Es gibt Klischees, die sind nicht totzukriegen. Ins mythische Reich der politischen Klischees gehört die häufig gehörte Behauptung, die AfD würde vor allem vom „abgehängten Prekariat“ – vorzugsweise im Osten – gewählt. Erst vor kurzem griff auch DIW-Chef Marcel Fratzscher auf dieses Klischee zurück, um zu belegen, dass AfD-Wähler gegen ihre eigenen Interessen wählten, sei die AfD doch eine zutiefst neoliberale Partei, deren Programm sozioökonomisch auf eine Umverteilung von unten nach oben hinausliefe. Letzteres stimmt zweifelsohne, Ersteres gehört jedoch wie so vieles in diesem Kontext ins Reich der Mythen und Märchen; und die werden nicht wahrer, wenn man sie wiederholt. Von Jens Berger.
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Es ist schon amüsant. Um seine Thesen von den typischen AfD-Wählern zu untermauern, deren „Einkommen ebenso wie ihre Bildung eher gering bis mittelhoch [sind]“, belegt Marcel Fratzscher dies in seinem von der ZEIT abgedruckten Aufsatz mit „verschiedenen Umfragen und Studien“ und verweist dabei auf eine Seite der Bundeszentrale für politische Bildung. Dort heißt es dann jedoch wortwörtlich …
Bezogen auf die Sozialstruktur der AfD-Wählerschaft kommen die vorliegenden Untersuchungen zu teilweise disparaten Befunden, was darauf hindeutet, dass monokausale Erklärungsversuche hier zu kurz greifen. So führen z.B. weder eine hohe Arbeitslosenquote noch ein höherer Ausländeranteil per se zu einer größeren Wahlbereitschaft der AfD. Im Westen scheint die AfD vor allen dort zu punkten, wo die Wähler ein unterdurchschnittliches Haushaltsaufkommen aufweisen und/oder einer Tätigkeit in der Industrie nachgehen. Im Osten ist sie in ländlichen Regionen stark, die unter Abwanderung leiden und ökonomisch abgehängt zu werden drohen. Arbeiter und Arbeitslose sind unter den Wählern zwar überdurchschnittlich vertreten, machen aber nur ein Viertel der AfD-Gesamtwählerschaft aus, während die übrigen drei Viertel auf Angestellte, Beamte und Selbständige entfallen. Auch bei den formalen Bildungsabschlüssen dominieren die mittleren Ränge.
Quelle dieser Aussagen ist der Fachartikel „Die Wählerschaft der AfD: Wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie?“ der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer und Jürgen Hofrichter. Die Zahlen aus dieser Studie sind durchaus interessant. Ihnen zufolge wird die AfD zwar in der Tat relativ häufiger von Arbeitern als von Beamten, Angestellten und Selbstständigen gewählt. Betrachtet man jedoch die absoluten Zahlen, so sind mehr als die Hälfte (52 Prozent) der AfD-Wähler Angestellte und es gibt mehr Wähler mit einem hohen Bildungsabschluss (32 Prozent) als mit niedrigem (23 Prozent). Doch diese Zahlen beziehen sich auf die Bundestagswahl 2016, sind also gerade in unserer schnelllebigen Zeit ziemlich veraltet. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Fratzscher als Beleg für seine sozioökonomische Kartierung der AfD-Wähler eine Studie heranzieht, mit der man das Märchen vom armen, ungebildeten AfD-Wähler unmöglich herauslesen kann.
Aus demselben Jahr stammt übrigens eine Studie des IW, die das genaue Gegenteil aussagt und herausgefunden haben will, dass die AfD – mit einem Anteil der Besserverdienenden von 34 Prozent unter ihren Sympathisanten – hinter der FDP die zweitbeliebteste Partei unter den Top-Verdienern ist. Laut IW sind AfD-Wähler „weder arm noch ungebildet“. Doch auch das IW bezieht seine Daten aus einer Zeit, in der die AfD noch als „Partei der Professoren“ galt und sicherlich ein anderes Wählerklientel ansprach. Auch wenn diese Studie dem Märchen vom armen, ungebildeten AfD-Wähler klar widerspricht, so lässt sich mit ihr mangels aktueller Daten wenig über die jetzige Lage sagen.
Dazu ließe sich am ehesten eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa heranziehen. Doch die erkennt in puncto Einkommen und Bildungsabschluss keinen großen Unterschied zwischen AfD-Wählern und der Gesamtbevölkerung. Auffällig sind lediglich ein demographischer Überhang in den mittleren Alterskategorien und ein klarer Zusammenhang zwischen der Größe des Wohnorts und der Neigung zur AfD – in Orten mit weniger als 5.000 Einwohnern gaben im Juni dieses Jahres 25 Prozent der Befragten an, die AfD wählen zu wollen, während es in den Metropolen nur 12 Prozent waren. Überraschend ist das alles nicht. Wenn man die AfD denn irgendwie aufgrund ihrer Wählerschaft in eine demoskopische Schublade stecken wollte, dann wäre dies die einer „Volkspartei“ in den ländlichen Gebieten. Wobei sich das Label „Volkspartei“ hier nur auf die gesellschaftlichen Schichten der Anhängerschaft anwenden lässt, also eine rein demoskopische Kategorie ist. Unterschiedliche Weltanschauungen werden von der AfD nicht vertreten und ein wie auch immer gearteter Ausgleich unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen findet innerhalb der Partei auch nicht statt.
Warum eine reaktionäre Partei mit neoliberalen Inhalten bei einer demoskopisch derart breitgefächerten Wählerschaft punkten kann, ist eine andere Frage, der wir vor einigen Wochen bereits nachgegangen sind. Und ja – in diesem Punkt hat Marcel Fratzscher nicht unrecht. Wer selbst zu einer abgehängten oder vom Abstieg bedrohten sozioökonomischen Gruppe gehört, wählt gegen seine eigenen Interessen, wenn er sein Kreuz bei der AfD macht. Wo Fratzscher jedoch unrecht hat: Dies lässt sich keinesfalls so einfach auf die AfD-Wähler oder die AfD-Sympathisanten übertragen, die in Umfragen angeben, die AfD demnächst wählen zu wollen. De facto ist die AfD in puncto Anhängerschaft vielmehr bereits wesentlich weiter in der Mitte angekommen, als es den Anhängern des politischen Status quo lieb sein kann.
Wer will, kann hier durchaus historische Parallelen sehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der jungen Bundesrepublik eine ähnliche Mythenbildung zur NSDAP-Wählerschaft. Wer sich eher links verortete, verwies darauf, dass die NSDAP 1933 bei Beamten und der traditionellen Mittelschicht besonders viele Stimmen bekam. Wer sich eher rechts verortete, verwies darauf, dass auch sehr viele Arbeiter und vor allem Erwerbslose die NSDAP wählten. Beides ist richtig. Doch der naheliegende Schluss, dass die NSDAP aus rein demoskopischer Sicht tatsächlich eine Volkspartei war, die proportional zahlreiche Wähler aus allen Schichten hatte, setzte sich erst Jahrzehnte später als wissenschaftlicher Konsens durch. Will man dieser Parallele folgen, müsste man heute wohl schlussfolgern, dass die Einordnung der AfD-Wähler als „arm und ungebildet“ ein kognitiver Schnellschuss aus der elitären Ecke ist. Und da mag ja durchaus was dran sein.
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