Kapitalismus, Antikapitalismus und Sozialwissenschaften – Konferenz um das Werk von Immanuel Wallerstein in Paris

Kapitalismus, Antikapitalismus und Sozialwissenschaften – Konferenz um das Werk von Immanuel Wallerstein in Paris

Kapitalismus, Antikapitalismus und Sozialwissenschaften – Konferenz um das Werk von Immanuel Wallerstein in Paris

Ein Artikel von Andrea Komlosy

Am 11. und 12. September 2023, nicht ganz zufällig am Jahrestag des Putsches gegen Salvador Allende in Chile, im 60. Jahr der Gründung der Maison des Sciences de l’Homme an der École des Hautes Études en Sciences Sociales EHESS in Paris, fand eine bemerkenswerte internationale Tagung statt. Sie war Immanuel Wallerstein gewidmet, der – neben dem Fernand Braudel Center FBC an der Universität Binghamton, NY – hier jahrzehntelang ein zweites Standbein als Forscher und akademischer Lehrer hatte. Dies verband ihn mit der von Fernand Braudel gegründeten Einrichtung in Paris. Von Andrea Komlosy.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wallerstein hat bekanntlich den Begriff des Weltsystems zur Charakteristik der systematischen Verbindung von Regionen als Grundlage ihrer unterschiedlichen Stellung in der Weltwirtschaft, als Zentrum, Semiperipherie oder Peripherie, geprägt. Auf dieser Basis entwickelte sich der Kapitalismus als weltumspannendes, dynamisches, Ungleichheit erzeugendes System. Für die Erforschung und Vermittlung der Geschichte des Weltsystems, der Welt als System kann diese Tagung als Wegmarke betrachtet werden.

Die Forschungslandschaft zu Weltsystem, wie auch zur Welt- und Globalgeschichte, zerfällt trotz des Anspruchs auf Grenzen überschreitende, interdisziplinäre Kooperation in distinkte Forschungsräume. Die deutschsprachige Forschung stößt international auf relativ geringe Aufmerksamkeit.[1] Das Englische als internationale Kommunikationssprache drängt sie an den Rand, was junge deutschsprachige ForscherInnen in die Arme des Englischen treibt. Dem hält die Zeitschrift für Weltgeschichte als deutschsprachiges Organ für global- und welthistorische Debatten entgegen.

Die Dominanz des Englischen auf einer internationalen Tagung zu unterlaufen, stellt eine Rarität dar. Die Maison des Sciences de l’Homme hat dies mit der Wallerstein-Tagung ganz selbstverständlich getan, obwohl das Französische vor allem unter jungen WissenschaftlerInnen nicht (mehr) zur Allgemeinbildung zählt, schon gar nicht bei jenen mit englischer Muttersprache. Die Tagungssprache war Französisch; allerdings referierten und diskutierten all jene, die kein oder nicht gut genug Französisch beherrschten, auf Englisch – ein Kompromiss. Wer gar kein Französisch sprach, konnte einem Gutteil der Vorträge so allerdings nicht folgen. Es war beeindruckend, wie viele ältere, aber auch jüngere KollegInnen aus der frankophonen Welt sich mit Wallersteins Systemtheorie auseinandersetzten.

Die fünf Runden Tische mit je fünf bis sechs ReferentInnen zusammenzufassen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das Programm vermittelt einen Überblick über Themen, Fragestellungen und TeilnehmerInnen. Planung und Eröffnung oblagen dem Präsidenten der MSH, Antonin Cohen, Kathy Wallerstein, der Tochter Immanuels, sowie dem Doyen des Hauses, Maurice Aymard, Nachfolger Braudels, der ein Leben lang die Braudel’schen Traditionen an der MSH hochhält.

Ich klinkte mich online ein und vermittle hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige subjektive Eindrücke.

Es gab nur wenige Beiträge, die in Wallersteins bahnbrechende Innovationen, die Welt als Einheit zu sehen, einführten; dies konnte als bekannt vorausgesetzt werden. Ein jüngerer Forscher, Yves-David Hugot (Université Paris-Nanterre), richtete seinen Blick auf die Genese von Wallersteins Gedankengebäude. Er erinnerte insbesondere an Wallersteins Anfänge als Afrikanist mit seiner vergleichenden Studie zu Ghana und Côte d’Ivoire, die seiner Weltsystem-Theoriebildung vorherging und noch einen Modernisierungsoptimismus widerspiegelte. Wallersteins Werdegang als Wissenschaftler, der seine Forschungen gleichzeitig als gesellschaftsverändernden Aktivismus verstand, erschloss sich mosaikartig aus den Perspektiven verschiedener WeggenossInnen, die Einblick in Momente der Zusammenarbeit sowie besonderer Werke (vier Bände Modernes Weltsystem, Utopistik, Rasse-Klasse-Nation, Die Sozialwissenschaften kaputt denken[2], Bericht der Gulbenkian-Kommission Die Sozialwissenschaften öffnen) vermittelten.

Das Bewegendste war wohl die Rückschau auf gemeinsame Arbeit: Sie vermittelte den ganz besonderen Moment, der unter und mit Wallerstein und Terence Hopkins am Fernand Braudel Center FBC in Binghamton entstand: Einige der älteren ForscherInnen, die in den 1970er und 1980er Jahren in einer Form der Zusammenarbeit, die es so im heutigen Universitätssystem nicht mehr gibt, am Konzept Weltsystem arbeiteten, blickten zurück. Die DissertantInnen und MitarbeiterInnen kamen aus aller Welt; eine besondere Achse verband Binghamton jedoch mit Paris. So berichtete die bekannte Afrikahistorikerin Catherine Coquery-Vidrovich an der Université Paris Diderot, wie sie als junge Forscherin 1981 von Wallerstein eingeladen wurde, den Afrika-Schwerpunkt am Braudel Center abzudecken. Die mittlerweile alte Dame gab zu, dass ihr Englisch damals dafür keineswegs ausreichend war, der Sprung ins kalte Wasser sich allerdings gelohnt hatte. Ihr Vorgänger war Walter Rodney, Historiker, engagierter Black-Power-Aktivist und Autor der bis heute viel gelesenen Studie „How Europe underdeveloped Africa“, der 1980 einem politischen Anschlag der Armee seines Heimatlandes, Guayana, zum Opfer fiel.

Auch Vidrovichs Nachfolger am FBC, der Ökonom Yann Moulier-Boutang, Theoretiker der Arbeiterautonomie und 1968 ein aktiver Teilnehmer der Kämpfe in Paris, sprach auf der Konferenz. Marta Petrusewicz, die nach mehreren Professuren schließlich in Kalabrien landete, gehörte überhaupt zu den ersten am FBC; als junge polnische Studentin hielt sie es 1976 kaum für möglich, eine so breite und engagierte Debatte um die Weltsystemanalyse mitverfolgen zu können, auch wenn sie später andere Zugänge für ihre Forschungen wählte. Sie moderierte den Runden Tisch zu „Kapitalismus, Post-Kapitalismus, Weltwirtschaft“, an dem Beverley Silver (Baltimore) an die „friendly debates“ zwischen Wallerstein, Andre Gunder Frank, Giovanni Arrighi und Samir Amin bei der Arbeit an zwei gemeinsamen Bänden (Dynamik der Globalen Krise 1982, Transforming the Revolution 1989) erinnerte. Diese Debatten kündigten bereits die unterschiedliche Ausrichtung an, die die Weltsystem-Forschungen in den 1990er Jahren nehmen sollten.

Elaine Mokhtefi, ehedem antikoloniale Aktivistin im algerischen Befreiungskampf, enthüllte, unterstützt von historischen Fotographien, wie sie und der junge Wallerstein, damals Student an der Columbia Universität, 1949/50 gegen die alte Garde der World Federalist Organisation aufbegehrten und statt der Anpassung an den UN-Apparat radikal für aktive Entkolonisierung, Befreiung, Entwicklung eintraten: Unter Federführung Wallerstein spaltete sich die Jugend als eigene Organisation namens „World“ ab.

Den Organisatoren war es gelungen, viele Beteiligte am internationalen Netzwerk der Weltsystemforschung zum Zeitpunkt ihres Höhenflugs in Binghamton als ReferentInnen zu gewinnen. Viele VertreterInnen der alten Garde schalteten sich auch online zu, sofern die Namen dies verrieten. Die Rückblicke machten die Veranstaltung zu einem authentischen Erlebnis, sie verliehen ihr aber auch einen eher nostalgischen Charakter. Ob das, was damals erarbeitet wurde, heute noch relevant ist, wurde nicht thematisiert. Die Kritik, die Weiterentwicklung, das Verblassen, aber auch die Zurückweisung als eurozentrischer Schnee von gestern, der der Weltsystemanalyse in den letzten Jahrzehnten entgegenblies, kamen nicht aufs Tapet.

So konnte keine Brücke zu neueren Ansätzen aus und Auseinandersetzungen mit der Weltsystemanalyse geschlagen werden. Zwar referierten eine Reihe von ForscherInnen über alle möglichen Themen wie Arbeitsverhältnisse, Feminismus, Rassismus, Migration, Marxismus, chinesischer Kapitalismus, Abhängigkeit oder Befreiung, ohne in der Regel Wallerstein’sche Inspiration, Weiterentwicklung oder Abweichungen anzusprechen. Wallerstein wurde stärker als historische Person gefeiert denn als Wegweiser für aktuelle Probleme.

Eine interessante Kontroverse ergab sich in Hinblick auf Wallersteins Nähe zu postmodernen, dekolonialen Ansätzen. Während Carlos Aguirre Rojas (Mexiko), der über die große Bedeutung Wallersteins für die lateinamerikanische Forschung referierte, seine Verbindung mit post/de/kolonialen Ansätzen eines Quijano, Mignolo, Dussel oder Großvogl dezidiert bestritt, zeigte Stéphane Dufoix (Universität Paris Nanterre) anhand konkreter Kooperationen, Begegnungen und Konferenzen, dass Ansätze der Kolonialität/Dekolonialität im Schoße, im Dialog und mit direkter Beteiligung Wallersteins entwickelt wurden. Wallerstein übernahm diese zwar nicht, hätte seine Hinwendung zur Infragestellung der etablierten Sozialwissenschaften ohne diese Inspiration nicht vollziehen können, so Dufoix. Auch die Forschungsgruppe zur Kolonialität bildete sich in Binghamton zu der Zeit, als Anibal Quijano, einer ihrer Initiatoren, dort lehrte. Das Beispiel macht deutlich, dass Weltsystemanalyse kein fixes Konzept war, sondern neue Ansätze mit hervorbrachte und diese auch aufnahm. Der Ökonom Robert Boyer (MSH Paris) führte die gegenseitige Inspiration am Beispiel der zunächst am Nationalstaat orientierten Regulationstheorie vor, die im Zuge der globalen Öffnung der Weltwirtschaft in den 1970er Jahren und den veränderten geopolitischen Konstellationen der Gegenwart nicht mehr ohne weltsystemische Analysekategorien auskommen konnte. Vieles andere lebte von sehr allgemeinen Bezügen zu Wallersteins Ansätzen.

Robert Boyer wagte auszusprechen, was allen TeilnehmerInnen bewusst war: Eine Persönlichkeit wie Immanuel Wallerstein kann das heutige akademische System nicht hervorbringen. Das ist wohl die höchste Ehrerbietung, die ein Forscher-Aktivist von der Nachwelt erhalten kann.

Zur Autorin: Andrea Komlosy betreibt Global-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte aus Weltsystem-Perspektive. Sie unterstützte die Publikation von Wallersteins Texten in deutscher Sprache, insbesondere die vier Bände Das Moderne Weltsystem und Utopistik im Promedia Verlag Wien. Komlosy ist Vorsitzende des Vereins für die Geschichte des Weltsystems und Mitherausgeberin der Schwerpunktnummer der Zeitschrift für Weltgeschichte, die sich mit der Rezeption Wallersteins und der Weltsystem-Analyse in verschiedenen Wissenschaftsbereichen und Disziplinen im deutschsprachigen Raum befasst.

Titelbild: Screenshot von fmsh.fr


[«1] Der Verein für Geschichte des Weltsystems hat 2020 im Gedenken an Wallerstein eine Tagung zur Rezeption der Weltsystemanalyse im deutschsprachigen Raum veranstaltet, deren Ergebnisse 2022 als Jg. 22 der Zeitschrift für Weltgeschichte ZWG publiziert wurden: online unter globalhistory.univie.ac.at

[«2] Unthinking Social Sciences wurde von Hans-Heinrich Nolte ins Deutsche übersetzt unter dem Titel: Die Sozialwissenschaften kaputtdenken (1995). Nolte bemühte sich, damit dem Angriff auf das Kategoriensystem der modernen Wissenschaft adäquat zum Ausdruck zu verhelfen, was ihm mitunter Kritik eintrug.

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