Der Angriff der Hamas auf die jungen Besucher eines Festivals und auf viele weitere Zivilisten in Israel ist eine verstörende Bluttat. Sie muss verurteilt werden, wie alle Angriffe auf Zivilisten: Die normalen Bürger sind nie legitimes Ziel für Rache oder um politische Zeichen zu setzen. Der Umgang mit der moralischen Empörung ist aber sehr selektiv. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Ich kann das Massaker der Hamas an den jungen Menschen bei einem Festival in Israel mit über 200 Opfern am Samstag nur als schockierend empfinden und möchte es scharf verurteilen. Diese Attacken waren Teil des Angriffs der Hamas vom Wochenende, den das ZDF etwa hier zusammenfasst – in diesem Text soll vor allem auf die Vorfälle bei dem Festival Bezug genommen werden.
Die jetzt in deutschen Medien verfassten Verurteilungen des Hamas-Angriffs auch auf Zivilisten mögen formelhaft sein und sich anscheinend in die bekannte Verteidigung der Politik Israels einreihen – heuchlerisch finde ich sie aber in diesem speziellen Fall (noch) nicht: Die jetzigen Verdammungen des Terrors gegen willkürliche zivile Opfer sind meiner Meinung nach angemessen – die Heuchelei entsteht dann, wenn der Tod palästinensischer Zivilisten durch Terror des israelischen Militärs nicht in ähnlicher Weise betrauert und verurteilt wird und wurde. Doppelte Standards waren unter vielen anderen Fällen auch beim von westlichen Medien verniedlichten Terror der „pro-westlichen“ Al-Quaida-Gruppen gegen syrische Zivilisten zu verzeichnen.
Aber die widersprüchlichen Sichtweisen deutscher Medien gegenüber terrorisierten Zivilisten je nach Urheber und politischer Präferenz müssen einen selber nicht irritieren: Terror gegen Zivilisten ist immer zu verurteilen, auch wenn er mit hehren Motiven begründet wird. Auch dann, wenn er inakzeptable Reaktionen auf der Gegenseite auslöst. Auch dann, wenn die Täter aus einer unterlegenen, ja ausweglosen Situation heraus handeln. Und auch dann, wenn dem Terror eine lange Vorgeschichte der Ungerechtigkeit vorangegangen ist: Normale Bürger sind kein legitimes Ziel für Rache oder um politische Zeichen zu setzen. So einfach ist das.
Blutrausch und Verrohung
Die Form der Attacken auf die jungen Menschen in Israel empfinde ich als Blutrausch. Die mediale Verbreitung (auch vonseiten der Hamas) und die stolze Zurschaustellung einer Menschenjagd zeugt zusätzlich von einer starken Verrohung. Diese Verrohung hat Gründe, ja. Aber das hilft den unschuldigen Opfern eines so hemmungslosen Ausbruchs nicht.
Der Ausruf von Gequälten: „Jetzt fühlen sie endlich auch unseren Schmerz…“, auch er kann Terror gegen normale Bürger nicht rechtfertigen. Zum einen trifft Terror gegen Zivilisten die Falschen, da die willkürlich gewählten Opfer für die Politik ihres Landes oft nichts können oder sich vielleicht sogar dagegen eingesetzt haben. Zum anderen ist ein solcher Terror immer eine Steilvorlage für schreckliche Vergeltung. Solche Taten werden von skrupellosen Strategen erdacht, aber sie kommen auch skrupellosen Strategen der Gegenseite entgegen.
Auch wer für die palästinensische Sache eingenommen ist, muss die Angriffe der Hamas auf die jungen Besucher eines Festivals und auf viele andere israelische Zivilisten scharf verurteilen. Nur dann bewahrt man sich eine moralische Glaubwürdigkeit für künftige Urteile. Die Verurteilung der jüngsten Hamas-Angriffe erfolgt auch unabhängig von der möglicherweise überharten israelischen Reaktion, die wahrscheinlich zahlreiche Zivilisten in Palästina töten wird: Diese Reaktionen müssen dann für sich beurteilt und möglicherweise geächtet werden. Da sich Terror gegen Zivilisten (wie in diesem Text beschrieben) nicht mit vorangegangenem Unrecht begründen lässt, ist die israelische Armee nun nicht berechtigt, die Zivilisten in Gaza für die Hamas-Angriffe büßen zu lassen.
Empathie mit den zivilen Opfern wäscht nicht die Regierung weiß
Ich lehne die Besatzungs- und Blockadepolitik der israelischen Regierungen und die mit ihr verbundene Gewalt, Schikane und Armut ab. Aber: Die Attacken vom Wochenende, die sich auch gegen Zivilisten richteten, können meiner Meinung nach nicht mit der Vorgeschichte gerechtfertigt werden – man kann dort aber eine Wurzel des Ausbruchs finden. Darum muss man immer (auch jetzt) die jahrzehntelange Entwicklung des Konflikts beachten, wenn man die Spirale der Gewalt analysieren und irgendwann beenden möchte.
Empathie mit den zivilen israelischen Opfern bedeutet keineswegs, dass die militaristische Politik der diversen israelischen Regierungen der Vergangenheit weißgewaschen wird: Israels Armee hat in den letzten Jahrzehnten mit Abstand mehr Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt als die andere Seite. Auch neben den Militärfeldzügen wurde den Bewohnern in Gaza ein inakzeptabler und demütigender Alltag aufgezwungen. Hier liegt meiner Meinung nach eine Ursache des Gewaltausbruchs auch gegen Zivilisten.
Und so ist das Festival in der Nähe des Gazastreifens auch Symbol einer krassen Ungleichheit, wenn aus Perspektive der wie in einem großen Gefängnis eingepferchten Bewohner von Gaza tausende Jugendliche in Hörweite hedonistische Feste der Freiheit zelebrieren.
Vor allem wegen des schlimmen Massakers bei dem Festival und an anderen Zivilisten in Israel haben die Hamas-Aktionen der letzten Tage für mich nicht den Charakter einer militärischen Reaktion auf Angriffe der israelischen Armee. Und wenn man das Bild eines Gefängnisausbruchs bemühen möchte: Lynchmorde an gewalttätigen Wärtern können, wenn sie auch zu verurteilen sind, so doch unter bestimmten Umständen gerade noch moralisch nachvollzogen werden. Aber ein mörderischer Einfall in die umliegenden Dörfer ist eindeutig zu ächten.
Wobei die „Insassen“ von Gaza keine verurteilten Straftäter sind, sondern nur das Pech haben, die falsche Nationalität zu besitzen, und dafür in empörender Weise sehr hart bestraft werden.
Steilvorlage für härteste Gegengewalt
Der Ablauf der Attacken und der rätselhafte Ausfall des israelischen Sicherheitskonzepts stimmen skeptisch, hier müsste noch Aufklärung erfolgen, wie das möglich war. Dass die letzten Tage eine Steilvorlage für härteste Gegengewalt bieten, ist jetzt sehr beunruhigend.
Im Moment ist eine Anteilnahme mit den zivilen Opfern und ihren Angehörigen – auf beiden Seiten – das Gebot. Da wir nicht wissen können, was für Kettenreaktionen nun ausgelöst werden und welche Charaktere künftig das Handeln vor allem des israelischen Militärs bestimmen werden, sollte man mit der Floskel „bedingungslose“ Solidarität – im Sinne militärischer Unterstützung oder ähnlichem – sehr vorsichtig sein.
Titelbild: hapelinium / Shutterstock