Die Ankündigung Sahra Wagenknechts, nun zusammen mit politischen Weggefährten eine neue Partei zu gründen, wurde von ihren Gegnern innerhalb der Linkspartei zumindest nach außen hin weitestgehend positiv aufgenommen. Doch dieser Zweckoptimismus ist fehl am Platz. Nun muss sich die Linkspartei endlich ehrlich machen. Hatte man in den letzten Jahren mit Sahra Wagenknecht stets einen Sündenbock für die immer schlechteren Wahlergebnisse parat, wird es künftig schwer, die Schuld für das eigene Versagen bei anderen zu suchen. Doch die Linkspartei wäre nicht die Linkspartei, würde sie ihre Zukunft im Parteien-Sammelbecken „Sonstige“ selbstkritisch akzeptieren. Neuer Streit ist vorprogrammiert. Wer nun die Rolle des Sündenbocks übernehmen wird, ist freilich noch unklar. Wahrscheinlich wird es wieder Sahra Wagenknecht sein. Doch das ist dann auch egal. Ein Kommentar von Jens Berger.
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Wie heißt es so schön? „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“. Die Agonie der Linkspartei war ein Schrecken ohne Ende und wenn man Sahra Wagenknecht und ihren Mitstreitern etwas vorwerfen muss, dann ist es wohl, dass sie die zerstörerische Energie ihrer Gegner viel zu lange unterschätzt und die Chance auf eine Selbstheilung der Partei überschätzt hatten. Nicht erst in den letzten Jahren glich die Linkspartei einer Schlangengrube, in der auf Funktionärsebene Intrigen gesponnen wurden, gegen die selbst die Höflinge in einem Shakespeare-Drama wie integre Idealisten wirken.
Der Fisch stinkt von Kopfe her. Es war vor allem der Parteivorstand, der den politischen Gegner nicht in den anderen Parteien, sondern vor allem in den eigenen Reihen verortete. Aufrechte Linke verloren so ihre politische Heimat, oft junge Nachwuchskräfte, denen Identitätspolitik wichtiger war als die inhaltlichen Wurzeln ihrer Partei, rückten nach und veränderten die Partei nachhaltig. Mit der Partei, die als Zusammenschluss von PDS und WASG 2009 das erste Mal unter dem Namen „Die Linke“ bei Bundestagswahlen antrat und mit den Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine und Gregor Gysi immerhin 11,9 Prozent der Stimmen holen konnte, hat die derzeitige Linkspartei nur noch den Namen gemein.
Der Niedergang war ein schleichender Prozess, doch wenn man einen einzigen Wendepunkt definieren will, dann war es wohl die Wahl von Katja Kipping und Bernd Riexinger zum Parteivorsitz im Juni 2012. Unter ihrer Ägide stürzte die Partei, die in fast allen Landesparlamenten vertreten und in den ostdeutschen Ländern und im Saarland sogar den Rang einer Volkspartei hatte, jäh ab. Die Linkspartei spielt heute bundespolitisch keine Rolle mehr, ist nur noch in den westdeutschen Stadtstaaten und im Osten in den Landtagen vertreten, dort aber – den Sonderfall Thüringen ausgenommen – nur noch als 10-Prozent-Partei und weit entfernt vom Volksparteianspruch vergangener Tage. Noch nicht einmal in Zeiten großer politischer Unzufriedenheit kann die Linke als Oppositionspartei punkten. Stattdessen wird ausgerechnet die rechte AfD als Alternative wahrgenommen und hangelt sich von einem Umfragehoch zum nächsten.
Fragt man die für den Absturz verantwortlichen Parteigranden, so fällt die Erklärung immer gleich aus – schuld an den schlechten Ergebnissen sei einzig und allein Sahra Wagenknecht. Weder Ochs noch Esel können offenbar die intellektuelle Erosion der Partei aufhalten. Bemerkenswert ist dabei vor allem der nach außen demonstrierte Selbstbetrug und die vollkommen fehlende Selbstkritik. In der Person „Sahra Wagenknecht“ scheint man vielmehr den idealen Sündenbock gefunden zu haben. Die Wähler laufen demnach nicht etwa in Scharen davon, weil die Linkspartei mit ihrer politischen Fokussierung auf die Interessen und Positionen junger Akademiker in den Großstädten ihre klassische Wählerschaft nicht mehr anspricht und mit ihrem – nennen wir es mal freundlich – „Schlingerkurs“ bei Themen wie Corona, Außen- und Sicherheitspolitik und Energiepolitik einem großen Teil der Wählerschaft massiv vor den Kopf stößt. Nein, die Wähler laufen weg, weil Sahra Wagenknecht die Parteistrategen daran erinnert, dass ihr Kurs selbstzerstörerisch ist.
Don’t shoot the messenger – man sollte nicht den Überbringer schlechter Nachrichten für den Inhalt verantwortlich machen. Doch das haben die Verantwortlichen der Linkspartei bis heute nicht gelernt. Aber das ist ja nun zum Glück vorbei. Nach der Neugründung ihrer Partei kann Sahra Wagenknecht ja wohl kaum mehr für die kommenden schlechten Ergebnisse der Linkspartei verantwortlich gemacht werden. Schließlich scheint die Parteispitze ja von der Richtigkeit ihrer Politik überzeugt zu sein. Dann wird sie aber künftig auch die politische Verantwortung übernehmen müssen, wenn der Wähler das anders sieht. Das hat man bislang ja – dank des Sündenbocks Wagenknecht – vermeiden können.
Wenn die Linkspartei sich also künftig im Westen nicht mehr mit Grünen, SPD, CDU, FDP oder AfD, sondern quantitativ mit der Tierschutzpartei, Volt oder der ÖDP messen lassen muss und im Osten mit der Fünf-Prozent-Hürde kämpft, dann kann man dafür schwerlich Sahra Wagenknecht, sondern einzig und allein die Parteiführung selbst verantwortlich machen. Dann wird sich auch zeigen, wie geschlossen die Reihen hinter der erratischen Linie der Parteiführung stehen. War bislang Sahra Wagenknecht als gemeinsames Feindbild noch der Kitt, der den Rest des Ladens zusammenhielt, werden die Bruchlinien nun offen zutage treten. Denn außer ihrem offenen Hass auf Wagenknecht haben die drögen Thüringer Butterstullen-Linken rund um Bodo Ramelow so ziemlich nichts mit den ultralinken Antifa-Jugendlichen aus westdeutschen Metropolen gemein. Da ist Streit vorprogrammiert.
Aber wen soll man dann dafür verantwortlich machen? Wenn die neue Partei von Sahra Wagenknecht beispielsweise bei den kommenden Europawahlen deutlich vor der Linkspartei abschneidet, wäre es ja – zumindest gemäß der Aussagenlogik der Parteigranden – nicht möglich, Sahra Wagenknecht für das schlechte Abschneiden der Linken verantwortlich zu machen. Denn nach den eigenen Aussagen wurden potenzielle Linken-Wähler ja bislang nur durch die Leibhaftige persönlich davon abgehalten, ihr Kreuz bei der Linken zu machen. Würde dies stimmen, müsste die Linke ja bei den Europawahlen ihr Rekordergebnis holen. Wir wissen sicher alle, dass eher das genaue Gegenteil der Fall sein wird. Und ich setzte 100 Euro darauf, dass man dann – allen geistigen Verdrehungen zum Trotz – wieder Sahra Wagenknecht für das eigenen Versagen verantwortlich machen wird. Gelernt ist schließlich gelernt. Halten Sie dagegen?
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