Die Regierung von Guyana will ausländischen Konzernen weitere Lizenzen zur Ölförderung im Esequibo erteilen. Das stößt auf Widerstand in Caracas, denn das Gebiet gehörte vor der militärischen Aneignung durch Großbritannien zu Venezuela. Der Verlust dieses Gebietes begann 1840, als Großbritannien eine Militärexpedition startete, um sich dieses Territorium im Osten Venezuelas mit dem Ziel anzueignen, die strategische Mündung des Orinoco in den Atlantik zu besetzen. Der Raub erfolgte Zug um Zug, bis er sich auf 159.000 Quadratkilometer erstreckte, die 1899 im Pariser Schiedsspruch anerkannt wurden. Der venezolanische Präsident Maduro bezeichnete ihn als „einen betrügerischen Schiedsspruch, bei dem Venezuela keine Präsenz und kein Recht auf Verteidigung hatte”. Der Territorialstreit um das ölreiche Gebiet eskaliert nun erneut. Von Marco Teruggi.
1966 kam das Genfer Abkommen zwischen den beiden Parteien, in dem der Anspruch Venezuelas anerkannt und vereinbart wurde, eine „für beide Seiten akzeptable gütliche Lösung” zur Beilegung des Streits zu suchen. Das war kurz vor der Unabhängigkeit der heutigen Republik Guyana (Co-operative Republic of Guyana), die damit aufhörte, Britisch-Guayana zu sein.
Die gütliche Lösung wurde nie erreicht, der diplomatische Streit ging hin und her, bis er 2021 wieder in den Mittelpunkt rückte, als der Internationale Gerichtshof in Den Haag sich auf Ersuchen Guyanas für zuständig erklärte, den Fall zu schlichten. Caracas bezeichnete die Entscheidung als „infam” und verwies auf den Kern des Streits: die riesigen Ölreserven, die in dem umstrittenen Gebiet entdeckt wurden.
Der Ölboom
„Das neue Öl-Mekka”, so betitelte beispielsweise das Forbes-Magazin im Juli dieses Jahres einen Artikel über das 800.000 Einwohner zählende Land, das zwischen Venezuela, Surinam und Brasilien liegt. Die Zeitschrift, so wie viele andere auch in letzter Zeit, legte das Augenmerk auf das, was so viele in Guyana suchen: sein Öl, inmitten eines expansiven Ölbooms, der das Land in eine neue geopolitische Position gebracht hat.
Die Entdeckung der Reserven erfolgte 2015 durch das transnationale US-Unternehmen ExxonMobil: elf Milliarden Barrel in den Tiefen des Atlantiks, in einem Gebiet, das von Venezuela beansprucht wird. Der große US-Mineralölkonzern begann drei Jahre später mit der Ausbeutung: 100.000 Barrel pro Tag im Jahr 2020, 380.000 im Jahr 2022, circa 600.000 Barrel sollen es bis Ende 2023 und 1,2 Millionen bis 2027 sein.
Die letzte Ausschreibungsrunde für die Ausbeutung fand Anfang September statt. Georgetown erhielt Gebote für acht der 14 angebotenen Ölfelder von ExxonMobil, vom französischen multinationalen Energie- und Erdölunternehmen Total Energies sowie den saudischen Unternehmen Watad Energy und Arabian Drillers.
„Venezuela lehnt die illegale Lizenzvergabe in Guyana strikt ab, da sie auf Seegebiete zugreifen will, die Gegenstand von Abgrenzungsfragen zwischen den beiden Ländern sind”, erklärte die venezolanische Diplomatie als Reaktion auf das Ereignis, das eine neue Eskalation der diplomatischen Spannungen ausgelöst hat.
Der diplomatische Konflikt
„Die Regierung der USA will sich unsere Erdölvorkommen mit Hilfe des Unternehmens ExxonMobil aneignen, das die Regierung von Guyana auf seiner Gehaltsliste hat. Diese Regierung vergibt unter völliger Verletzung des Völkerrechts Erdölkonzessionen in einem nicht abgegrenzten Hoheitsgewässer. Es ist nicht möglich, einseitig über ein umstrittenes Gebiet zu bestimmen”, sagte der venezolanische Außenminister Yvan Gil auf der jüngsten Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Mohamed Irfaan Ali, Präsident von Guyana, verwies bei ebendieser Generalversammlung auf die „ständigen territorialen Bedrohungen durch Venezuela” und sagte: „Es ist traurig, dass wir 57 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch bedroht werden.” Irfaan wird von der US-Regierung, dem Sekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, und der Karibischen Gemeinschaft Caricom unterstützt, die sich aus 15 Ländern mit historischen Beziehungen zu Großbritannien zusammensetzt und ihren Sitz in Guyanas Hauptstadt Georgetown hat.
Der guayanische Präsident blieb bei seiner in den letzten Jahren vertretenen Position: den Streit durch den Internationalen Gerichtshof zu lösen und sich das Recht vorzubehalten, „in jedem Teil des Hoheitsgebiets oder in jedem angrenzenden Seegebiet Aktivitäten für die wirtschaftliche Entwicklung durchzuführen”.
„Ich wiederhole gegenüber dem Präsidenten von Guyana, Irfaan Ali, dass es eine einzige Lösung gibt, um den Konflikt um das Esequibo-Gebiet zu lösen: die Rückkehr zum Dialog von Angesicht zu Angesicht im Rahmen des Genfer Abkommens. Ich bin bereit, mich an einem Ort unserer Wahl in der Karibik mit Delegierten der Caricom zu treffen”, versicherte Maduro als Reaktion darauf und betonte, dass „Venezuela niemals das Volk von Guyana bedroht hat und dies auch niemals tun wird”.
Der Moment in Venezuela
„Da die Präsidentschaftswahlen vor der Tür stehen und die Opposition sich in einer scheußlichen Sache, die sie Vorwahlen nennt, zerfleischt, übt sie jetzt Druck aus im Konflikt um unser Esequibo, deshalb müssen wir wachsam sein. Wer operiert dort? Guyana? Nein, alle mächtigen Kräfte des Imperialismus sind dort am Werk, die USA, das Vereinigte Königreich und Europa. Sie sagen den Guyanern, dass es dort einen großen Reichtum an Öl und Gas gibt und dass sie ihnen helfen werden, es herauszuholen. Meine Herren in Guyana: Sie werden euch ausrauben”, sagte der führende Chavista-Politiker Diosdado Cabello vergangene Woche bei einer Veranstaltung zur Unterstützung der Regierung.
Der aktuelle Konflikt mit Guyana findet am Vorabend der Vorwahlen eines Teils der Opposition und vor 2024 statt, dem Jahr der Präsidentschaftswahlen in Venezuela. Die Opposition, die in das Labyrinth dieser Vorwahlen verstrickt ist, nahm zu diesem Thema unterschiedliche Positionen ein: Einige unterstützten die Forderung der Regierung, wie Antonio Ecarri und Enrique Ochoa, während andere, wie María Corina Machado, „das reale Risiko, ein Territorium zu verlieren, das Venezuela gehört” auf „die Verantwortung von Chávez und Maduro” zurückführten.
Machados Position richtet sich auch gegen die Entscheidung der venezolanischen Nationalversammlung, ein Referendum durchzuführen, „damit das Volk die Verteidigung von Essequiba Guyana stärken kann”. Ein Termin für die Volksbefragung steht indes noch nicht fest, und es stellt sich die Frage, wie sie in den kommenden Wahlkampf integriert werden soll.
Die aktuelle Eskalation mit Guyana lässt neue Kapitel der Spannungen erwarten. Es handelt sich um ein Territorium, das reich an Erdöl ist, das die transnationalen Unternehmen brauchen und das an der atlantischen Flanke Venezuelas liegt. Dies führt zu Vorwürfen der venezolanischen Regierung, wie bei den Vereinten Nationen deutlich wurde:
„Wir prangern an, dass die Regierung der USA die Situation militarisieren will, das Southern Command versucht, einen Stützpunkt in dem beanspruchten Territorium zu errichten.”
Übersetzung: Amerika21
Titelbild: Schraffiert eingefasst ist die umstrittene Esequibo-Region mit enormen Ölvorräten – Quelle: Telesur