Russland, das seit 1991 eine neutrale Position im Karabach-Konflikt eingenommen hat und seit 2020 mit einer 2.000 Mann starken Friedenstruppe in Karabach vertreten ist, hat nicht viele Mittel, um die humanitäre Situation in „Arzach“ zu verbessern. Die armenische Führung hat sich trotz über hundert Jahre währender guter Beziehungen von Moskau abgewendet und sucht ihr Heil jetzt beim „kollektiven Westen“, ohne dass dieser Armenien Versprechungen wirtschaftlicher oder militärischer Art gemacht hat. Eine Analyse von Ulrich Heyden, Moskau.
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Seit dem Angriff der Armee Aserbaidschans auf die international nicht anerkannte „Republik Nagorni-Karabach“ am 19. September leben 120.000 Menschen – darunter 30.000 Kinder – in der „Bergrepublik“ unter „höchstem Risiko“, erklärte der ehemalige Ministerpräsident von Karabach, Ruben Bardanjan. Die Hauptstadt Stepanakert ist seit zehn Monaten von aserbaidschanischen Truppen blockiert. Vor der Blockade seien täglich 400 Laster mit Waren nach Stepanakert gekommen, jetzt kämen täglich nur noch zwei. 13.550 Karabach-Einwohner wurden nach Angaben der armenischen Regierung nach Armenien evakuiert und in provisorischen Unterkünften untergebracht (Video vom Kulturzentrum der armenischen Stadt Goris).
Die Regierung von Aserbaidschan verspricht die „Reintegration“ der Bevölkerung von Karabach. Doch ob die Armenier in Karabach ihre Sprache und Kultur weiter pflegen können, ist mehr als ungewiss. Denn die Beziehungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern sind seit den Pogromen an Armeniern 1988 im aserbaidschanischen Sumgait gespannt. 1991 erklärte sich Berg-Karabach, dass nur durch einen Korridor mit Armenien verbunden ist (Karte: Artsakh Republic 1994-2020 – Нагорно-Карабахская Республика — Википедия (wikipedia.org)), für unabhängig von Aserbaidschan.
Tote in Karabach
Baku bezeichnete den Angriff seiner Truppen auf Karabach am 19. September als „antiterroristische Operation“ zur „Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“. Der Angriff dauerte nur einen Tag. Bereits einen Tag später begannen Kapitulationsverhandlungen mit den Vertretern von Karabach.
Mit seinem Angriff, an dem 60.000 aserbaidschanische Soldaten teilnahmen, brach Baku den Waffenstillstand mit Karabach, der nach dem Angriff der aserbaidschanischen Armee im Herbst 2020 mit Hilfe von Moskau ausgehandelt worden war.
Bei dem mit Artillerie und Luftwaffe durchgeführten Angriff wurden nach russischen Medienberichten 31 Menschen in Karabach getötet. Es gab zahlreiche Verletzte und eine unbekannte Zahl von Zivilisten gilt als vermisst. Außerdem wurden sechs Soldaten der russischen Friedenstruppe getötet, die den im Herbst 2020 geschlossenen Waffenstillstand zwischen Karabach und Aserbaidschan überwachte.
Der Präsident von Aserbaidschan, Ilham Alijew, entschuldigte sich bei Wladimir Putin persönlich für den Tod der russischen Soldaten. Alijew versicherte Putin, für die Sicherheit der Bevölkerung von Karabach werde in Zusammenarbeit mit der russischen Friedenstruppe gesorgt.
Doch es kam zu weiteren Tragödien. Am 26. September explodierte in Karabach ein Benzin-Depot. Nach Angaben von Sputnik-News wurden 275 Menschen verletzt. Sieben Menschen starben.
Kapitulation nach „Antiterroristischer Operation“
Am 20. September – nur einen Tag nach Kriegsbeginn – fuhr eine Delegation von Karabach in die aserbaidschanische Stadt Jewlach, wo von ihr eine Kapitulationserklärung unterschrieben wurde.
Die Vertreter von Karabach verpflichteten sich, die 2.500 Mann starke Karabach-Armee aufzulösen. 1.000 Karabach-Soldaten waren bei dem aserbaidschanischen Angriff bereits gefallen oder verwundet worden. Der Karabach-Armee war außerdem die Munition ausgegangen.
Es wurde ein Waffenstillstand und die vollständige Entwaffnung der „Arzach“-Streitkräfte vereinbart. Die Übergabe von Panzern und Schusswaffen der Karabach-Einheiten wird von der russischen Friedenstruppe überwacht. Aserbaidschanische Behörden veröffentlichten Fotos von beschlagnahmten Waffen der Karabach-Streitkräfte.
Die russische Friedenstruppe übernahm die Versorgung der Einwohner Karabachs mit Lebensmitteln. Aserbaidschan behauptet, es liefere ebenfalls Lebensmittel an die Bevölkerung, doch Beweise für diese Behauptung wurden bisher nicht vorgelegt.
Russischer Kommentator: „Russland kann nicht armenischer sein als die Armenier selbst“
Baku nutzte für den Angriff auf die „Bergrepublik“ einen juristischen „Rückzieher“ von Jerewan: Der Ministerpräsident Armeniens, Nikol Paschinjan, der 2018 im Laufe einer „bunten Revolution“ an die Macht gekommen war, hatte im Oktober 2022 in Prag erklärt, dass Nagorni-Karabach zum Territorium von Aserbaidschan gehört. Bis 2022 hatte Paschinjan erklärt, Karabach gehöre nicht zu Aserbaidschan.
Als nach dem Angriff von Aserbaidschan Vorwürfe aus Jerewan kamen, Russland hätte nichts zum Schutz der Menschen in Karabach getan, erklärte der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, Jerewan selbst hätte erklärt, dass Karabach zu Aserbaidschan gehöre.
Russland hatte immer die Position vertreten, dass Karabach Teil von Aserbaidschan ist. Moskau hatte aber in den Friedensverhandlungen der letzten Jahrzehnte immer eine neutrale Position eingenommen, die dem Ziel diente, eine humane Lösung für die Bevölkerung von Karabach auszuhandeln. Zu einem Kompromiss war aber Jerewan bis 2022 nicht bereit.
In Teilen der politisierten russischen Bevölkerung kam es angesichts des zurückhaltenden Kurses des Kreml im Konflikt um Karabach zu Unmutsäußerungen. Zu diesem Unmut erklärte im russischen Radio-Sender „Goworit Moskwa“ ein Sprecher, „Russland kann nicht armenischer sein als die Armenier selber“.
Zunehmende Spannungen zwischen Jerewan und Moskau
Die Führung Armeniens ist in den letzten Wochen demonstrativ auf Distanz zu Russland gegangen. Kennzeichnend dafür waren zwei Ereignisse.
Am 7. September wurden in Armenien der prorussische Blogger Mikael Badaljan und der Journalist des russischen Portals „Sputnik“, Aschot Geworkjan, festgenommen. Dem Sputnik-Journalisten warf man Waffenhandel vor. Das russische Außenministerium reagierte auf die Verhaftung mit scharfem Protest.
Vom 11. bis 20. September führten die armenischen Streitkräfte zusammen mit US-Streitkräften das Manöver „Eagle Partner 2023“ durch.
Straßenproteste in Jerewan
In Jerewan gibt es seit der Kapitulation der Streitkräfte von Karabach täglich Proteste und Straßenblockaden. Die Demonstranten werfen dem armenischen Ministerpräsidenten Paschinjan „Verrat“ vor. Die armenische Polizei nimmt täglich Protestierende fest.
Für die Bevölkerung von Armenien ist die erneute Niederlage in Karabach nur schwer zu verkraften, denn im Krieg 2020, als Aserbaidschan Karabach mit Söldnern aus Syrien und türkischen Bayraktar-Drohnen angriff, kämpften viele Bürger Armeniens auf Seiten der Streitkräfte von Nagorni-Karabach. Tausende Armenier fielen 2020 im Kampf. Zu der Stimmung in Karabach und Armenien 2020 siehe auch meine Videoreportage, die ich vor Orte drehte.
Blitzableiter Russland
Den Vorwurf des „Verrats“ versuchte der armenische Ministerpräsident Paschinjan am 24. September mit scharfen Angriffen gegen Russland abzuwehren. Die Analyse der Situation habe gezeigt, so Paschinjan, „dass das Sicherheitssystem und die Verbündeten, auf die wir lange hofften, es sich zur Aufgabe gemacht haben, unsere Verletzlichkeit zu zeigen und die Unmöglichkeit Armeniens ein unabhängiger Staat zu sein.“ Man wolle Armenien zu einer Kolonie machen. Mit „man“ war Russland gemeint.
Armenien ist seit dem Ende der Sowjetunion mit Russland über das Verteidigungsbündnis ODKB und die eurasische Wirtschaftsgemeinschaft verbunden.
Armenien müsse seine Außenpolitik jetzt neu ausrichten, erklärte Paschinjan. Armenien verstärkt jetzt seine Kontakte zum „kollektiven Westen“, der schon seit langem mit seinen Beratern in Armenien aktiv ist.
Doch was kann der Westen Armenien anbieten, fragt der russische Kommentator Pjotr Akopow. Der Westen könne Armenien nicht aus seiner wirtschaftlichen Dauerkrise heraushelfen. Und die Verbindung zu Russland könne Jerewan nicht kappen, da in Russland mehr Armenier leben als in Armenien selbst.
Russische Kommentatoren weisen außerdem darauf hin, dass Karabach von Armenien nie als Subjekt des Völkerrechts anerkannt wurde. Auch haben westliche Staaten eine Anerkennung von Karabach als Subjekt des Völkerrechts nicht in Aussicht gestellt.
Vertreter Russlands argumentieren, man habe Jerewan in der Karabach-Frage nicht unterstützen können, da der armenische Ministerpräsident selbst erklärt hat, dass Karabach zu Aserbaidschan gehört.
Russland ist an Stabilität an seiner Südgrenze interessiert. Diese Stabilität garantiert zurzeit der türkische Präsident Erdogan, der, um Putin zu treffen, vor kurzem sogar nach Sotschi flog. Dass Armenien unter Paschinjan immer mehr in den Einflussbereich westlicher Think Tanks und Militärs rückt und Russland seinen Einfluss im Kaukasus vollends zu verlieren droht, ist für die Führung in Moskau ein viel größeres Problem als die militärischen Operationen von Aserbaidschan gegen Nagorni-Karabach, die Russland nicht direkt betreffen.
Treffen der Präsidenten in Granada
Nach russischen Medienberichten ist für den 5. Oktober ein Treffen zwischen dem Präsidenten von Aserbaidschan und dem Ministerpräsidenten Armeniens in der spanischen Stadt Granada geplant. Auf diesem Treffen wolle Jeweran die Frage der Sicherheit für die Menschen in Karabach in den Mittelpunkt stellen. Der Ministerpräsident Armeniens erklärte, wenn die Bemühungen scheitern, mit internationaler Hilfe für die Sicherheit der Menschen in Karabach zu sorgen, werde die Regierung von Armenien „die Aufgabe übernehmen, die Brüder und Schwestern aus Nagorni-Karabach in Armenien aufzunehmen“. Paschinjan brachte auch die Entsendung einer UNO-Friedenstruppe ins Gespräch.
Es stellt sich die Frage, warum der Ministerpräsident Armeniens nicht eher über eine Lösung für die Bevölkerung von Karabach nachgedacht hat und die Menschen jetzt im Hauruck-Verfahren in Behelfsunterkünften untergebracht werden müssen. Wollte er Russland medienwirksam vorführen?
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Titelbild: Viacheslav Lopatin / shutterstock.com