Gibt es überhaupt noch Orte und Menschen auf dieser Welt, die nicht globalisiert sind? Im ecuadorianischen Yasuní-Regenwald sind zumindest einzelne Gruppen bekannt, die den Kontakt zur Außenwelt vermeiden. Noch. Denn durch die globale Nachfrage nach Öl und Holz sind die weitestgehend isolierten Indigenen der Huaorani vom Aussterben bedroht. Diese Gruppen haben den Inkas und den spanischen Konquistadoren getrotzt. Ihren Kampf gegen den globalen Kapitalismus schienen sie hingegen bis vor Kurzem noch zu verlieren. Ein Referendum hat dies nun geändert. Von Albert Denk.
Bei der ecuadorianischen Parlaments- und Präsidentenwahl stimmte die Bevölkerung auch über die Ölförderung im Yasuní ab. Dabei handelte es sich um die erste Volksabstimmung Ecuadors, die durch eine soziale Bewegung initiiert wurde. Im Ergebnis hat sich eine Mehrheit mit rund 60 Prozent der Stimmen für das Ende der weiteren Ölförderung im Yasuní entschieden. Bereits im Vorfeld überschatteten mehrere Morde durch Drogenkartelle den Wahlkampf. Deutlich wurde dabei, dass die lokale Andenregion grundlegend durch globale Prozesse wie die zuletzt massiv zunehmende Nachfrage nach Kokain im Globalen Norden beeinflusst wird.
Der Yasuní ist im Speziellen ein Paradebeispiel zum Verstehen der Globalisierung. Die offenen Adern Lateinamerikas sind dabei zum geflügelten Wort für jahrhundertelange Ausbeutungsprozesse und eine globale Arbeitsteilung zwischen dem geopolitischen Süden und Norden geworden. In der Folge entstand eine bis heute fortwirkende, strukturelle Abhängigkeit zwischen den Primärgüter exportierenden Ländern und den industrialisierten, globalen Zentren.
Ecuador stand knapp 300 Jahre lang unter der Kolonialherrschaft von Spanien. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist es ein bedeutendes Exportland aufgrund seiner Plantagenwirtschaft von etwa Bananen, Kaffee und Kakao. Global betrachtet, kommt heute beispielsweise fast jede dritte Banane aus Ecuador. Die ökonomische Macht des Bananenhandels wird auch darin deutlich, dass mit Daniel Noboa der Sohn eines millionenschweren Bananenunternehmers in die nun folgende Stichwahl zum Präsidenten im Oktober geht. Mit Blick auf das ungleiche Tauschgeschäft wird jedoch auch deutlich, dass es ohne Kinderarbeit, Gesundheitsschäden wie Pestizidvergiftungen durch etwa in der EU verbotene Giftstoffe und einen Verlust der Artenvielfalt durch den Monokulturanbau kaum derart rentabel wäre.
Wohlstand, wie ihn die Familie Noboa genießt, ist jedoch selten in Ecuador. Denn die hohen Gewinne gehören dem ungleichen Tausch entgegen meist den Unternehmen des globalen Nordens. Diese bedienen sich an Lateinamerika aufgrund dessen reicher Bodenschätze, klimatisch vorteilhafter Anbaubedingungen, niedriger Arbeitskosten sowie der geringen Arbeits- und Umweltschutzregelungen.
Beim Yasuní-Referendum am 20. August 2023 ging es nun um den Rohstoff Erdöl. Wieder einmal, weil Erdöl aus Lateinamerika für den Verbrauch im globalen Norden eine lange Tradition aufweist. Allen voran sind hier der venezolanische Maracaibo-See und die Fördergebiete um das mexikanische Tampico hervorzuheben, die seit dem frühen 20. Jahrhundert als Quelle der Ölausbeutung dienten. Davon profitierte in besonderen Maßen das von der US-amerikanischen Rockefeller-Dynastie betriebene Unternehmen Standard Oil, welches heute besser bekannt in Form seiner unterteilten Nachfolgeunternehmen wie BP, Exxon, Shell oder Unilever ist.
Das Erdöl sei der am meisten monopolisierte Reichtum des gesamten kapitalistischen Systems, schrieb bereits 1970 Eduardo Galeano, der Autor der offenen Adern. Keine anderen Unternehmer verfügten über so viel politische Macht auf internationaler Ebene wie die großen Ölgesellschaften. Von den elf Dollar, die mit Derivaten einer Tonne Erdöl erwirtschaftet wurden, erhielten die Exportländer gerade einen Dollar. Über 50 Jahre später ist dieses Modell der Wertschöpfung nicht gerechter geworden. Die Rohstoffe werden dem Süden entnommen und im Norden wertgeschöpft sowie dort als Treibstoff für einen konsum-exzessiven Lebensstil vernutzt.
Sei es beispielsweise das Benzin für Autos, das Kerosin für Flugzeuge, das Heizöl zur Wärmeerzeugung sowie Kunststoffe für Kleidung und Verpackungen – Erdöl ist auch in Deutschland allgegenwärtig. Fieberhaft konsumieren die Menschen im globalen Norden den wertvollen wie klimaschädlichen Rohstoff Erdöl. Dies geschieht pro Kopf in etwa zehnmal so häufig wie in China oder Indien. Nun sollen sich hunderte Millionen Barrel davon unter Yasuní befinden. Dies weckt die Begierde insbesondere auf der Nachfrageseite in energieintensiven Ländern ohne eigene Ölförderung, die durch im Norden lokalisierte Unternehmen gestillt wird.
Fest steht, dass mit diesem Referendum etwas auf lokaler Ebene gewonnen wurde, was für die Weltgesellschaft gar nicht mit Geld auszudrücken ist. Der Yasuní hat alleine durch seine Artenvielfalt einen global-historischen Wert. Diese übertrifft bereits auf der Fläche eines Hektars die ganz Nordamerikas. Der 20. August ist somit ein wichtiges Datum für den globalen Umweltschutz. Die Entscheidung gegen die Ölförderung im Yasuní-Regenwald ist somit deutlich mehr als eine lokale Abstimmung. Sie könnte gar einen Wendepunkt bisheriger Globalisierungsprozesse symbolisieren. Denn die Mehrheit der ecuadorianischen Bevölkerung hat sich mit dem Referendum gegen das globale Wirtschaftsmodell basierend auf Rohstoffexporten ausgesprochen, bei dem sich die Konkurrenzlogik zwischen Einzelstaaten oder Weltregionen schädlich für Menschen und ihre natürliche Umwelt auswirkt.
Das Referendum ist besonders durch kritische Stimmen im Globalen Süden mit Hilfe von Justiz, Medien, Wissenschaft und Zivilgesellschaft vorangetrieben und umgesetzt worden. Das Ergebnis ist dabei eine starke Botschaft an die eigene Regierung und den Globalen Norden: Wir müssen uns vor euch schützen. Entscheidend für den Erfolg waren dabei besonders die beiden Mittel eines Verfassungsgerichtes und eines Volksentscheides.
Schließlich ist daraus eine weitere wichtige Lehre zu ziehen. Denn eine derart fundamentale Transformation hin zu sozial-ökologischer Gerechtigkeit wird offensichtlich nicht durch die handlungsmächtigen Gesellschaften im Globalen Norden gestaltet. 2007 hatten die Staaten der Welt bereits die Möglichkeit, die Ölförderung in Ecuador zu stoppen. Dabei hätten sie knapp vier Milliarden Dollar in einen von den Vereinten Nationen initiierten Treuhand-Fond überweisen müssen. Dieses Angebot der damaligen ecuadorianischen Regierung wurde auch von Deutschland ausgeschlagen. Yasuní kann ein polit-ökonomischer Wendepunkt globalen Maßstabs sein, denn dies ist letztlich auch eine Absage an die zwischenstaatliche Ebene, auf der zuvor keine Lösung gefunden wurde. Der globale Wald Yasuní ist kein Projekt von Staaten, der Wirtschaftsorganisation Mercosur oder der Vereinten Nationen, sondern der breiten Bevölkerung und ihren transnationalen Netzwerken. Die Bevölkerung fordert selbstorganisiert ihre Rechte ein. Dies ist zweifelsohne auch ein Modell für andernorts.
Zum Autor: Dr. Albert Denk arbeitet am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Er lehrt u.a. zu Theorien der Globalisierung und forscht zu globaler Gerechtigkeit.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Amerika21.
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