Einer der Erfolge der neoliberalen Propaganda besteht darin, dass viele Menschen in unserer Gesellschaft ihre Lebenskonflikte (z.B. Arbeitslosigkeit oder Armut) als ein rein individuelles Problem betrachten und dementsprechend glauben, dass sie etwas falsch gemacht haben oder sich nicht genügend angestrengt haben. Dass diese Sichtweise sich massenhaft in den Köpfen der Menschen einnisten konnte, hängt auch damit zusammen, dass die neoliberale Ideologie quasi „verkleidet“ als unpolitische, rein persönliche Selbstoptimierungsstrategie in Erfolgs-, Glücks- und Motivationsratgebern den Menschen nahegebracht wurde. Die Botschaft dabei: Du allein bist der Autor deines Lebens und der Schmied deines Glücks – du musst dich nur genügend anstrengen. In seinem Buch „Wenn die Jagd nach Erfolg das Leben zur Hölle macht“ kritisiert unser Autor Udo Brandes dies und befasst sich unter anderem damit, wie der Zufall den Lebensweg eines Menschen beeinflusst. Im Folgenden ein Auszug aus seinem Buch.
Al Pacino, die Mafia und das Glück
In seinem Buch Ohne Glück kein Erfolg beschreibt der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Robert H. Frank, wie er beim Tennisspielen in einer Halle einen Herzinfarkt erlitt und nur durch glückliche Umstände wiederbelebt wurde und überlebte. Einer dieser glücklichen Umstände: Obwohl sein Tennispartner keine Ahnung von Erster Hilfe hatte, machte er einfach das, was er in einem Film gesehen hatte: Er drehte Frank auf den Rücken und hämmerte mit den Fäusten auf seinen Brustkorb ein. Sein Tennispartner meinte später, dass Frank nach einer gefühlten Ewigkeit zu husten anfing. Ein weiterer glücklicher Umstand: Es war zufällig ein Krankenwagen mit einem Notarzt ganz in der Nähe. Dieser war als zweiter Krankenwagen zu einem Unfall gekommen und wurde dort nicht mehr gebraucht, weil die Verletzten schon versorgt waren. Von diesen glücklichen Umständen gab es noch mehr. Frank schreibt dazu:
„Wie die Ärzte mir später erklärten, hatte ich einen akuten Herztod erlitten. Sie sagten mir außerdem, dass 98 Prozent aller Menschen, die davon betroffen sind, nicht überleben und dass diejenigen, die es schaffen, erhebliche geistige und andere Behinderungen zurückbehalten.“
Bei Robert A. Frank war es anders: Er behielt nicht nur keine geistigen oder körperlichen Behinderungen zurück, sondern konnte zwei Wochen nach dem Herzinfarkt, nachdem er das erste Belastungs-EKG bestanden hatte, sogar wieder Tennis spielen. Franks Resümee zu seiner Erfahrung mit dem Zufallsglück:
„Wäre nicht zufällig dieser zweite Rettungswagen in der Nähe gewesen, hätte ich nicht überlebt. Einige meiner Freunde waren der Auffassung, göttliches Eingreifen hätte mich gerettet, und obwohl ich mich nicht mit denjenigen streite, die es so sehen, war ich mit einer solchen Sichtweise noch nie besonders glücklich. Ich glaube, dass ich heute noch am Leben bin, verdanke ich ganz einfach purem Glück.“
Dann erzählt er von einem anderen Unglücksfall, der genau umgekehrt verlief. Ein Mann namens Mike Edwards sei einfach deshalb nicht mehr am Leben, weil ihn das Glück verließ. Edwards gehörte als Cellist zu der Gruppe von Musikern, aus der später das Electric Light Orchestra hervorgegangen ist. Im Jahre 2010 fuhr er eines Tages eine kleine englische Landstraße entlang, als ein 600 Kilo schwerer Heuballen von einem steilen Hügel hinunterrollte, auf seinem Transporter landete und ihn zu Tode quetschte. Frank kommentiert seinen und Edwards Fall wie folgt:
„Die meisten Menschen können sich problemlos der Einschätzung anschließen, dass ich Glück hatte und überlebte, während Edwards Pech hatte und starb. Auf anderen Gebieten verrichtet der Zufall sein Werk allerdings oftmals auf weitaus subtilere Art, was dazu führt, dass ein Gutteil derselben Menschen Erklärungen, die einen glücklichen Zufall ins Feld führen, ablehnen. Besonders unangenehm scheint vielen die Möglichkeit zu sein, Erfolg auf dem Markt könnte auf signifikante Weise von glücklichen Zufällen abhängen. Vor einigen Jahren verfasste ich eine Zeitungskolumne, in der ich darlegte, dass scheinbar unbedeutende Zufallsereignisse in den Lebenswegen von Menschen eine weitaus gewichtigere Rolle spielen, als den meisten von uns klar ist. Es war der erste von einer ganzen Reihe von mir verfasster Beiträge, aus denen nach und nach dieses Buch entstand. Ich war überrascht, wie hochgradig negativ die Kommentare waren, die diese Kolumne bekam, zum Großteil verfasst von Leuten, die darauf bestanden, Erfolge wären beinahe ausschließlich mit Talent und Anstrengung zu erklären.“
Woher kommt diese nicht selten geradezu fanatische Ablehnung der These von Frank, dass der Zufall in den Lebenswegen der Menschen eine weitaus gewichtigere Rolle spielt, als die meisten Menschen glauben? Warum ist es für viele Menschen so wichtig, daran zu glauben, dass sie selbst, ihr Wille, ihre Anstrengungen, ihre Entscheidungen ihren Lebensweg bestimmen – und nicht der Zufall? Was ist so schrecklich an der Vorstellung, dass der Zufall so viel Macht im Leben eines Menschen hat? Warum ist es so vielen Menschen wichtig, zu glauben, dass sie selbst ihres Glückes Schmied sind? Bevor ich auf diese Fragen eingehe, möchte ich Sie aber mit einem markanten Beispiel aus Robert H. Franks Buch bekannt machen.
Sie alle kennen sicherlich den US-Schauspieler Al Pacino. Er ist einer der erfolgreichsten, berühmtesten und reichsten Schauspieler weltweit. Berühmt wurde er 1972 durch seine Rolle in dem Mafia-Epos Der Pate (Englischer Originaltitel: Godfather). Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Mario Puzo. Regisseur des Films war der damals erst 33 Jahre alte Regisseur Francis Ford Coppola, der auch noch zwei weitere Fortsetzungen drehte. Warum hat Al Pacino die Rolle bekommen? Hatte er diesen Erfolg nur seiner außerordentlichen Begabung zu verdanken? Hatte er so viel mehr an sich gearbeitet und sich angestrengt? War er so viel besser als andere Schauspieler? Hatte er den größeren Willen zum Erfolg? Wer sich mit der Entstehungsgeschichte des Films beschäftigt, kann nur zu einem Ergebnis kommen: Es war das pure Zufallsglück, das Al Pacino diese Rolle, die sein ganzes Leben als Schauspieler veränderte, die Rolle einbrachte. Hören wir dazu noch mal Robert. H. Frank:
„Die Studiobosse bei Paramount wollten für die Rolle des Michael Corleone in Francis Ford Coppolas Verfilmung von Mario Puzos Der Pate Robert Redford, Warren Beatty oder Ryan O’Neal. Coppola dagegen wollte einen unbekannten Schauspieler, jemanden, der wie ein Sizilianer aussah. Aber die Studiobosse blieben skeptisch und hätten um ein Haar den damals bereits sehr bekannten James Caan für die Rolle gecastet. Sie gaben erst nach, als Coppola drohte, aus dem Projekt auszusteigen. Am Ende wurde Caan als Michaels älterer Bruder Sonny besetzt und Pacino bekam die Hauptrolle. In Puzos Romanvorlage war Vito Corleone die zentrale Figur. Doch der Protagonist in Coppolas filmischer Adaption ist ganz eindeutig sein jüngster Sohn Michael. Und so zog Pacino, der zuvor lediglich in zwei kleineren Produktionen gespielt hatte, eine Rolle an Land, die ihn zur wichtigsten Figur in einem Film machte, der vielen Kritikern als der beste aller Zeiten gilt. Wie unwahrscheinlich diese Besetzungsentscheidung war, wird noch deutlicher durch den Umstand, dass Coppola diesen Film, seinen ersten, im Alter von 33 Jahren drehte. Unerfahrene Regisseure bekommen in Streitigkeiten mit Studiobossen eigentlich fast niemals ihren Willen. Pacinos anschließende Karriere bestätigte, wie klug Coppolas Entscheidung gewesen war. Wer glaubt, dass Talent und harte Arbeit sich am Ende immer durchsetzen, könnte argumentieren, Pacino sei in dieser Zeit noch relativ jung gewesen und seine schauspielerischen Fähigkeiten hätten ihm selbst dann zum Erfolg verholfen, wenn er die Rolle des Michael Corleone nicht bekommen hätte. Kann sein. Aber es gibt auch Tausende hochtalentierter Schauspieler, die einfach nie die passende Gelegenheit bekamen, zu zeigen, was sie draufhaben.“
Warum also fällt es vielen Menschen so schwer zu glauben, dass beruflicher oder sonstiger Erfolg im Leben keineswegs nur Talent, Willen und Anstrengung zu verdanken ist, sondern dass oft das Zufallsglück zum Erfolg führt, wie es bei Al Pacino der Fall war?
Meines Erachtens gibt es dafür mehrere Gründe: Erstens ist die Vorstellung, dass man seinen Lebensweg kontrollieren kann, wenn man sich die richtigen Ziele sucht, nämlich die, die wie ein Schlüssel zum Schloss zu den eigenen Talenten passen, und wenn man dann sein Ziel mit großer Willenskraft verfolgt und bereit ist, sich anzustrengen, ein beruhigendes Gefühl. Umgekehrt ist die Vorstellung, dass man sein Leben nur sehr bedingt kontrollieren kann, beängstigend. Das Gefühl von Ohnmacht zu ertragen ist schwer. Deswegen verdrängen wir Menschen auch so gerne unsere Endlichkeit und glauben so gerne daran, dass wir durch diverse Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge zumindest dafür sorgen können, dass wir erst im hohen Alter sterben. Aber die praktische Lebenserfahrung ist eine andere. Immer wieder werden Menschen, die nach modernen medizinischen Maßstäben ausgesprochen gesund leben, sich gesund ernähren, Sport treiben, ein intaktes soziales Umfeld haben usw. trotzdem schwer krank und sterben. Ebenso ist es in Bezug auf den beruflichen Erfolg: Zu glauben, diesen könne man zuverlässig planen, wenn man nur die richtige Strategie anwendet, ist die Illusion der Kontrolle. Aber wir machen uns nur allzu gern diese Illusion, weil Ohnmachtsgefühle so schwer zu ertragen sind.
Zweitens: Ob jemand beruflich Erfolg hat oder nicht, hängt auch in hohem Maße von seinen Startbedingungen ab. Menschen, die in die gehobene Mittelklasse oder Oberschicht hineingeboren werden, haben von Anfang an in ihrem Leben wesentlich bessere Chancen auf Erfolg, weil sie über eine wesentliche bessere Kapitalausstattung aus ihrem Elternhaus verfügen können. Wobei ich mit Kapitalausstattung keineswegs nur ökonomisches Kapital, also Geld und Besitz meine, sondern auch soziales Kapital (das sogenannte Vitamin B: Kontakte und Beziehungen zu einflussreichen Menschen) und kulturelles Kapital (Ausbildung, die Möglichkeit von Auslandsaufenthalten sowie kulturelles Wissen, das im Elternhaus quasi nebenbei erworben wurde).
Drittens: Es trägt zur Steigerung des Selbstwertgefühls bei, wenn man den eigenen Erfolg nur der eigenen Leistung zuschreibt – und glaubt, dass Erfolg oder Misserfolg im Leben lediglich eine Frage von Talent, Wille und Anstrengung ist.
Viertens entspricht die Sichtweise „Jeder (allein) ist seines Glückes Schmied” der gesellschaftlich dominierenden neoliberalen Ideologie und wird von den Profiteuren dieser Ideologie bewusst geschürt. Die Profiteure dieser Ideologie: Das sind diejenigen, die durch die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft von erheblichen Wettbewerbsvorteilen profitieren – und deshalb viel größere Chancen haben, auch zu den Gewinnern zu gehören.
Der berühmte deutsche Soziologe Max Weber hat diese Zusammenhänge sehr pointiert zum Ausdruck gebracht. Dazu mehr im Schlusskapitel.
Titelbild: Screenshot/Paramount Pictures
Udo Brandes, Wenn die Jagd nach Erfolg das Leben zur Hölle macht, 2023, erschienen bei Amazon.