Irgendwie will die deutsche Justiz sich nicht mit der Rolle des Bundeskanzlers beim Cum-Ex-Steuerraubzug der Hamburger Warburg-Bank beschäftigen. Ein frisch aufgetauchter Vermerk der Kölner Staatsanwaltschaft könnte die Erklärung liefern: Demnach agierten die Ermittler bei ihrem Prüfverfahren „mit Rücksicht auf die Stellung“ des Regierungschefs wohl nicht ganz so akribisch wie üblich. Diese Darstellung stammt ausgerechnet von jener Oberstaatsanwältin, die von langer Hand in ihrem Fahndungseifer ausgebremst werden sollte. Zufälle gibt’s. Von Ralf Wurzbacher.
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Der sogenannte Rechtsstaat kann so schön ungerecht sein. Einfachen und unliebsamen Bürgern begegnet er für gewöhnlich mit voller Härte und unter Aufbietung seines ganzen Straf- und Disziplinierungsarsenals. Aber bei Verfehlungen der Mächtigen und Reichen lässt er schon mal alle Fünfe gerade sein. Schwamm drüber! Der Cum-Ex-Skandal und speziell die Rolle, die dabei Olaf Scholz (SPD) als mutmaßlicher Amtshelfer beim millionenschweren Steuerdiebstahl durch ein Hamburger Geldhaus gespielt hat, liefern hierfür besten Anschauungsunterricht. Und wäre die Sache nicht so ernst, könnte man fast darüber lachen: Der Kaiser ist splitterfasernackt, ein gewaltiger Ständer entstellt sein Gesicht, das ganze Volk zeiht ihn der Lüge – aber er trotzt: „Ich kann mich nicht erinnern.“ Das ist die Verteidigungsmasche eines Kleinkindes und keine Mama dieser Welt lässt so etwas durchgehen. Aber die deutsche Justiz schon.
Warum das so ist und wie der Bundeskanzler dem eigentlich dringend gebotenen Interesse der Ermittlungsbehörden entgehen konnte, zeichnet sich inzwischen immer deutlicher ab. Das Stern-Magazin berichtete in der Vorwoche (hinter Bezahlschranke) über ein 20-Seiten-Papier der Kölner Staatsanwaltschaft, in dem von „Ungereimtheiten in den Aussagen“ und einer möglicherweise „aktiven Einflussnahme“ des damals Ersten Bürgermeisters der Hansestadt Hamburg beim Verzicht auf Steuerrückzahlungen im Zusammenhang mit den illegalen Cum-Ex-Deals der Warburg-Bank die Rede ist. Zitat: „Insbesondere die auffällig häufige Berufung auf Erinnerungslücken sowie die durchgehend vorgetragene Behauptung, es habe trotz des gewichtigen und brisanten Steuerfalls der M.M. Warburg nahezu keine Kommunikation oder Akteneinträge gegeben, sind wenig nachvollziehbar.“
Gutgläubige Staatsanwälte
2016 hatte die Hamburger Finanzbehörde auf eine Steuernachforderung in Höhe von 47 Millionen Euro gegen das Geldhaus verzichtet und allerhand spricht dafür, dass Scholz dabei als Vermittler zwischen Warburg-Chef Christian Olearius und Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD), heute Hamburgs Stadtoberhaupt, fungiert hat. Als die Sache ruchbar wurde, stritt Scholz zunächst rundweg ab, sich seinerzeit mit dem Bankier getroffen zu haben. Dann tauchten Olearius’ Tagebücher auf, worauf er scheibchenweise drei Zusammenkünfte einräumte, wobei ihm der Inhalt der Gespräche angeblich nicht mehr erinnerlich sei. Die Hamburger Justiz überzeugt das. Im Dezember 2022 lehnte die Staatsanwaltschaft die Aufnahme von Ermittlungen gegen den Kanzler ab, drei Monate danach bestätigte die Generalstaatsanwaltschaft den Entscheid. Hintergrund war eine Anzeige des renommierten Strafrechtlers Gerhard Strate, der Scholz vorwirft, im Finanzausschuss des Bundestages und im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft widersprüchliche Auskünfte hinsichtlich seines Erinnerungsvermögens gemacht zu haben.
Was überraschte: Auch die Kölner Staatsanwaltschaft, namentlich Deutschlands führende Cum-Ex-Fahnderin Anne Brorhilker, setzte vor zehn Monaten einem Prüfverfahren in der Sache ein Ende, „mangels Anfangsverdacht“, wie es hieß, und weil die Auswertung der „zahlreich sichergestellten Postfächer von Mitarbeitern des Finanzamtes und der Finanzbehörde sowie von Herrn Dr. Tschentscher und Herrn Scholz keine Unterlagen zutage gefördert (haben), die Rückschlüsse auf etwaige Gesprächsinhalte“ ermöglichten. Diese Begründung entsprach wohl nicht den Tatsachen, denn heute stellt Brorhilker die Dinge ganz anders dar.
Finger weg!
Die Oberstaatsanwältin hat besagtes Schreiben verfasst, das dem Stern zugespielt wurde und das vor zwei Monaten als sogenannter Vermerk an Scholz’ Anwalt ging. Anlass war offenbar ein Versäumnis ihrer Behörde: Zwar hatte man zum Jahresende entschieden, die Angelegenheit ruhen zu lassen, aber vergessen, die Gründe dafür in schriftlicher Form darzulegen. Das hat Brorhilker auf ihre ganz spezielle Art nachgeholt: Statt zu erklären, warum sie gegen Scholz nicht vorgehen will, lieferte sie im Gegenteil reichlich Argumente, weshalb man die Ermittlungen hätte forcieren müssen. Überdies formuliert sie in aller Klarheit, warum das nicht passierte: „Mit Rücksicht auf die Stellung“ von Scholz „erschien daher ein weiteres Zuwarten (…) nicht länger vertretbar“.
Ein „Zuwarten“ hätte es wohl vor allem dafür gebraucht, die vorhandenen Beweismittel eingehend zu prüfen. Das betraf etwa das E-Mail-Postfach der Scholz-Vertrauten Jeanette Schwamberger. Dieses komplett zu durchforsten, hätte Zeit erfordert, Zeit, die Brorhilker wegen der engen Fristsetzung durch den Kölner Generalstaatsanwalt nicht hatte. Der Stern deutet den Inhalt des Vermerks jedenfalls so: „In Köln meinte man, genügend Anhaltspunkte zu haben, um sich die Rolle von Scholz in der Warburg-Affäre noch genauer anzuschauen. Aber das schien trotz aller Indizien gegen den Kanzler nicht erwünscht.“ Das Magazin verweist hier auf die Rolle von Nordrhein-Westfalens Justizminister Benjamin Limbach. Laut „Insidern“ sei die Ablehnung von Ermittlungen gegen den Kanzler „auch im Sinne“ des Grünen-Politikers gewesen.
Düsseldorfer Lieferengpässe
Das passt ins Bild: Wie die NachDenkSeiten hier und hier berichteten, war Limbach drauf und dran, Brorhilker zu entmachten. Die Cum-Ex-Hauptabteilung H, der sie bisher in Alleinverantwortung vorsteht, sollte aufgespalten und zur Hälfte in die Zuständigkeit des mit der Materie wenig vertrauten Oberstaatsanwalts Ulrich Stein-Visarius fallen, der aktuell noch im Justizministerium tätig ist. Wie Scholz steht auch Limbach im Verdacht, ein Lügner zu sein. Praktisch widerlegt ist so seine Version, die Pläne zur Aufteilung der Cum-Ex-Einheit gingen ohne sein Zutun auf den Chef der Kölner Staatsanwaltschaft zurück. Dem widersprach sogar die Kölner Generalstaatsanwaltschaft: Bei der Neuordnung habe es sich „um Strukturüberlegungen des Ministeriums der Justiz des Landes NRW“ gehandelt, ließ diese verlauten.
Der Druck auf Limbach wurde am Ende doch zu groß: Laut Presseberichten vom Sonntag hat der Minister sein Vorhaben auf Eis gelegt. Darüber informierte er die rechtspolitischen Sprecher der Fraktionen im Landtag in einem Brief, der der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vorliegt. Limbach hatte sich am Donnerstag in einer Sondersitzung des Rechtsausschusses kritischen Fragen zu seiner Personalpolitik stellen müssen. Ob die Angelegenheit damit erledigt ist oder ihm selbst womöglich weiteres Ungemacht droht, bleibt abzuwarten.
Fragen wirft nämlich weiterhin seine Rolle als selbsternannter „Aktenlieferant“ für den in der Warburg-Affäre um Aufklärung bemühten Hamburger Untersuchungsausschuss auf. Die Abgeordneten warten seit über einem Jahr auf Ermittlungsmaterial aus Köln. Als sie schließlich mit einer Klage drohten, übernahm Limbach demonstrativ das Heft des Handelns, schickte eine Delegation nach Hamburg mit dem Versprechen im Gepäck, die Daten schnellstens zu übermitteln. Und per Brandrede im Rechtsausschuss des Düsseldorfer Landtags schob er die Schuld für die Hängepartie der Kölner Staatsanwaltschaft in die Schuhe. In einer internen „Stellungnahme“, die in der Kölner Justiz kursiert und aus der Focus Online umfänglich zitierte, schildert Brorhilker die Abläufe anders. Demnach hatte ihr Haus die fraglichen Daten und Asservate schon zwischen März und Mai dieses Jahres ans Ministerium nach Düsseldorf überstellt, wo diese dann monatelang versauerten.
„Das ist alles merkwürdig“
Hat Limbach die Akten womöglich zurückgehalten und ein Affentheater inszeniert, damit keiner merkt, dass er selbst die Aufklärung im Warburg-Komplex behindert? In Justizkreisen wundere man sich, schrieb Focus Online: „Man fragt sich, warum der Minister einen solchen Rauch wegen nichts veranstaltete?“ Den Bundeskanzler vorm Sturz zu bewahren und seiner eigenen Karriere einen Schub zu verpassen, wäre fraglos mehr als „nichts“. Überlegungen in diese Richtung sind natürlich rein spekulativ. Wobei in diesen Tagen doch allerhand zusammenkommt: Die Cum-Ex-Chefanklägerin sollte demontiert werden, der verantwortliche Minister verstrickt sich in Widersprüche und knickt schließlich ein und aus Hamburg kommt die Ansage, dass die entscheidenden Unterlagen aus Köln immer noch nicht da sind, insbesondere die Inhalte der E-Mail-Postfächer aus dem engsten Umfeld von Scholz.
Dabei sind die wahrscheinlich der Schlüssel, um die „Vergesslichkeit“ des Kanzlers endgültig als Märchen zu entblößen. Wie der Stern schon im August unter Berufung auf E-Mails seiner Büroleiterin Schwamberger berichtet hatte, konnte diese einen Kalendereintrag nicht finden, mit dem ihr Chef zuvor ein Treffen mit Olearius im November 2017 bestätigt hatte. O-Ton: „Das ist alles merkwürdig, aber wir sind alle Kalender durch.“ Christian Leye von der Bundestagsfraktion Die Linke sowie sein früherer Fraktionskollege Fabio De Masi haben in diesem Zusammenhang mit einer Kleinen Anfrage bei der Bundesregierung nachgebohrt.
Leye äußerte sich dazu gegenüber den NachDenkSeiten: „Scholz ließ im Februar 2020 über seinen Sprecher gegenüber der Öffentlichkeit einen Kalendereintrag vortäuschen, um ein Treffen mit Warburg-Gesellschafter Olearius zu bestätigen.“ Den Eintrag gab es damals aber gar nicht mehr oder hatte es mutmaßlich nie gegeben. Scholz jedenfalls musste dessen Fehlen vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss bestätigen. „Damit ist auch seine Erinnerungslücke widerlegt, denn ich kann einen Termin nur dann ohne eine Aufzeichnung bestätigen, wenn ich mich erinnere“, bemerkte Leye.
Immer wieder Wissenslücken
Ein zweiter Punkt der Anfrage betrifft frühere Angaben des Hamburger Senats, wonach dieser Ende 2019 beim damaligen Finanzminister zur Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage der Hamburger Linksfraktion wegen Treffen mit Olearius nachgefragt hatte. Das Scholz-Ministerium antwortete darauf nicht. Trotzdem behauptete Sprecher Steffen Hebestreit später, man wisse nicht, warum der Senat die Treffen damals nicht eingeräumt hatte. Auch darin sehen Leye und De Masi „eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit“. Für Leye ist die Sache klar: „Die Bundesregierung kann die Widersprüche von Olaf Scholz nicht widerlegen. Wir haben einen Bundeskanzler, der die Öffentlichkeit nachweislich belogen hat.“
Die Regierung kontert wie üblich mit Wissenslücken. „Vorgänge im Zusammenhang mit einem Kalendereintrag zu diesem Treffen sind im Einzelnen nicht mehr rekonstruierbar“, heißt es in ihrer Antwort auf die Anfrage. Auf Nachfragen durch Florian Warweg in der Bundespressekonferenz beschied der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner am vergangenen Donnerstag: „Ich äußere mich nicht zu Themen außerhalb der Zuständigkeit des Bundeskanzlers.“ Was Pinocchio wohl dazu sagen würde?
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