Der post-jugoslawische Raum, auch als West-Balkan (hier plus Albanien) bezeichnet, kommt nicht zur Ruhe. Vor wenigen Tagen kam es erneut zu einer blutigen Auseinandersetzung zwischen Kosovo-Albanern und Serben im Kosovo. Vier Menschen kamen im Laufe der Feuergefechte ums Leben. Das Kosovo ist und bleibt einer der zentralen Zündschnüre in dem balkanischen Pulverfass. Dass die Situation zwischen Serben und Albanern, zwischen Serbien und der abtrünnigen Provinz Kosovo nicht nur weiter schwelt, sondern auch wieder dabei ist zu explodieren, ist auch auf die geopolitische Großwetterlage zurückzuführen. Von Dr. Alexander S. Neu.
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Auch der Balkan steht, wie eigentlich seit Jahrhunderten, im Visier des Kampfes um die Einflusszonen der Großmächte. In der Phase des gegenwärtigen globalen Interregnums, der instabilen, ja geradezu gefährlichen Übergangsphase von der unipolaren westlichen hin zur multipolaren Weltordnung wächst der Druck auf das neutrale Serbien durch die rivalisierenden Großmächte (der Westen einerseits und Russland und China andererseits) immens. Die südserbische Provinz Kosovo spielt hierbei erneut eine explosive Rolle.
Was aber ist der zentrale Grund für den „Unwillen“ der südslawischen Völker zu einer umfassenden Integration hin zu einem gemeinsamen Staat sowie einer gemeinsamen südslawischen Identität? Verkürzt formuliert: Sie sind es – historisch betrachtet – nicht gewohnt, in einem größeren Identitätsrahmen gemeinsam zu leben, sich als gleichberechtigt zu betrachten und Interessenkonflikte ausschließlich durch Verhandlungen zu lösen. Denn: Der Balkan war und ist das europäische Schachbrett imperialistischer Großmächte. Diese Großmächte respektive Besatzungsmächte haben in ihrer langen Geschichte auf dem Balkan eine eigenständige gemeinsame Identitätsbildung als Grundlage einer gemeinsamen Staats- und Nationenbildung erheblich erschwert oder sogar verhindert.
Der Balkan im Fadenkreuz der Großmächte
Die Stadt Konstantinopel (seit 1930 Istanbul) wurde 330 n. Chr. von Kaiser Konstantin gegründet. Das riesige Römische Reich erhielt damit zwei Zentren: Neben Rom, das das weströmische Reich darstellte, wurde die Stadt am Bosporus – Konstantinopel – zum Machtzentrum des oströmischen Reiches. Die Völker zwischen Konstantinopel und der Adria wurden somit dem Römischen Reich unterworfen.
Mit der gewaltsamen Expansion des Osmanischen Reiches auf den Balkan bis vor die Tore Wiens (Schlacht auf dem Kosovo Polje 1389 in Serbien und Eroberung Konstantinopels 1453) war das staatliche und auch nationale Schicksal der Balkanvölker für viele Jahrhunderte besiegelt: Neben der politischen und ökonomischen Besatzung wurde der Balkan auch mit einer außereuropäischen fremden Kultur und Religion, dem Islam, konfrontiert. Die slawischen Muslime in Kroatien, Bosnien, Serbien, Makedonien und Bulgarien sowie die überwiegend zum Islam konvertierten Albaner oder auch manche Rumänen und Moldawier bzw. dort sesshaft verbliebene Türken sind das Erbe des Osmanischen Reiches. Zwar praktizierte das Osmanische Reich keine Zwangskonvertierung der christlichen Balkanvölker, aber in manchen Regionen der oben genannten Länder konvertierte die Bevölkerung gruppenweise zum Islam, womit sie dann als Teil der islamischen Gemeinschaft gegenüber den christlich verbliebenen Völkern privilegiert waren. Insbesondere im urbanen Bereich fand dieser Übertritt vom Christentum zum Islam statt, weshalb in Bosnien beispielsweise die muslimische Bevölkerung eher in den Städten, die kroatische und serbische eher im ländlichen Raum lebt(e). Und genau genommen handelt es sich bei den muslimischen Volksgruppen eben nicht um ein anderes Volk oder eine andere Ethnie, sondern lediglich um eine andere Religionsgruppe. Daher ist die südslawische Sprache bei allen mehr oder minder ausgeprägten Dialektunterschieden eben eine Sprachfamilie.
Angesichts der schrittweisen räumlichen Zurückdrängung des Osmanischen Reiches durch Österreich und später die habsburgische Doppelmonarchie (K.-u.-K.-Monarchie Österreich-Ungarn) bekamen der Balkan und Teile Osteuropas bis in die Westukraine neben dem Osmanischen Reich eine neue, eine zweite, aber zumindest kulturell nahestehende „Ordnungsmacht“. Aber auch diese erschwerte die nationale Identitätsbildung, wenn diese auch nicht mehr gänzlich zu unterdrücken war. Mit der Niederlage des Osmanischen Reiches in den beiden Balkan-Kriegen 1912 und 1913 verschwand diese „Ordnungsmacht“ vom Balkan. Kurz darauf führte auch die Niederlage des Deutschen Reiches und der K.-u.-K.-Monarchie im Ersten Weltkrieg zur Auflösung der K.-u.-K.-Monarchie. Das nationale Bewusstsein der unterdrückten Völker der beiden kollabierenden „Ordnungsmächte“ konnte sich buchstäblich über Nacht frei entfalten. Im Ergebnis kam es zu einer gewaltigen Veränderung der Landkarte Osteuropas und vor allem Südosteuropas. Die ost- und südosteuropäischen Völker, die seit dem 19. Jahrhundert zunehmend ihre eigene nationale Identität aufzubauen begannen, schufen sich aus der Erbmasse der K.-u.-K.-Monarchie und des Osmanischen Reichs ihre eigenen Staaten.
Jugoslawien – zwischen State-building, Nation-building und regionalem Nationalismus
So wurde auch das südslawische „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ 1918 ausgerufen. Anders, als die Bezeichnung zunächst nahelegt, waren auch Montenegro und Bosnien-Herzegowina Teil dieses Staates. Das heutige Makedonien gehörte zu Serbien. Im Jahre 1929 wurde der Staat in das „Königreich Jugoslawien“ umbenannt. Der Begriff Jugoslawien bedeutet nichts anderes als Südslawien, der Staat der Südslawen von Slowenien bis Makedonien. Bulgarien blieb allerdings hierbei außen vor. Erstmals fanden die slawischen Völker im westlichen Balkan zu einem eigenen souveränen Staat zusammen und befreiten sich von äußeren Einflussmächten. Das, was sie verband – weitgehend gemeinsame Sprache und Geschichte sowie die kulturelle Nähe bei allen kleineren Unterschieden im Einzelnen –, wurde fortan auch staatlich institutionalisiert. Allerdings wirkte sich der serbische Dominanzanspruch negativ auf den staatlichen Aufbau aus. Orientierten die Serben auf einen unitaristischen Staat mit einem serbischen Monarchen an der Spitze, so favorisierten die Kroaten und Slowenen eher eine föderale Staatsstruktur. Anstatt diesen Widerspruch durch lange Verhandlungen und auch durch friedlichen Widerstand im Rahmen des gemeinsamen jugoslawischen Gesamtstaates zu Gunsten föderaler Strukturen aufzulösen, festigte er sich und wurde zur Zeitbombe der jugoslawischen Staatlichkeit.
Anti-jugoslawistisch gestimmte slowenische, kroatische und bosnische nationalistische Gruppierungen erhielten Zulauf. Schlimmer noch: Die slawischen Volksgruppen orientierten sich an ihren früheren Bestatzungsmächten. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Land kurzerhand vom Deutschen Reich zerschlagen. Der kroatische Faschist Ante Pavelic führte durch Gnaden Adolf Hitlers den „Unabhängigen Staat Kroatien“, dem auch Bosnien-Herzegowina und Teile der serbischen Vojvodina zugeordnet waren. Unter seiner Herrschaft wurden Serben, Juden, Roma, oppositionelle Kroaten und Muslime ins KZ Jasenovac verbracht und getötet. Der serbisch-kroatische Brudermord sollte auch den Neustart Jugoslawiens unter Tito latent belasten. Die Vorbehalte wurden in den späten 1980er-Jahren wieder geschürt und traten Ende der 1980er, Anfang der 1990er erneut offen zutage – wieder mit Brudermord und Zerstörung.
Kosovo – Der Anfang vom Ende Tito-Jugoslawiens
Das Ende Jugoslawiens begann in der südserbischen Provinz Kosovo in den frühen 1980er-Jahren mit einem nationalistischen Aufstand der Albaner 1981 – ein Jahr nach Titos Tod – in Pristina, der Hauptstadt der serbischen Provinz. Der Aufstand wurde letztlich durch die jugoslawischen und serbischen Sicherheitskräfte beendet. Infolgedessen verlor das Kosovo einen Großteil seiner durch die Verfassungsreform 1974 gewonnenen Autonomie an die serbische Mutterrepublik. Belgrad erkannte, dass die politische Autonomie des Kosovo den institutionellen Embryo für den albanischen Nationalismus und Irredentismus darstellte. Erschwerend für das Zusammenleben kommt hinzu, dass die Albaner im Gegensatz zu den übrigen Völkern Jugoslawiens keine Slawen sind und somit keine gemeinsame kulturelle Grundlage vorhanden ist. (Zwar gibt es auch eine nicht-slawische ungarische Minderheit, diese war und ist jedoch weitgehend aufgrund ihrer kulturellen Nähe integriert.) Von Slowenien bis Makedonien, ja bis Bulgarien dominieren die Slawen die Balkanhalbinsel – sprachlich, kulturell und ethnisch miteinander eng verbunden. Die Albaner hingegen wollten faktisch nicht in den jugoslawischen Staat integriert werden. Sie spielten in der Selbstwahrnehmung immer eine Sonderrolle und wurden auch von den slawischen Jugoslawen als „Fremdkörper“ betrachtet.
Die Verfassungsreform von 1974 als Sargnagel Jugoslawiens
Die Reform der jugoslawischen Verfassung aus dem Jahre 1974 sollte den jugoslawischen Staat und die gemeinsame Identität durch ein Höchstmaß an interner Souveränität der jugoslawischen Teilrepubliken festigen. Aber genau das Gegenteil geschah. Der föderal strukturierte Gesamtstaat wurde durch die Verfassungsreform überföderalisiert. Die Gliedstaaten, mithin die jugoslawischen Republiken, erhielten eine Qualität an interner Souveränität, die faktisch die Bundesorgane schwächte und somit den institutionellen Zusammenhalt des jugoslawischen Gesamtstaates korrodieren ließ und darüber hinaus die gemeinsame jugoslawische Identitätsbildung eher schwächte als stärkte. Regional-nationalistische Egoismen dominierten zunehmend über den gesamtjugoslawischen Einheitsgedanken bis in die kommunistischen Parteien der Teilrepubliken. Die Nationalisten der diversen slawischen Volksgruppen versteckten sich gewissermaßen hinter dem albanischen Irredentismus, in dem sie die Serben mit der Auflösung der politischen Autonomie des Kosovos als Unterdrücker der Albaner bezichtigten. Tatsächlich ging es ihnen weniger um die Albaner des Kosovo als um ihre eigenen nationalistisch-sezessionistischen Ambitionen. Mit der Verfassungsreform wurden also dem späteren Sezessionismus der Teilrepubliken Tür und Tor geöffnet – sie war der Sargnagel Jugoslawiens. Man könnte auch sagen: gut gemeint, aber schlecht gelaufen.
Jugoslawien und seine Erbmasse als Schachbrett geopolitischer Interessen
Die Zerschlagung des sozialistischen Jugoslawiens 1991/92 fand erneut in Anlehnung der jeweiligen nationalistischen Kräfte an ihre Großmächte statt, die in ihrer Geschichte bereits über die Region geherrscht hatten: Slowenische und kroatische Nationalisten suchten im Westen (Österreich, Deutschland und den USA) erfolgreich nach Unterstützung, die bosnischen Muslime sahen in der Türkei ihren Verbündeten, und die Serben sowie die jugoslawistischen Kräfte schauten nach Moskau. Wobei die Serben nicht auf den starken Partner Moskau setzen konnten, da die Sowjetunion sich selbst im Auflösungsprozess befand. Jedenfalls hielten die Serben mehrheitlich länger an dem jugoslawischen Gesamtstaat fest als die übrigen „Volksgruppen“ – auch weil sie am meisten durch den staatlichen Zerfall zu verlieren hatten. In fast allen jugoslawischen Teilrepubliken lebten mehr oder minder große serbische Bevölkerungsteile, denen das Schicksal drohte, am nächsten Tag in einem fremden Land aufzuwachen und dort angesichts des jeweiligen Nationalismus nicht erwünscht zu sein. Während das State-building im ersten Jugoslawien zunächst gelang, scheiterte das Nation-building an der serbischen Dominanz und der brutalen Reaktion nationalistisch-faschistischer Kroaten. Im zweiten Jugoslawien, dem Tito-Jugoslawien, machte zwar das Nation-building erhebliche Fortschritte, aber die Zeit von 1945 bis 1990 reichte offenbar nicht aus, die gemeinsame Identitätsbildung hin zu einer jugoslawischen Nation unumkehrbar zu festigen. So nahm die Zerschlagung Jugoslawiens durch die Regionalnationalisten und befördert durch ihre äußeren Unterstützer seine menschliche und zivilisatorische Tragödie – einschließlich der Massaker, die von allen Konfliktseiten in unterschiedlichen Ausmaßen zu verantworten waren. Zweifellos stellte das Massaker von Srebrenica 1995, verübt von bosnischen Serben an Muslimen, den zivilisatorischen Tiefpunkt in dem Bruderkrieg dar.
Interessenkonvergenz – Regionalnationalisten und Großmächte
Die äußeren Mächte unterstützten die Zerschlagung des jugoslawischen Gesamtstaates bis hin zum völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg auf die Bundesrepublik Jugoslawien, um nach dem Ende des Kalten Krieges auch in Südosteuropa ihren Einfluss (wieder)herzustellen. Zwischen den Regionalnationalisten und den Großmächten gab es eine Interessenübereinstimmung: Die Atomisierung des südslawischen Staates unter der missbräuchlichen Verwendung des Selbstbestimmungsrechts – „teile und herrsche“ war also die politische Maxime. Denn: Der jugoslawische Staat war zwischen 1918 bis zu seiner ersten Zerschlagung 1941 und ab 1945 bis 1990 nicht nur formal, sondern auch politisch ein souveräner Staat – ein Staat, der tatsächlich Subjekt und nicht Objekt der internationalen Politik gewesen ist. Diesen Status, den genau genommen nur Großmächte für sich faktisch beanspruchen können, war der klugen Neutralitätspolitik der jugoslawischen Führung unter Tito zu verdanken. Titos Jugoslawien gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Organisation der „Bewegung der Blockfreien Staaten“. Auch das heutige Serbien, der Rechtsnachfolger Jugoslawiens, versucht durch eine Neutralitäts- und Schaukelpolitik zwischen dem Westen einerseits und Russland und China andererseits seine Souveränität so weit wie möglich abzusichern. Der Druck auf Serbien, sich in den euro-atlantischen Machtblock einzuordnen, hat mit dem Krieg in der Ukraine nochmals zugenommen. So lehnt Serbien bis heute, obschon EU-Aspirant und trotz wachsenden Drucks aus Washington und Brüssel, die Verhängung von Sanktionen gegen Russland ab. Alle post-jugoslawischen Teilrepubliken, bis auf Serbien und den Sonderfall Bosnien-Herzegowina, haben sich bzw. wurden euroatlantisch orientiert. Damit haben sie im Vergleich zu Serbien ihre souveränen Handlungsfähigkeiten in erheblichem Maße eingebüßt, zumal sie angesichts ihrer staatlichen Größe (Staatsfläche, Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung) ohnehin nicht zu den Global Playern, ja nicht einmal zu den europäischen Playern zählen – im Gegensatz zum früheren Jugoslawien.
Bis heute bestimmt das fatale paternalistische Denken, wonach externe Großmächte als Paten regional-ethnischer Entitäten und deren Partikularinteressen fungieren sollen, die Politik der post-jugoslawischen Völker – ganz so, als ob diese Großmächte ihre Machtprojektion in die Region kostenlos zur Verfügung stellten. Natürlich tun sie das nicht. Solch ein Denken bedeutet nichts anderes als die selbst verschuldete, ja geradezu freiwillige Unterwerfung bzw. die freiwillige Unmündigkeit aus Mangel an Mut, selbstbestimmt zu handeln. Man könnte es auch in Anlehnung an Immanuel Kant als eine Absage an „Sapere aude“ („Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“) bezeichnen.
(West-)Balkan – ein geopolitischer und geokultureller Raum sui generis
Die Möglichkeit, den West-Balkan in irgendeiner Weise zu reintegrieren, die Handlungssouveränität und Unabhängigkeit der Staaten zumindest ein Stück weit zurückzuerlangen, erscheint diesem paternalistischem Gedankenkonstrukt fremd. Der Gedanke, dass der postjugoslawische Raum und darüber hinaus der Balkanraum weder Westen noch Orient noch eindeutig Osten sind, sondern ein Phänomen sui generis, also eine eigene Kategorie bildend, wurde und wird weder politisch noch wissenschaftlich oder medial bei uns im Westen, aber auch nicht im Balkanraum selbst ernsthaft in Betracht gezogen. Dabei verkörperte der jugoslawische Staat genau dieses Phänomen sui generis. Kritiker des jugoslawischen Staates wenden ein, er sei gescheitert, da er ein künstliches Konstrukt sei. Nun, dass er gescheitert ist, ist offensichtlich. Aber das Argument eines „künstlichen Konstruktes“ als Ursache des Scheiterns zu benennen, ist abenteuerlich. Und wenn Jugoslawien ein künstlicher Staat und aufgrund dessen nicht überlebensfähig gewesen sein soll, dann träfe diese Diagnose nicht minder auf Bosnien-Herzegowina, das „Jugoslawien im Kleinen“, zu. Im Übrigen ist jeder Staat ein soziales und somit von Menschen geschaffenes, mithin künstliches Produkt.
Tatsächlich ist Jugoslawien an internen und externen Faktoren gescheitert, die ich oben ansatzweise ausgeführt habe. Aber auch die westlichen Staatsprojekte Bosnien-Herzegowina und das Kosovo sind faktisch gescheitert, weil die Interessengegensätze nicht ausgeräumt wurden. Vielmehr wurden diese durch die westliche Intervention sogar verfestigt, indem die Bevölkerungsgruppen, die sich an den Westen anlehn(t)en, ihre Interessen weitgehend verfolgen können, während serbische Interessen missachtet werden. Der Westen lässt sich seine beiden künstlich am Leben erhaltenen Protektorate einiges kosten – mit westlichen Subventionen (Steuergeldern) und militärischer Präsenz. Die westliche Parteilichkeit ist wesentlich entscheidend dafür, dass Serbien sich nicht wirklich dem Westen annähert. Eine kluge westliche Politik würde anders vorgehen – eine kluge, wohlgemerkt.
Reintegration des (West-)Balkans
Ein Neuanfang, ein politisch und wirtschaftlich integrierter Balkanraum, wie auch immer die Integrationsdichte aussehen mag, wäre eine Option, diese Ecke Europas zu stabilisieren. Und auch für die EU wäre ein integrierter, stabiler und produktiver (West-)Balkan einem atomisierten Balkan mit Rentierstaateneigenschaften vorzuziehen. Denn die wirklichen Herausforderungen, wie die Bekämpfung der Klimakatastrophe und der damit verbundenen Zerstörung ganzer Regionen auf der Welt, sind für Europa und den Globus objektiv gesehen wichtiger, als sich dem Bruderzwist auf dem Balkan zu widmen oder gar gewollt oder ungewollt zu befördern, um fragwürde geopolitische Sandkastenspielchen zu pflegen.
Dass es bei einem wie auch immer gearteten Reintegrationsprojekt des westlichen Balkans nicht ohne Interessenkonflikte gehen wird, liegt in der Natur der Sache. Aber genau diese müssen per Verhandlungen moderiert und aufgelöst, zumindest aber eingehegt werden – von diesen Akteuren für diese Akteure. Das ist eben Staatskunst. Auf diese Weise werden die Interessendivergenzen zwischen den deutschen Bundesländern ebenso wie die Interessenkonflikte in der EU moderiert. Und niemand käme auf die Idee, zu behaupten, die Interessenkonflikte zwischen Bayern und NRW bewiesen, der deutsche Gesamtstaat sei nicht funktionstüchtig. Und der Interessenausgleich in der föderalen Struktur Deutschlands geschieht ganz ohne Einflussnahme externer „Ordnungsmächte“.
Dass Großmächte gerne ihre „Unterstützung“ leisten wollen, entspricht ihrem Machtanspruch, eine Großregion oder den Globus gemäß ihren Interessen „gestalten“ zu wollen bzw. die kleineren Staaten in ihre Abhängigkeit zu bringen. Dass aber die Volksgruppen und Kleinstaaten diese Einmischung in dem naiven Glauben, davon zu profitieren, einfordern – sich mithin auf dem Silbertablett als Objekt der internationalen Machtpolitik präsentieren – ist das eigentliche Problem. Es bringt die Menschen auf dem Balkan mittel- und langfristig indessen nicht weiter, sondern festigt ihre selbstverschuldete und dauerhafte Unmündigkeit. Es degradiert sie nur weiterhin zum Spielball externer Akteure.
Auch Deutschland fand durch einen langen und nicht immer konfliktfreien Prozess 1871 seine Staatlichkeit. Die deutsche Kleinstaaterei hatte ausgedient.
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