint. Ist das nicht Aufforderung zum „unmoralischen Mandatsdiebstahl“? Aus den Medien, deren Vertreter gestern derartige Vorwürfe in Richtung von Wagenknecht und Co. erhoben, gab es zumindest keine Kritik an der Offerte der SPD. Offenbar sind Mandate nur dann Verfügungsmasse der Partei und ein Fraktionswechsel kritikwürdig, wenn es die „falschen“ Renegaten betrifft. Wenn „vernünftige“ Ex-Linken-Abgeordnete zur „vernünftigen“ SPD wechseln, ist dies anscheinend aber was ganz Anderes.
„Sie sind nur durch uns drei und durch die Partei DIE LINKE in den Bundestag eingezogen“, so tönen Lötzsch, Pellmann und Gysi in Richtung Wagenknecht. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik. Wie viele Stimmen haben diese drei Abgeordneten eigentlich von Wählern erhalten, die sie nur gewählt haben, weil sie die Linkspartei bei den letzten Wahlen immer noch mit dem programmatischen Kurs des Wagenknecht-Flügels assoziierten? Das dürfte vor allem beim Direktmandat des Leipziger Abgeordneten Sören Pellmann von Bedeutung sein, hatte er sich doch im Wahlkampf klar als Wagenknecht-Anhänger positioniert und dafür sogar mächtigen Ärger mit den Wagenknecht-Gegnern in seiner Partei bekommen. Nach den Wahlen vollzog er die Wende und reihte sich in den Parteimainstream ein. Wie viele Leipziger haben Pellmann gewählt, weil sie ihn ernsthaft als Vertreter des Wagenknecht-Flügels wahrgenommen haben? Hätte er das Direktmandat gewonnen, wenn er sich schon damals derart scharf von Wagenknecht distanziert hätte? Wohl nicht. Und ohne sein Mandat wäre kein einziger linker Abgeordneter in den Bundestag eingezogen, da die Partei bekanntlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte und nur wegen der drei gewonnenen Direktmandate überhaupt in den Bundestag einzog.
Zugegeben. Auch das ist viel „hätte“ und „würde“ und spekulativ; jedoch nicht weniger spekulativ als so manche Äußerung aus dem Bundesvorstand der Linkspartei, die darauf abzielt, die zehn Abgeordneten rund um Sahra Wagenknecht zur Mandatsabgabe zu drängen. Schwerer als die ungebremste Lust zur Spekulation wiegt jedoch das offen zutage getragene Demokratie(miss)verständnis, das aus diesen Äußerungen herauszulesen ist. Nimmt man Gysi und Co. und den Parteivorstand beim Wort, so betrachten sie die Mandate ihrer Abgeordneten als Mandate der Partei. Das sieht das Grundgesetz jedoch diametral anders und das ist auch gut so. Die mangelnde Unterscheidung zwischen Mandatsträger und Partei ist schließlich mitverantwortlich für die Vertrauenskrise, in der die parlamentarische Demokratie derzeit steckt. Ob sich Gysi und Co. dieses Zusammenhangs eigentlich bewusst sind?
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Titelbild: Screenshot Gregor Gysi auf Instagram