Für die Teilnahme am ersten Weltgipfel zur Traditionellen Medizin, ausgerichtet von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), reisten Minister, Wissenschaftler und Fachkräfte bis nach Gandhinagar im indischen Bundesstaat Gujarat. Auch Delegierte aus Lateinamerika und der Karibik kamen. Das Hauptanliegen der Organisation bei der Veranstaltung bestand darin, einen Konsens zu erreichen, damit die traditionelle Medizin „auf sichere Weise und basierend auf wissenschaftlichen Nachweisen und Erkenntnissen” reguliert und in die Gesundheitssysteme integriert werden könne. Von Sergio Ferrari.
Überliefertes uraltes Wissen
Die traditionelle Medizin ist für große Teile der Weltbevölkerung die erste Behandlungsoption. Nach Schätzungen der WHO wird sie in neun von zehn Ländern angewandt. Einige der eingesetzten Mittel sind: Heilkräuter, Akupunktur, Yoga sowie verschiedene indigene Therapieverfahren – Methoden, die seit Jahrhunderten Grundpfeiler für die Gesundheitsversorgung in Gemeinschaften auf allen Kontinenten bilden. Bis heute sind sie für Millionen Menschen unverzichtbar, von denen viele keinen Zugang zur konventionellen Medizin haben, die für gewöhnlich teurer ist und daher nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Darüber hinaus hat dieses uralte Wissen die Grundlagen für die großen klassischen Schriften der Medizinwissenschaft geschaffen.
Ein Großteil der natürlichen Wirkstoffe, die von der traditionellen Medizin genutzt werden, hat die modernen Pharmaindustrien rund um Schönheit, Wohlbefinden und Gesundheit erst möglich gemacht. Laut der WHO werden gegenwärtig mehr als 40 Prozent aller pharmazeutischen Produkte auf Basis von natürlichen Inhaltsstoffen hergestellt. Referenzarzneimittel wie Aspirin und Artemisinin haben jahrtausendealte Wurzeln.
Trotzdem ist der Beitrag traditioneller Medizin für die nationalen Gesundheitssysteme bislang nicht umfassend berücksichtigt worden. In vielen Staaten stellen die Anerkennung und Wertschätzung von Millionen Arbeitenden, Einrichtungen, Ausgaben und Produkten im Bereich der traditionellen Medizin eine noch zu klärende Frage dar.
Für die WHO ist die traditionelle Medizin „die Summe allen Wissens, aller Fertigkeiten und Methoden, die, basierend auf verschiedenen Kulturen entstammenden Theorien, Glaubensinhalten und Erfahrungen, ob erklärbar oder nicht, zur Erhaltung der Gesundheit sowie zur Prävention, Diagnose, Linderung oder Behandlung von physischen oder psychischen Krankheiten eingesetzt werden”.
Die „komplementäre Medizin” oder „alternative Medizin” ihrerseits umfasst ein breites Spektrum an Gesundheitsmaßnahmen, das kein Bestandteil der konventionellen Medizin ist und nicht vollständig in ein nationales Gesundheitssystem integriert ist. In vielen Wissenschaftsbereichen wird bereits ein einheitliches Konzept der „Traditionellen und Komplementären Medizin” verwendet.
Weltweites Referenzzentrum
Im März 2022 unternahm die WHO einen ebenso konkreten wie wichtigen Schritt, um den Beitrag der traditionellen Medizin- und Heilkunde zu fördern und zu institutionalisieren: In der Großstadt Jamnagar, ebenfalls im Bundesstaat Gujarat, gründete sie das Globale Zentrum für Traditionelle Medizin (Global Centre for Traditional Medicine, GCTM), das von der indischen Regierung mit einer Anfangsinvestition von 250 Millionen US-Dollar unterstützt wurde
Mit dieser Initiative möchte die WHO das Potenzial der traditionellen Medizin auf Grundlage von moderner Wissenschaft und Technologie nutzbar machen, um die ganzheitliche Gesundheitsversorgung weltweit zu verbessern. Das Zentrum soll die notwendige Zusammenarbeit, das Wissen, die Biodiversität und Innovation koordinieren, um den Beitrag der traditionellen Medizin für die globale Gesundheit, die weltweite medizinische Versorgung und die nachhaltige Entwicklung bestmöglich zu nutzen. Wichtiger Bestandteil des Rahmens für die Arbeit des Zentrums sind dabei die Achtung indigener Rechte und lokaler Ressourcen.
Ein Gipfel der Wertschätzung
Die WHO arbeitet daran, Nachweise und Daten zusammenzutragen, die als Grundlage für Politikgestaltung, Richtlinien und Bestimmungen gelten können, um die sichere, günstige und gerechte Nutzung von traditioneller Medizin zu gewährleisten. Darauf wies Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO, in seiner Eröffnungsrede beim Weltgipfel in Indien hin. Er anerkannte außerdem, dass „die traditionelle Medizin einen enormen Beitrag für die Gesundheit der Menschheit geleistet und großes Potenzial hat”. Als Beispiel führte er den Einsatz eines Aktivkomplexes aus süßem Wermut oder Artemisinin zur Behandlung von Malaria an.
Ghebreyesus zufolge besteht einer der solidesten Grundsätze der traditionellen Medizin darin, „die engen Verbindungen zwischen der Gesundheit der Menschen und unserer Umwelt” verstanden zu haben. Er argumentierte, dass die traditionelle, komplementäre und integrative Medizin insbesondere bei der Prävention und Behandlung von nicht übertragbaren Krankheiten sowie beim Schutz der mentalen Gesundheit wichtig sei und ein gesundes Altern sicherstellen könne.
Während der Sitzungen des Gipfels stellte Ghebreyesus drei Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft heraus. Erstens sollten sich alle Länder dazu verpflichten, das beste Verfahren zu ermitteln, mit dem die traditionelle und komplementäre Medizin in ihre jeweiligen nationalen Gesundheitssysteme integriert werden könne. Zweitens sollten sie konkrete, auf fundierten Argumenten und Nachweisen basierende Handlungsempfehlungen vorlegen, die als Grundlage dienen können, um eine neue weltweite Strategie für traditionelle Medizin zu erarbeiten. Und drittens sollten sie die Veranstaltung als Ausgangspunkt betrachten, „um eine weltweite Bewegung zu fördern, die das Potenzial der traditionellen Medizin durch Wissenschaft und Innovation freisetzt”.
Lateinamerika und die Karibik waren beim Gipfel in Indien präsent. Unter den Delegationen waren unter anderem Vertreter der Virtuellen Gesundheitsbibliothek (Traditionelle, Komplementäre und Ganzheitliche Medizin) sowie das Netzwerk der Traditionellen, Komplementären und Ganzheitlichen Medizin der Amerikas (Red MTCI Américas), das eng mit der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation verbunden ist.
Strategische Vision und offene Debatte
Für die WHO stellt der Bereich kein neues Feld innerhalb des Gesundheitswesens dar. Schon 2014 verabschiedeten die Mitgliedsstaaten die erste weltweite Strategie in Bezug auf die traditionelle Medizin mit einer Laufzeit von zehn Jahren. Die Weltgesundheitsversammlung, die im Mai 2023 in Genf in der Schweiz stattfand, verlängerte diese um weitere zwei Jahre und entschied, dass für das Jahrzehnt 2025 bis 2034 eine neue Strategie erarbeitet wird.
Die aktuelle Strategie definiert Produkte, Praktiken und Berufe innerhalb der traditionellen Medizin. Die Produkte umfassen Pflanzen, Zubereitungen auf Kräuterbasis und andere Mittel, die aktive pflanzliche Inhaltsstoffe beinhalten.
In einigen Ländern beinhalteten pflanzliche Arzneimittel traditionellerweise auch andere natürliche aktive Substanzen mit organischen oder anorganischen Bestandteilen, die beispielsweise tierischen oder mineralischen Ursprungs sind.
Die Praktiken umfassen medikamentöse Behandlungsmethoden mit pflanzlichen Heilmitteln, Naturkeilkunde, Akupunktur und Manualtherapien wie Chiropraktik und Osteopathie. Hinzu kommen Techniken wie Qi Gong, Tai Chi, Yoga, medizinische Bäder und andere physische, mentale und spirituelle Behandlungsverfahren.
Bei den Experten, die traditionelle Medizin ausüben dürfen, handelt es sich sowohl um Spezialisten der traditionellen und komplementären Medizin als auch um Fachkräfte des konventionellen Gesundheitswesens (Ärzte, Zahnärzte, Krankenpfleger, Geburtshelfer, Pharmazeuten und Physiotherapeuten), die ihren Patienten alternative Dienstleistungen anbieten.
Aus Perspektive der WHO besteht die größte Herausforderung darin, den Zugang zur weltweiten Gesundheitsversorgung durch die Integration von Angeboten der Traditionellen Komplementären Medizin bei der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, Prävention und Selbsthilfe zu fördern. Es besteht kein Zweifel mehr: Die Traditionelle und Komplementäre Medizin ist sicher und wirksam, und ihre Aufnahme in die weltweiten medizinischen Gesundheitsprogramme könnte diese weit über ihre gegenwärtigen Beschränkungen hinaus verbreiten und ihre Kosten erheblich senken.
Beide Argumente sollten die Staaten dazu ermutigen, diese Option in ihre eigenen Gesundheitskonzepte zu integrieren. Derzeit verfügen nur 124 Staaten über diesbezügliche Gesetze oder Regelungen.
Auch wenn die alternative und komplementäre Medizin gestärkt aus dem Gipfel in Indien hervorgegangen ist, steht sie weiterhin im Zentrum einer ungelösten Debatte. Ihre Gegner, die oft mit den großen Interessen der Gesundheitsbranche in Verbindung stehen, führen fehlende wissenschaftliche Grundlagen bei einigen der alternativen Therapieverfahren an. Ihre Verteidiger hingegen machen die Beiträge des uralten Wissens geltend und hinterfragen die im Westen vorherrschende Tendenz, Gesundheit als ein Geschäft zu betrachten und nicht als eine grundlegende öffentliche Dienstleistung.
Übersetzung: Miou Sascha Hilgenböcker, Amerika21.
Titelbild: Screenshot von: who.int