Die aktuelle Debatte um Flüchtlingsbewegungen verharrt bei den Symptomen. Unter den Tisch fallen die Ursachen – und da sind vor allem die Folgen von westlichen Kriegen zu nennen sowie die Folgen von westlicher Sanktionspolitik, denn diese Aspekte treiben zahllose Menschen in die Flucht. Wer die Sanktionen und Kriege – unter anderem gegen Afghanistan, Syrien, Irak und Libyen – politisch oder medial verteidigt hat, ist mitverantwortlich für die Fluchtbewegungen und könnte sich jetzt die Krokodilstränen sparen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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In der aktuellen Debatte um Flüchtlinge dreht es sich vor allem um akute Symptome wie Wohnungsmangel und wie man ihrer organisatorisch am besten Herr wird. Dabei werden die Fluchtbewegungen oft wie eine höhere Gewalt dargestellt, etwa als „Wellen“, die sich (einfach so) „bilden“ und zu uns „herüberschwappen“. Diese Darstellung der höheren Gewalt ist falsch, die Flüchtlingskrisen bei uns sind zum ganz überwiegenden Teil vorhersehbare Folgen von konkreter militaristischer Politik westlicher Staaten oder ihrer Verbündeter: Auch wenn medial manchmal Menschen aus Zentralafrika im Fokus stehen – die (außer den Ukrainern) größten Gruppen, die in Deutschland Asyl beantragen, kommen aus Syrien und Afghanistan, beides Schauplätze von westlichen „Interventionen“, die hierzulande viel Unterstützung von politischer und medialer Seite erfahren hatten.
Die große Gruppe der Ukrainer wird in dieser Statistik nicht abgebildet, weil diese einen Sonderstatus haben, wie die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Reem Alabali-Radovan (SPD), erklärte: Menschen aus der Ukraine müssen demnach kein Asylverfahren durchlaufen, sie haben sofort ähnliche Rechte wie anerkannte Flüchtlinge. Die EU habe nach Beginn des Ukrainekrieges mit der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie ermöglicht, dass in Deutschland § 24 im Aufenthaltsgesetz für Geflüchtete aus der Ukraine aktiviert worden sei. Auf den Ukrainekrieg, der sich in vielen Aspekten von den oben angesprochenen Kriegen etwa in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien unterscheidet, wird weiter unten eingegangen.
Warnungen galten als Verschwörungsmystik
Wer damals in den Frühphasen des Afghanistan- oder Syrienkrieges vor den voraussehbar aus ihnen entstehenden Flüchtlingsströmen gewarnt hatte, musste sich oft (zugespitzt) als antiamerikanischer Verschwörungsmystiker diffamieren lassen – zum Teil vom gleichen Personal, das heute die fehlende Humanität in der Flüchtlingspolitik beklagt. Zusätzlich bleiben die damals verantwortlichen Kriegstreiber aus Politik und Medien in der aktuellen Debatte unbehelligt, weil eine Verbindung zwischen westlichem Militarismus und den hier ankommenden Flüchtlingen nicht in angemessener Weise hergestellt wird.
Beim Ukrainekrieg ist die Lage komplexer als bei den westlich dominierten Kriegen im Nahen Osten: Zwar flüchten die ukrainischen Zivilisten nun vor russischen Bomben nach Deutschland, als eigentliche Ursache des Konfliktes sehen viele Beobachter aber dennoch westlichen Militarismus: zum einen, weil die Ukraine zu einem schwer bewaffneten westlichen und explizit antirussischen Vorposten der NATO gemacht werden sollte. Zum anderen, weil von westlicher Seite nicht gegen den jahrelangen Beschuss des Donbass durch rechtsradikale Milizen eingeschritten wurde. Nach dieser Lesart hätte der Angriff Russlands und die folgenden Fluchtbewegungen leicht mit Sicherheitsgarantien von westlicher Seite im Vorfeld verhindert werden können. Das würde auch den Ukrainekrieg etwa vom Krieg gegen Libyen unterscheiden: Im Gegensatz zur schwer bewaffneten Positionierung der Ukraine gegenüber Russland war Libyen nicht hochgerüstet und gegen die USA in Stellung gebracht worden.
Aber auch wenn man die Vorgeschichte des Ukrainekrieges ganz anders und voll zulasten Russlands interpretiert, so ist die aktuelle Verweigerung jeder diplomatischen Initiative durch die deutsche Regierung, um den Krieg und die ihm folgenden Flüchtlingsströme jetzt endlich zu stoppen, verwerflich. Auch hier steht die politische Praxis in scharfem Kontrast zu den offiziellen Klagen angesichts einer humanitären Katastrophe.
Krieg und Sanktionen vertreiben die Menschen
Im Fall Syrien, von wo zahlreiche Menschen nach Deutschland flüchten, werden weiterhin Teile des Landes besetzt, destabilisiert und mit westlichen Sanktionen malträtiert, wie Karin Leukefeld heute in diesem Artikel eindringlich beschrieben hat. Hier gäbe es einen Ansatz, um Fluchtbewegungen zu entschärfen: mit der sofortigen Beendigung der westlichen Sanktionen gegen Syrien. Dieser Ansatz ließe sich auf zahlreiche Länder übertragen, die wegen „Ungehorsams“ sanktioniert werden, was wiederum viele der dortigen Bürger so hart trifft, dass sie sich möglicherweise zur Flucht entscheiden.
Man könnte einwenden, dass die kriegerischen Ursachen nun mal geschehen und somit Geschichte sind und dass der dauernde Verweis auf die Ursprünge der heutigen Verwerfungen nicht weiterhilft, wenn das Kind bereits im Brunnen liegt. Es stimmt: Der Kommune, die nun in große Schwierigkeiten kommt bei den Fragen der Unterbringung, der Bildung etc., hilft die Anklage gegen den westlichen Militarismus, der die Flüchtlinge überhaupt erst aus ihren Ländern getrieben hat, nicht weiter. Aber: Wenn die Ursachen der aktuellen Flucht-Symptome nicht angemessen beachtet werden, wird auch für die Zukunft kein Erkenntnisgewinn erzielt werden – die Gefahr, dass es sich die Bürger weiterhin bieten lassen, für die militärischen Abenteuer von Politikern und Journalisten indirekt und zeitverzögert bezahlen zu müssen, steigt dadurch.
Die Flüchtlinge sind unschuldig
Die Flüchtlinge selber sind unschuldig! Man muss und sollte die Fluchtbewegungen wie gesagt nicht als „höhere Gewalt“ einfach akzeptieren – aber wirklich überzeugende Rezepte, die all den widersprüchlichen Aspekten aus humanitärer Verpflichtung und nachvollziehbarem gesellschaftlichen Selbstschutz gerecht werden, sind rar. Vorbeugend gegen Fluchtbewegungen würde die Verhinderung von Kriegen und Sanktionen wirken. Aber: Sind die Menschen erst einmal hier, müssen sie unbedingt würdig behandelt werden. Rassismus löst die Probleme nicht und er ist eher eine Nebelkerze, hinter der geopolitische Ursachen versteckt werden können.
Es sind zwei Ebenen: In diesem Artikel soll auf die verdrängten geopolitischen und militärischen Ursachen gepocht werden – die aktuelle innenpolitische Debatte, also warum das Thema Migration nun politisch und medial so hochkocht, wer davon warum profitiert und was praktische Lösungsansätze wären, soll in einem anderen Artikel betrachtet werden.
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