Am Samstag wird es bundesweite Proteste gegen die grassierende Bildungsmisere in Deutschland geben. Angesichts eines in Jahrzehnten kaputtgekürzten Systems ist es allerhöchste Zeit und muss Auftakt zu noch viel mehr Gegenwehr sein. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.
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Für all jene, die es noch nicht bemerkt oder ihre Lektion nicht gelernt haben: Wir leben in der „Bildungsrepublik Deutschland“. 2008 auf dem Dresdner Bildungsgipfel durch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ausgerufen und wirkmächtig seit bald 15 Jahren, sind ihre Fehlleistungen allgegenwärtig. Zum Beispiel bekommt das in diesen Tagen eine Grundschullehrerin in Sachsen-Anhalt zu spüren. Weil sie sich weigerte, eine dem gesamten Lehrkörper aufgenötigte Extrastunde zu leisten, wurde sie vom Land fristlos gekündigt – nach 39 Dienstjahren, in denen sie in Vollzeit und praktisch ohne Fehlzeiten täglich vor knapp 30 Kindern wacker ihre Frau gestanden hatte.
Birgit Pitschmanns Motiv, als 60-Jährige ihre „Arbeitskraft erhalten“ zu wollen, um bis zur Rente durchzuhalten, lässt das Bildungsministerium nicht durchgehen. Dann lieber noch eine Pädagogin weniger, von denen wegen jahrzehntelanger Fehlplanung und Spardiktate allein im Land mindestens 1.000 und bundesweit mehrere Zehntausend fehlen. Was der Kultusministerkonferenz (KMK) dazu einfällt, haben die NachDenkSeiten im Februar rapportiert: Späterer Ruhestandseintritt, Unterrichtsverpflichtung erhöhen, größere Klassen, Teilzeitbeschäftigung beschränken, jeden Hans und Franz für den Dienst an der Tafel rekrutieren und mit mehr „Achtsamkeit“ zum Burnout. Übersetzt: „Alles, was die Misere herbeigeführt hat, soll jetzt aus der Misere führen“.
Mangel immer und überall
Im Namen der „Bildungsrepublik“ wurde aber noch so viel mehr verbrochen. Hier nur ein kleiner Ausschnitt aus der langen Liste der Verheerungen: In den Kitas mangelt es an fast 400.000 Betreuungsplätzen, wofür 300.000 zusätzliche Erzieherinnen und Erzieher nötig wären. Ein Viertel aller Schüler kann nach Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen. Jedes Jahr bleiben 50.000 junge Menschen ohne Schulabschluss. Die Universitäten sind überlaufen, die Betreuungsquoten mies und fast ein Drittel eines Studienjahrgangs bricht vorzeitig ab. Es mangelt an Ausbildungsplätzen, Lehrlinge werden nicht selten zu Hungerlöhnen ausgebeutet, während in systemrelevanten Bereichen der Gesellschaft Fachkräftemangel herrscht, etwa in der Pflege.
Der Investitions- und Sanierungsstau in allen Sektoren des Bildungswesens ist horrend: Um die Schulen baulich in Schuss zu bringen, bräuchte es nach offiziellen Schätzungen nahezu 50 Milliarden Euro, bei den Kitas sind es zehn Milliarden Euro, bei den Hochschulen 60 Milliarden Euro. Und wo, wie aktuell in Berlin, eine sogenannte Schulbauoffensive Abhilfe schaffen soll, werden zig Milliarden Euro in die Taschen von Bankern und Baulöwen manövriert. So wird der Bildungsnotstand zur Goldgrube von Privatisierern.
Versagen im Abonnement
All das zeigt: Die „Bildungsrepublik“ ist ein monströses Lügengebilde. Das lässt sich am einfachsten an Zahlen festmachen. Als die Kanzlerin seinerzeit in Dresden den großen Neuanfang proklamierte, versprach sie, ab 2015 mindestens zehn Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Bildung und Forschung aufbringen zu wollen. Dabei war das bereits eine Mogelpackung. International üblich sind bei der Bemessung einzig die öffentlichen Aufwendungen, während Deutschland auch die Ausgaben von Privathaushalten und Unternehmen miteinbezieht. Diese wachsen seit Jahren kontinuierlich, was insbesondere auf den Boom bei Privatschulen und in der Nachhilfe zurückgeht. Die Branche ist dominiert von Finanzinvestoren (Private-Equity-Fonds) und ein echter Krisengewinnler. Das Versagen des öffentlichen Schulwesens lässt die Kasse klingeln.
Aber obwohl die privaten Ausgaben für Bildung in die Berechnung einfließen, hat Deutschland das Zehn-Prozent-Ziel in den zurückliegenden acht Jahren nicht ein einziges Mal erreicht, sondern um im Schnitt jährlich 20 Milliarden Euro verfehlt. Bittere Ironie: Noch am nächsten dran war man zu Corona-Zeiten, als die Wirtschaft schwächelte, das BIP deshalb in den Keller rauschte und Kinder über Monate Lernrückstände per Homeschooling aufbauten, die sie bis heute nicht aufgeholt haben. Noch eindrücklicher wird das deutsche Scheitern aber beim Blick auf die Konkurrenz. Um mit Dänemark oder Schweden mitzuhalten, wären pro Jahr 50 beziehungsweise 70 Milliarden Euro mehr an Mitteln erforderlich. Wollte es Deutschland auf das Niveau von Norwegen schaffen, des Überfliegers unter den Industriestaaten, müsste die Politik jährlich 120 Milliarden Euro zusätzlich locker machen. 2022 haben die öffentlichen Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen insgesamt knapp 176 Milliarden Euro bereitgestellt – als Klassenprimus müssten es mal eben 70 Prozent mehr sein.
Sterben geht über Studieren
Die Ampelregierung setzt andere Prioritäten. Der in den Bundestag eingebrachte Haushalt 2024 sieht für das kommende Jahr 71 Milliarden Euro fürs deutsche Militär vor. 20 Milliarden Euro, 1,2 Milliarden Euro weniger als im laufenden Jahr, bleiben für Bildung übrig. Massiv gekürzt wird mit einem Minus von 25 Prozent bei der Bundesausbildungsförderung (BAföG). Die Förderzahlen verharren auch nach der jüngsten Reform von vor einem Jahr auf dem kümmerlichen Stand von zuletzt noch elf Prozent aller Studierenden, versprochen hatte Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) eine „Trendumkehr“. Außerdem versprach sie, noch in der laufenden Legislaturperiode mit einer großen Strukturreform nachzulegen. Die wurde mit dem Budgetplan praktisch beerdigt. Darauf versteht sich die Regierung ohnehin besser, wobei sie mit dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr buchstäblich über Leichen geht.
Die Entwertung von Bildung ist indes längst nicht nur ein Problem finanzieller Art. Dazu kommt die weitgehende Sinnentleerung der Begrifflichkeit. Heute heimst jeder Politiker bei Sonntagsreden Beifall bloß dafür ein, das Wort in den Mund zu nehmen. Von wegen „bessere und mehr Bildung“ braucht das Land. Schließlich sei das „unser wichtigster Rohstoff“ und die „sicherste Investition in die Zukunft“. Bildung in dieser Perspektive versteht sich nur mehr als Eintrittsticket in den Arbeitsmarkt, als Garant für „Chancengerechtigkeit“ im Kontext ökonomischer Selbstoptimierung und Selbstverwertung.
Mitläufer braucht das System
Der Triumphzug dieser Engstirnigkeit ist nahezu total: An den Hochschulen verdrängen technische und Wirtschaftsfächer die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften immer mehr. Industriell gesponserte Drittelmittelforschung geht einher mit schrumpfenden öffentlichen Hochschuletats. Die Schulen werden überschwemmt mit Unterrichtsmaterial von Unternehmen, Stiftungen und Lobbyisten, überall gibt es Bemühungen, ein separates Fach Wirtschaft zu etablieren. Selbst so fortschrittlich anmutende Projekte wie der Ausbau von Kitaplätzen und Ganztagsschulen entspringen zuallererst dem übergeordneten Interesse der Arbeitgeber, damit Papi und Mami gefälligst beide ihre Haut zu Markte tragen können. Dann genügt es auch, wenn Schulen und Kindergärten zu reinen Verwahranstalten verkommen, zu denen sie heute – bei allem Engagement überlasteter und überforderter Lehrer und Erzieherinnen – schon vielfach geworden sind.
Bildung kann und sollte so viel mehr sein: Sie müsste zur Selbstverwirklichung befähigen, zur Selbstreflexion, zur Ausbildung von Menschlichkeit und Solidarität, zu kritischem Denken, dazu, die Widersprüche und Zerstörungskräfte unseres polit-ökonomischen Systems zu erkennen und infrage zu stellen. Unter den Bedingungen und aufgrund der Selbsterhaltungskräfte des Kapitalismus darf Bildung dies aber gerade nicht leisten. Benötigt werden Mitläufer, keine Mitdenker, Geistlosigkeit statt Geistreichtum.
Raus auf die Straße!
Wer das alles nicht länger hinnehmen will, hat am kommenden Sonnabend die Möglichkeit, Flagge zu zeigen. Am 23. September steigen in bundesweit knapp 30 Städten Proteste gegen die deutsche Bildungsmisere – unter anderem in Kiel, Hamburg, Bremen, Köln, Leipzig, Erfurt, Hannover, Mainz, Saarbrücken, Freiburg und München. Initiator ist das Bündnis „Bildungswende Jetzt!“, dem sich über 170 Organisationen angeschlossen haben, darunter Schüler- und Elternverbände, Gewerkschafter, Sozialarbeiter und Erzieherinnen. Sie alle eint die Überzeugung: So wie jetzt kann, darf es nicht weitergehen.
Beteiligt sind die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Bundeselternrat, das Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen für Bildung & Teilhabe (bbt), der Bundesverband der Kita- und Schulfördervereine, Greenpeace, Fridays for Future, der Bildungsrat von unten, Omas for Future und viele mehr. Eine gleichnamige Onlinepetition, die sich an Bundeskanzler, Bundesminister, Bundestagsabgeordnete und die Bundesländer richtet, zählt inzwischen über 83.000 Unterstützer.
Sondervermögen Bildung
Im Zentrum stehen vier Forderungen: „Schule und Kitas zukunftsfähig und inklusiv gestalten“, eine „Ausbildungsoffensive“ für Lehrer und Erzieher, die Ausrichtung eines „Bildungsgipfels“ unter Beteiligung der Zivilgesellschaft sowie die Schaffung eines „Sondervermögens Bildung“ von 100 Milliarden Euro im Verbund mit einer Steigerung der jährlichen Bildungs- und Forschungsausgaben auf zehn Prozent des BIP. Die Punkte decken sich in Teilen mit Vorschlägen der Partei Die Linke, die die Parteichefin Janine Wissler und die Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke am Montag der Öffentlichkeit vorgestellt haben. Auch sie verlangen eine sofortige Geldspritze von 100 Milliarden Euro, dazu ein Ende des gegliederten Schulsystems, die vollständige Abschaffung des Bund-Länder-Kooperationsverbots in Bildungsfragen und ein bundeseinheitliches Bildungsrahmengesetz.
„Das Bildungssystem steht vor dem Kollaps“, heißt es in einem Positionspapier der Partei. Der Lehrkräftemangel, Unterrichtsverkürzung, fehlende Investitionen in Schulen würden dafür sorgen, dass Bildungschancen in Deutschland immer ungerechter nach Herkunft und Elternhaus verteilt würden. Der sozialen Ungleichheit soll mit einer „Schule für alle“ und gemeinsamem Lernen von der 1. bis zur 10. Klasse begegnet werden. Lehrerinnen und Lehrer sollten unabhängig von der Schulform gleich bezahlt werden, von unterrichtsfremden Tätigkeiten befreit und durch Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter unterstützt werden.
Daneben hat die Linkspartei einige ziemlich streitbare Rezepte auf Lager: Demnach sollen Schulnoten, Sitzenbleiben und Hausaufgaben wegfallen, um ein „Lernen ohne Druck und Angst“ zu ermöglichen. „Kinder und Jugendliche wollen die Welt verstehen, Probleme lösen und Ergebnisse ihrer Anstrengungen erreichen und nicht nur für Tests und Prüfungen büffeln.“ Ob das die richtige Antwort auf den allgemeinen Niveauverfall an den Schulen ist, sei dahingestellt. Eines aber kann man der Partei nicht ankreiden: sich als Trittbrettfahrer der bevorstehenden Proteste zu betätigen. In ihrem Pressematerial findet sich kein Wort zu „Bildungswende-Jetzt!“. Warum eigentlich nicht?
Titelbild: Bündnis Bildungswende