Republik Europa – Einstiegsdroge in die EU?

Republik Europa – Einstiegsdroge in die EU?

Republik Europa – Einstiegsdroge in die EU?

Ein Artikel von Ulrike Guérot

Ulrike Guérots Ideen zur Zukunft der EU und der europäischen Integration wurden viele Jahre lang von denen missbraucht, die ganz andere Vorstellungen haben. In der politischen Linken werden zu diesen Themen seit Jahren unproduktive Diskurse geführt. In der Öffentlichkeit kommt die Debatte selten an. Das ist verständlich, ist das Thema doch komplex und die real existierende EU lädt nicht gerade dazu ein, europäische Utopien zu entwickeln. Ulrike Guérot hat nun in einem Aufsatz für die NachDenkSeiten ihre Positionen zum Thema präzisiert. Eine interessante Lektüre für alle, die sich gerne hintergründiger mit der Thematik beschäftigen wollen.

Au XXe siècle il y aura une nation extraordinaire (…) elle s’appellera Europe… Un jour viendra où la France, vous Russie, vous Italie, vous Angleterre, vous Allemagne, vous toutes, nations du continent, sans perdre vos qualités distinctes et votre glorieuse individualité, vous vous fondrez étroitement dans une unité supérieure, et vous constituerez la fraternité européenne.“
(Discours von Victor Hugo, Congres de la Paix 1849)

1. Eine Idee im innerparteilichen Intrigensumpf

Als ich vor vielen Jahren (2016) die „Republik Europa“ einmal neu ins Gespräch bzw. in die europäische Diskurslandschaft gebracht hatte (bis dato hangelte sich die Debatte um Europa immer an der „Föderation“ entlang), konnte ich – noch selber unerfahren im „unpolitischen Raum der Partei-Politik“ und ihrer Intrigen – nicht mal erahnen, in welchen ideologischen Schlingpflanzen sich dieser Begriff verfangen würde. Die Grünen jubelten mich hoch und übernahmen die „Perspektive einer föderalen Europäischen Republik“ 2018 in ihre allmählich aufs EU-Format geschrumpfte Programm-Rhetorik. In der Linkspartei tobte bis zu ihrem Bonner Parteitag 2019 ein Streit, von dem die FAZ am 24.2.2019 schrieb, die „Republik Europa“ sei klares „Signal für eine weitaus machtvollere Europäische Union“. Und zwar für jenen „Reformerflügel“ in der Partei, der die „Republik Europa“ nur als Einstiegsdroge für ein Einschwenken auf Euro und Lissabonvertrag zu nutzen suchten gegen solche, die, wie Oskar Lafontaine, in der EU militaristische, undemokratische und unsoziale Entwicklungen auf dem Vormarsch sahen und das EU-Primärrecht scharf kritisiert hatten.

Die zahlreichen Auseinandersetzungen und zugegebenermaßen ebenso schmerzhaften Inanspruchnahmen haben bei mir dazu geführt, den ursprünglich von links stammenden Begriff der „Republik“ , der zentral die liberté mit der égalité verknüpft – allmählich zu präzisieren und teilweise auch zu imprägnieren gegen taktische Instrumentalisierung. Im Kern geht es um den Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit, Grundfeste jeder Demokratie, der sich eben auf alle europäischen Bürger gleichermaßen erstrecken musste, vor allem auch im Bereich des Sozialen. Eine Republik begründen, die sich – unabhängig von Herkunft und Identität – unter teilweise gemeinsames Recht begeben. Ob diese Republik dann föderal oder zentral aufgebaut ist, ist eine nachgeordnete Frage. Republik und Föderation sind also komplementär, nicht gegensätzlich, aber das „Republikprinzip“ ist das oberste Verfassungsprinzip.[1] Dies auf Europa anzuwenden, nachdem die EU seit Jahrzehnten in technokratischen Governance-Strukturen versinkt, die das Ressentiment der europäischen Bürger, vor allem der sozial benachteiligten, gegenüber der europäischen Idee anschwellen lässt, war die zentrale Idee. Kurz: L’Europe sera social ou ne sera pas, Europa wird sozial oder es wird nicht sein, so heißt es schon seit langem im französischen Diskurs. Anders formuliert: Europa wird nur als Republik sozial und demokratisch. Ich fasse diese nachschärfenden Gedanken hier zusammen.

Nichts war mit den Gründungsversprechen der Europäischen Union so häufig zitiert worden wie die Floskel „sui generis“. Die Zusammenkunft der EU-Staaten sollte also etwas völlig Neues sein: kein Föderalismus wie die USA, kein Staatenbund wie die Sowjetunion, keine rein föderale Integration wie die Bundesrepublik mit ihrer Länderkammer.

So neu allerdings sollte das Konstrukt denn dann doch nicht sein, dass nicht zumindest fünf sehr traditierte Werte besonders beim Ringen um eine europäische Verfassung und um den Lissabon-Vertrag immer wieder von linker, sozialdemokratischer und (damals noch) grüner Seite reklamiert wurden:

  1. ein bevölkerungsstarker Staat sollte nicht weniger bevölkerungstarke Nationen unterbuttern können, weder ökonomisch, politisch noch kulturell
  2. sollte die neue Formation ganz Europa umfassen. Einerseits wurde von einem „Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“ geträumt, und andererseits war der Beitritt zur EU auch der Türkei in Aussicht gestellt worden
  3. sollte es ein neuer europäischer Frieden mit mehr als nur einem Nichtangriffspakt werden
  4. – auch weil wir alle, von Lissabon bis Moskau, nolens volens Erben der französischen und russischen Revolutionen sind – sollte bürgerliche Gewaltenteilung das Bündniskonstrukt prägen
  5. es sollte darum also auch ein echter Sozialstaat und damit von Gebrauchswert für werktätige Mehrheiten sein.

Viele Linke haben, wenn sie für Europa schwärmten, diese fünf Werte vornan gestellt. Die Europäische Union hingegen wurde schon in ihrer Gründerzeit regelrecht zum Antagon dieser Verheißungen. Ist es darum notwendig, nun den Traum einer „Republik Europa“ der Ampelrhetorik zu überlassen? Oder ein „Europa souveräner Staaten“ der AfD? Um dann als EU-Kritiker bewegungslos zwischen diesen Antipoden zu verharren?

2. Die fünf leeren Versprechen der EU

Die fünf hier grob skizzierten Werte oder Funktionsmechanismen der EU kranken aber alle daran, dass sie das Spannungsverhältnis zwischen EU und Nationalstaat nicht auflösen, also die Frage nach dem Souverän – wer entscheidet? – nicht beantworten. Unter dem regelmäßigen Scheitern der europäischen Governance-Strukturen – egal, ob in der Bankenkrise oder der Flüchtlingskrise – leiden am Ende besonders die weniger begüterten europäischen Bürger, die keine guten politischen Antworten bekommen und eben nicht – oder bestenfalls indirekt – mitbestimmen. Souverän sind aber am Ende immer nur die Bürger. Die Frage, die sich augenblicklich mit Blick auf die europäischen Entscheidungsstrukturen stellt, ist, ob das Verhältnis zwischen „Staatenunion“ und „Bürgerunion“, jener zweigliedrigen Struktur des Maastrichter Vertrags von 1992, in Richtung Bürgerunion bewegt werden kann: eine Union von Bürgern, die in allen Fragen, eben auch den sozialen Fragen, rechtsgleich sind – also eine „Republik“ – und damit der neoliberalen Unterspülung der Strukturen der EU ein Ende bereitet werden kann. Denn die derzeitige EU-Struktur führt letztlich dazu, dass innerhalb eines Marktes und einer Währung (ohne den Ausgleich von Ab- und Aufwertungen verschiedener Währungen) Staaten gegen Staaten konkurrieren (um Steuervorteile oder soziale Errungenschaften), also europäische Bürger gegen andere europäische Bürger gestellt werde: Bürger aber konkurrieren nicht!

Sicher: Die EU hat Staaten wie Griechenland und andere Südeuropäer – und damit deren untere Dreiviertel – in der Finanzkrise und in der Corona-Epidemie hängen gelassen und untergepflügt. Aber: Reine Nationalstaaten ohne jegliche Verabredung wären doch seit der Bankenkrise 2008 nicht zu weniger und auch nicht zu mehr gelangt! Angesichts der multiplen Krise der Jetztzeit muss also neue Verabredung und neue Verbindlichkeit unter die Völker und über die Regierungen kommen.

Die erste Versprechung ist im Primärrecht der EU, vorsichtig gesagt, ungenügend umgesetzt. Das Einstimmigkeitsprinzip der 27 EU-Staaten ändert nichts daran, wie es Fabio De Masi so richtig formuliert hat, dass wir es eher mit einer „deutschen EU“ als mit einem „europäischen Deutschland“ zu tun haben. Das Europa der mehreren Geschwindigkeiten geht zu Lasten des Südens und stärkte die ökonomische Expansion der transnational agierenden Konzerne – auch der von außerhalb der EU operierenden. Arbeiter-Interessen bleiben besonders außerhalb europäischer Metropolen auf der Strecke, Tarifverträge gehen dramatisch zurück und kleine Unternehmen in landwirtschaftlichen und handwerklichen Sektoren, die weit mehr als 80 Prozent der KMU (nach EU-Definition) ausmachen, sind bereits untergegangen oder kämpfen gegen die Insolvenz. Zwischen europäischen Staaten wachsen zunehmend Strukturen von Failed States unter imperialen Diktaten – wohlbemerkt zwischen den Staaten der EU. Diese Spaltung steht eklatant gegen das erste Versprechen.

Die zweite Verheißung, ganz Europa zu umfassen, war von der EU-Spitze niemals wirklich gewollt. Deswegen umfasst die EU auch nur 450 Millionen Einwohner, während Europa aus über 800 Millionen besteht. Die Option einer integrierten europäischen Türkei bestand nie ernsthaft und das europäische Russland war, solange es sich nicht unterordnet, auch nie gewollt.

Auch der dritte große Traum, der vom Frieden, wurde zunehmend zum Lippenbekenntnis. Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Deutschlands und der NATO auf Jugoslawien – auch Kosovokrieg genannt – gilt Rio Reiser: „Der Traum ist aus!“ Seither liefert die EU nur Brandbeschleuniger in militärische Konflikte. Die Minsker Abkommen I und II waren auch kein EU-Werk als einer ehrlichen Schlichterin, sondern sollten in Wahrheit nur den Waffenbeschaffern der NATO für ukrainische Milizen Atempausen verschaffen, nicht aber den gequälten Menschen im Donbass. Mit dem jetzigen Wirtschaftskrieg gegen Russland, China und andere BRICS-Staaten, mit der Kriegsbeteiligung Deutschlands auf Seiten der Ukraine ist auch die dritte Verheißung gänzlich zum Teufel.

Als dann das Europäische Parlament sich damit abfand, nur über Gesetze zu entscheiden, die ihm zur Abstimmung von Regierungen vorgelegt und erlaubt worden waren, waren auch die von der Französischen Revolution errungenen parlamentarischen Rechte, also die Gewaltenteilung, dahin.

Der Sozialstaat, der im deutschen Grundgesetz (und vielen anderen nationalen Verfassungen nach den Erfahrungen mit wirtschaftlicher Übermacht im Faschismus) eine äußerst kompliziert austarierte Balance-Struktur genießt – über welche besonders der marxistische Jurist Wolfgang Abendroth ausgiebig geschrieben und gegrübelt hatte – hat in dem, was gemeinhin Europäische Verfassung heißt, nicht einmal eine juristische Eingangspforte, implantiert zu werden, wie das der DGB gerne hätte.

Eine Balance zwischen privatem und öffentlich-rechtlichem Eigentum in den 1948/49 hart umstrittenen Formulierungen der Artikel 14 und 15 im Grundgesetz kennt das EU-Primärrecht nicht einmal, geschweige denn die Ableitung, die Option einer demokratischen Vergesellschaftung von Konzernen, beziehungsweise das Streikrecht und andere Sozialstandards verbindlich festzuschreiben. Wer heute soziale Rechte in der EU juristisch erkämpfen möchte, geht in der Regel nicht zum Europäischen Gerichtshof in Straßburg, sondern weicht aus zum Europäischen Gericht für Menschenrechte. Vom Traum eines vereinigten Europas verblieb ein quasistaatlicher Torso, eine aufgehübschte Freihandelszone namens EU.

Nur die miese Eigenart manchen kapitalistischen Staates war übernommen: statt Vereinigung nur entdifferenzierende Vermengung. Er verspricht dem Industriearbeiter nicht Arbeiterrechte, aber einen gemeinsam euphorisierenden Fußballsieg der Nationalmannschaft. Er verspricht der alleinerziehenden Mutter statt sozialstaatlicher Garantien ein bürgerliches Eherecht, das potenzielle Liebhaber bindet. Er verspricht einem gegen die Pleite ankämpfenden Handwerksmeister irgendeine Entbürokratisierung (die am Ende des Tages nur einem mit Steuerberatern bestausgestatteten Konzern zugutekommt).

Wer wirklich integrieren will, muss vorher differenzieren und auseinanderhalten. Und genau das findet an der Wahlurne, in Wahlkämpfen und ihren Prognosen nur selten statt. Die Menschen werden da auf Gesichter und Narrative vereidigt und vermengt, aber nicht mit ihren spezifischen Überlebensinteressen vereinigt.

Das waren aber nie die kleinen Münzen einer „Republik Europa“, die sich an der Eroberung des „Sacre du Citoyen“, der „Weihung des bürgerlichen Daseins“, festmachen würde, wie es der französische Sozialphilosoph Pierre Rosanvallon nennt, eben jene bürgerliche Rechtsgleichheit, die die Essenz einer Republik ist, damit die soziale Not nicht mehr national gegeneinander ausgespielt werden kann. Uns ging es um republikanische Lösungen in Gemeinsamkeit, nach der Ausfindigmachung von Notlagen, soweit diese von einer gewissen soziologischen oder historischen Relevanz waren und sind.

3. Realeuropäischer Fortschritt nur mit Arbeitenden und Mittelschichten

Politische Gemeinsamkeit – und das gilt auch für die so alte und so neue Idee „Republik Europa“ – ist nur zu erreichen, wenn zuvor die unterschiedlichen Interessenlagen in ihrer Diversifizität – also nicht in Scheinidentitäten – rational benannt und bekannt wurden: von Klassen und Schichten deren unterschiedlichen Interessenlagen, die sich in unterschiedlich subjektiven Bedürfnissen und Kauflaunen allenfalls chiffrieren. Das mühsame Austarieren von Interessen zwischen Mittelschichten und der großen Mehrheit der arbeitenden Klassen ist nicht durch den Mix diverser Untertanen unter Diktate und Regime transnational agierender Konzerne zu ersetzen.

So waren, um ein Kernstück des Ringens sozialdemokratischer Arbeiterbewegungen zu benennen, praktizierte Streikrechte meistens, schon seit Friedrich Engels und August Bebel, auch von jenen Mittelschichten unterstützt worden, die den Belegschaften aufgrund ihres beruflichen Alltags zugewandt, auch weil sie von der Kaufkraft der Arbeitenden punktuell abhängig waren. Der historische Kampf, zum Beispiel, in Duisburg-Rheinhausen 1987 um den Erhalt der Arbeitsplätze bei der Krupp-Stahl AG wurde von Bäckern, Friseuren und Handwerksmeistern aktiv mitgetragen. Solcherlei Sternstunde gleichsam soziologischer Überschreitung von Schichtgrenzen muss auch künftig transregional und national-staatlich wieder ermöglicht werden, weil die Kapitalseite ebenfalls transnational operiert. Heißt diese nun „Amazon“, so muss die „Republik Europa“ auch multilingual klingen, dort etwa, wo deutsche, polnische und spanische etc. Tarifverträge angestrebt und angesprochen sind. Und übersetzbar auch mithilfe transnational agierender Betriebsräte und Gewerkschaften. Somit würde der traditionelle Diskurs der Aufklärung, aber sozialstaatlich modernisiert, aufgenommen. Und, wie in Rheinhausen, anliegende Mittelschichten dabei mit einbeziehen. Dies wäre ein „Race to the Top“, sozialstaatliche Interessen aufgreifend, die von europäischen Arbeiterbewegungen erkämpft worden waren.

Was aber ist der vorherrschende Trend in dieser EU? Statt die sozialen Standards der unteren drei Bevölkerungsviertel auszuweiten, gibt der EuGH einen „Race to the bottom“ vor. Das EU-Primärrecht stützt in der Regel nicht die Haben–, sondern die Sollseite der Arbeitnehmervertretungen.

4. Statt EuGH: ein soziales europäisches Primärrecht

Es ist mitnichten so, dass der EuGH nur seine Interpretationsspielräume gegen die Mehrheit der arbeitenden Menschen und ihre Organisationen wendet, wie im legendären Urteil 51 und Costas vs. Eni [2]

Denn dies geschieht durchaus auf den primär rechtlichen Grundlagen der EU, welche marktradikale Wirtschaftsordnungen und Regime aus den Nationalstaaten heranzieht und zitiert, um den vier Binnenmarktfreiheiten des Lissabon-Vertrags (Kapital-, Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr) einen Verfassungsstatus erschleichen. Sozialstaatliche Grundrechte sind dagegen nur vage kodifiziert.

Das nationale Recht, dem PiS und AfD publikumswirksam eine Opferrolle andichten, ist dabei keinesfalls rechtsförmig vom europäischen Recht „getoppt“. Dies ist auch dann eine Mär („admendvent Justice“), wenn der EuGH mit seinen arbeitnehmerfeindlichen Urteilskaskaden seit 2004 Kapitalfreiheiten zum Gewohnheitsrecht auszubauen trachtet. Nur allzu bereitwillig nutzen dann deutsche Unternehmen (auch staatliche!) die EU-Billardbande zum Erhalt ihrer nationalen arbeitnehmerfeindlichen Privilegien. Wie beim Rüffert-Urteil (2008 [3]) hatte der EuGH beim Bauauftrag zu einer niedersächsischen Justizvollzugsanstalt die vergaberechtlichen Tariflöhne als Verstoß gegen Dienstleistungsfreiheit und Entsenderichtlinie verurteilt.

Der Arbeitgeber, das Land Niedersachsen, fügte sich eher bereitwillig. Obwohl es ja letztendlich für den EuGH vielleicht eine kraftlose Rüge, aber weder eine Polizei noch andere Justizvollzugsorgane gibt, welche seine Urteile gegen nationale Behörden und Gerichte exekutieren könnten. Und somit wird vieles zur propagandistischen Legendenbildung, dass die EU praktisch über dem Nationalstaat rangiert. Deutsche Eliten nehmen die EU-Diktate eher billigend in Kauf und wie gerne würden sie die Artikel 14, 15 und vor allem 20 etc. im Grundgesetz durch Bestimmungen des Lissabon-Vertrages ersetzen.

2007 hatte der EuGH einen Streik der finnischen Gewerkschaft FSU gegen das Fährunternehmen Viking Lines für unzulässig erklärt, weil die Kollegen dort gegen den miesen Trick aufbegehrt hatten, ihre Löhne unter estnischen Flaggen auf den Schiffen zu dumpen. (Viking-Urteil[4]).

Als eine schwedische Baugewerkschaft 2007 in einem Schulbau-Projekt streikte, weil die lettische Firma Laval nicht nach schwedischem Tarif entlohnen wollte, sah der EuGH darin einen Verstoß gegen die Arbeitnehmer-Entsenderichtlinie (Lawall Urteil[5])

2004 bereits hatte der EuGH dem Staat Luxemburg verboten, Unternehmen vor Lohndumping (im Rahmen von Senderichtlinie und Dienstleistungsfreiheit) zu schützen. (EU-Kommission versus Luxemburg[6])

Die Grundprägung einer „Republik Europa“ darf also kein basisdemokratisches „von unten“ vortäuschen, um damit dann doch in die bestehende EU zu locken, denn sie verfolgt hingegen den konträren Ansatz. Das „von unten“ umfasst zuallererst weniger „Graswurzeln“, als Betriebsrätinnen und Vertrauensleute.

Eine „Republik Europa“ wäre zudem vielmehr den Prinzipien der Subsidiarität verpflichtet. Kompetenzen müssen nicht mechanisch vom Nationalstaat auf die nächsthöhere, die europäische Ebene, gehievt und so dem kritischen Blick der regionalen Wählerschaft entzogen werden. Rechtsgleichheit bedeutet keinen Zentralismus! Besonders dort, wo Landräte und Bürgermeister eine Notlage viel hautnäher evaluieren können. Es ist doch ein Widersinn, wenn über Kreditkonditionen eines Hunsrücker Bäckers für seine Teigmischmaschine eine supranationale Ratingagentur entscheidet und nicht der Bürgermeister mit der örtlichen Sparkasse. Die den traditionellen Bäcker nämlich vor Ort behalten wollen – statt der nächsten „Wiener Feinbäckerei“.

Wirkliche Demokratie beginnt immer mit mehr Einblick und „Einmischung von Menschen in ihre eigenen Angelegenheiten“. Deswegen ist die derzeitige Suche nach dem „anderen Europa“, nach einem demokratischen und sozialen Europa, auch stark von bürgerbasierten, partizipativen Formaten geprägt. Ein Beispiel ist die Initiative Citizens take over Europe, die seit 2020 regelmäßig mittwochs länderübergreifend an einer europäischen Verfassung arbeitet. Ähnlich gelagert die Bemühungen um eine transnationale, permanente European Citizens Assembly, die schon jetzt über einen neuen Europa-Konvent nach den Europa-Wahlen im Juni 2024 nachdenkt.

5. Für ein Europa der Meinungsfreiheit

Auch die mediale Aufklärung und der Kampf für Kultur- und Medien-Alternativen und allgemein zugängliche Gegen-Infos – nicht nur zu Corona, Ukraine und Gendern – muss strittig neu verfasst werden. Das Recht, auch einmal zu irren, gehört zur Meinungsfreiheit – und darf nicht nur Ministern zustehen.

Dies betrifft auch die fatale Entwicklung in der EU, Meinungsfreiheiten einzudampfen. Unter der Überschrift „Verbotene Meinung – bestrafte Gesinnung: Zur Europäisierung des deutschen Zensurregimes“ skizziert der Wiener Verleger Hannes Hofbauer in den „NachDenkSeiten“ vom 4.10.23, wie der „Digital Services Act“ vom November ’22 auf den Spuren deutscher Gesetzes-Verschärfungen seit 2008 einen vorläufigen Höhepunkt für Zensurmaßnahmen darstellt, die zunächst in Deutschland verschärft wurden und hernach EU-weit.

Am 19. März 2023 wurden Filme von Alina Lipp mit dem neu geschaffenen Paragraphen 140 StGB verhindert. Zuvor waren den Kabarettisten Lisa Fitz und Uwe Steimle ihre ARD-Sendungen weggenommen worden, hatten Kayvan Soufi Siavasch, Patrik Baab u.a. den Job verloren wegen unbotmäßiger Kritik an der Corona- und Ukraine-Politik der Bundesregierung. Hofbauer: KenFM und andere mussten unter massiver Zensur „die Pforten schließen und Ken Jebsen floh außer Landes“.

RT war schon vor dem Krieg verboten worden, zunächst in Deutschland, dann EU-weit. „Im Oktober 2018 legte Brüssel einen Verhaltenskodex zur „Bekämpfung von Desinformation“ auf; dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz nachgeahmt. Lösch- und Streich-Orgien nahmen europaweit Fahrt auf. Zugleich griff sich die EU-Kommission die großen Online-Plattformen vor, indem sie für sich selbst und alle Mitgliedstaaten den Zugang zu allen Algorithmen von Facebook und Co. durchsetzte. Sollten die zumeist amerikanischen online-Riesen diese Art von Informationspolitik nicht befolgen, droht ihnen Brüssel mit einer empfindlichen Strafe, die bis zu 6% des Jahresumsatzes betragen kann“ (Hofbauer). Die allermeisten Zensurmethoden werden dabei unter Gebrauch woken Vokabulars durchgestemmt.

Gleichwohl deutet Hofbauer sowohl in seinem Buch („Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte“, Promedia 2022) auch darauf hin, wie „Zensur-Maßnahmen durch … alternative Medien aufgebrochen werden können.“

Es bedarf also perspektivisch einer engen Verschränkung festverankerter Sozialstaatsklauseln mit der Stärkung der Meinungsfreiheit in sozialmedialen Alternativen, somit also einer Kampfansage an Zensur und herrschende Propaganda. Ein anderes Europa ist eben nicht die EU, welche, wie es Oskar Lafontaine & Friends mit Mühe in die einstige Programmatik der nun untergehenden Linkspartei hineingekämpft hatten, „militaristisch, unsozial und antidemokratisch“ ist. Eine Republik Europa ist das Kontrastprogramm.

Titelbild: Wikicommons, Dontworry – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0


[«1] Karsten Nowrot: Das Republikprinzip als oberstes Verfassungsprinzip, Tübingen: Siebeck-Mohr, 2013

[«*] Das legendäre Costa vs. Eni-Urteil bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/176765/costa-enel-urteil/

[«**] Beim Rüffert-Urteil (2008) stellte der EuGH die Unvereinbarkeit spezifischer Tariftreueklauseln bei der öffentlichen Auftragsvergabe mit EU-Recht fest. Das Gericht urteilte, dass vergaberechtliche (und nicht allgemein-verbindliche) Tariflöhne primärrechtlich gegen die Dienstleistungsfreiheit und sekundärrechtlich gegen die Entsenderichtlinie verstießen. Konkreter Klagegegenstand: Das Land Niedersachsen hatte 2003 einen Bauauftrag für eine Justizvollzugsanstalt erteilt, diesen aber später auf Grundlage der Tariftreueklausel im niedersächsischen Vergaberecht wieder entzogen. Denn das Bauunternehmen hatte einen polnischen Subunternehmer mit der Bauausführung beauftragt, der seine Arbeiter untertariflich bezahlte. Das Unternehmen klagte gegen den Entzug des Bauauftrags und gegen die Zahlung einer Vertragsstrafe und bekam beim EuGH recht.

[«***] Im Viking-Urteil (2007) ordnete der EuGH das Streikrecht den Binnenmarktfreiheiten (hier: Niederlassungsfreiheit) unter: Die finnische Gewerkschaften FSU hatte das finnische Fährunternehmen Viking Lines bestreikt, nachdem dieses angedroht hatte, eins ihrer Schiffe „umzuflaggen“. Ziel der Reederei war dabei, eine neue (estnische) Belegschaft anheuern und zu wesentlich niedrigeren estnischen Gehältern bezahlen zu können. Mit dem Streik wollte die FSU einen Tarifvertrag durchsetzen, der der Belegschaft auch bei einer Umflaggung die Gültigkeit des finnischen Arbeitsrechts sichern und zudem die Entlassung der finnischen Besatzung verhindern sollte. Der EuGH erklärte den Streik als nicht vereinbar mit den Binnenmarktfreiheiten und knüpfte die Zulässigkeit von künftigen Streiks an enge Voraussetzungen, die das (finnische) Streikrecht massiv aushöhlten.

[«****] Das Laval-Urteil (2007) ordnete ebenfalls das Streikrecht den Binnenmarktfreiheiten unter, indem es einen Streik der schwedischen Baugewerkschaft für rechtswidrig erklärte. Diese hatte ein Schulbauprojekt bestreikt, weil ein Teil der Ausführung von der lettischen Firma Laval ausgeführt werden sollte, die aus Lettland entsendete Bauarbeiter nach lettischen Bezügen bezahlte. Mit dem Streik wollte die Gewerkschaft erzwingen, dass alle Beschäftigten auf der Baustelle nach schwedischem Tarif bezahlt wurden. Neben der Verletzung der Binnenmarktfreiheiten sah der EuGH in diesem Fall auch einen Verstoß gegen die (damals gültige) Fassung der Entsenderichtlinie.

[«*****] Bei dem Urteil EU-Kommission vs. Luxemburg (2004) verbot der EuGH dem Land Luxemburg, Unternehmen im Rahmen der Arbeitnehmer-Entsendung arbeitsrechtliche und lohnpolitische Auflagen zu machen, um den Arbeitsmarkt (und heimische Unternehmen) vor Lohndumping zu schützen. Auch hier wurde dies – sekundärrechtlich – mit der Unvereinbarkeit mit der Entsenderichtlinie sowie – primärrechtlich – mit der Verletzung der Dienstleistungsfreiheit begründet.