Mainstreamökonomik in der Kritik

Mainstreamökonomik in der Kritik

Mainstreamökonomik in der Kritik

Ein Artikel von: Redaktion

Ob Krisen, Armut oder die zunehmende Verrohung und Spaltung der Gesellschaft, von der nach aktuellen Umfragen vor allem die AfD zu profitieren scheint: Die beängstigende Entwicklung der letzten Jahre ist das Ergebnis einer Politik, die im rücksichtlosen Gegeneinander von Menschen, Unternehmen und Staaten den Motor des wirtschaftlichen Fortschritts sah. Das sagt der Entwicklungsökonom Patrick Kaczmarczyk in seinem neuen Buch „Raus aus dem Ego-Kapitalismus“, aus dem die NachDenkSeiten einen Auszug zitieren. Für ihn steht fest: Ohne eine Abkehr vom Ego-Kapitalismus sind die gegenwärtigen Krisen bloß ein Vorgeschmack auf all das, was uns in Zukunft noch droht.

Im Hinblick auf die Individualisierung von wirtschaftlichem Erfolg und Misserfolg sehen wir am Beispiel der Arbeitslosigkeit, dass sich die Theorie des ökonomischen Mainstreams gut als Grundlage für das personifizierte »Blame-Game« eignet. Der britische Politökonom Robert Skidelsky sieht in der Verschiebung der Analyse von der strukturellen auf die individuelle Ebene einen zentralen Schwachpunkt des ökonomischen Mainstreams – und er liegt mit dieser Einschätzung völlig richtig. Wenn die Wirtschaft nur aus Individuen besteht, deren Handlungen verschwindend geringe Auswirkungen auf andere haben und allein von persönlichen Präferenzen motiviert werden, kann man bequem alles auf die »Eigenverantwortung« herunterbrechen, weil es keine verzerrenden Machtdynamiken oder Interdependenzen zwischen den Agenten gibt. Dieselbe Logik greift für alle anderen Bereiche der nationalen und internationalen Wirtschaft, ganz gleich, ob es sich um Unternehmen oder Länder handelt. Wenn allerdings auf gesamtwirtschaftlicher Ebene andere Gesetzmäßigkeiten gelten als auf der Mikroebene, die dadurch bedingt werden, dass wir in unseren Handlungen voneinander abhängig sind, dann ist eine Politik, die auf den Prämissen des Ego-Kapitalismus aufbaut, zum Scheitern verurteilt.

Das Ergebnis ist in der Konsequenz immer dasselbe: Ein Ansatz, der Machtdynamiken unsichtbar macht, kommt prinzipiell denjenigen zugute, die ihre Macht zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen einsetzen können. Das Verständnis der Kernannahmen des vorherrschenden ökonomischen Ideengebildes ist aus diesem Grund von essenzieller Bedeutung, um die in der Öffentlichkeit vorgetragenen Argumente zu verstehen und zu erwidern. Der Entwicklungsökonom Ha-Joon Chang ließ dazu treffend verlauten, dass »in einer kapitalistischen Ökonomie Demokratie bedeutungslos wird, wenn die Menschen die Sprache der Macht, nämlich die der Ökonomik, nicht verstehen.« Dem wollen wir uns auf den nächsten Seiten zumindest in dem Rahmen nähern, in dem er relevant für unser Argument wird.

Bevor wir jedoch in die wissenschaftliche Legitimierung neoliberaler Politik einsteigen, ist es mir wichtig zu betonen, dass ich kein plumpes Mainstream-Bashing betreiben möchte. Ich werde zwar von »dem« Mainstream sprechen, allerdings ist das strenggenommen nicht ganz sauber, denn dafür ist der Mainstream in der Bandbreite der Arbeiten und Ökonomen einfach zu groß und in Teilen auch inkonsistent. In der Forschung ist der Mainstream lange nicht mehr so blind marktliberal, wie es noch vor 20 Jahren der Fall war. Da hat sich tatsächlich etwas getan. Thematisch ist er mittlerweile viel breiter aufgestellt und nicht selten liest man differenzierte Arbeiten beispielsweise zur Analyse von Marktversagen, Ungleichheiten und Auswirkungen von Markteingriffen, wie dem Mindestlohn. Das führt dazu, dass es heutzutage auch einige Mainstreamökonomen gibt, mit denen man sich in der wirtschaftspolitischen Debatte wunderbar und schnell einig werden kann. Das war vor der Finanzkrise sicherlich noch anders.

Nichtsdestotrotz sind wir meines Erachtens noch weit davon entfernt, in der Mainstreamökonomik von einem genuinen Wandel zu sprechen. Paradigmatisch bleibt der Mainstream sehr homogen. Arbeiten auf Grundlage abweichender theoretischer Annahmen finden kaum den Weg in die angesehenen Fachzeitschriften, was sich wiederum negativ auf die wissenschaftliche Karriere auswirkt. Die Kernannahmen des Mainstreams sind, wie wir es auf den nächsten Seiten sehen werden, trotz der Krisen nicht wirklich hinterfragt, sondern angepasst beziehungsweise eingeschränkt worden. Gleichzeitig ist das Fach deutlich »empirischer« geworden. Dabei wäre es gerade aufgrund der Verwerfungen der letzten Jahrzehnte wichtig gewesen, sich nicht noch weiter innerhalb eines gegebenen Paradigmas in die Mathematik und Empirie zu vertiefen, sondern auch theoretische »Grundlagenarbeit« zu verrichten, um die Realität besser greifen zu können. Der Nobel-Gedächtnis-Preisträger Paul Romer kritisierte diesbezüglich seine Kollegen scharf, die sich mehr mit der mathematischen Reinheit der, wie er schreibt, »post-realen Modelle« befassten, anstatt die theoretischen Grundsätze zu überarbeiten und mit den realwirtschaftlichen Entwicklungen in Einklang zu bringen.

Auch in der Lehre bleibt die Ökonomik ziemlich homogen. Joe Earle, Cahal Moran und Zach Ward-Perkins haben zum Beispiel in ihrer Auswertung der Studieninhalte in Großbritannien festgestellt, dass der Großteil der Lehre auf einer einzigen, nämlich der sogenannten neoklassischen Denkschule beruht. In Deutschland und international sieht es ähnlich aus. Vor allem die Pflichtmodule beinhalten kaum unterschiedliche Ansätze. Auf diese Weise wird kritisches und unabhängiges Denken, was eine elementare Voraussetzung zur Herangehensweise und Lösung komplexer Probleme ist, kaum entwickelt. In Großbritannien wird in den Pflichtmodulen in nur 6,7 Prozent der Examensfragen überhaupt eine kritische Auseinandersetzung verlangt. Der Rest sind Multiple-Choice-Fragen (man kreuzt die richtige Antwort einfach an) und Berechnungen irgendwelcher Werte und Parameter.

Es ist entsprechend wenig verwunderlich, dass die OECD in einer Studie herausfindet, dass es vor allem die Wirtschafts- und Agrarwissenschaftler sind, deren Fähigkeit zum kritischen Denken im Studium unterentwickelt ist. Was vielleicht noch schlimmer ist: Sämtliche Studenten, die nur das Grundstudium belegen oder jene, die zum Beispiel im Studium des Journalismus oder der Betriebswirtschaftslehre ein paar Module in der Volkswirtschaftslehre belegen, werden nie etwas anderes als einen ziemlich kruden Mainstream kennenlernen und im Glauben in die Welt hinaus gehen, etwas über die Wirtschaft gelernt zu haben. Doch selbst bei denjenigen, die ihr Studium vertiefen, ist es nicht sicher, dass sie zwangsläufig mit anderen theoretischen Denkschulen in Kontakt kommen. Das Fach ist, wie bereits angesprochen, so stark mathematisiert worden, dass »Grundlagenarbeit« kaum noch stattfindet – und dies teils noch nicht einmal als Problem wahrgenommen wird. Auf einer Gastvorlesung an der Freien Universität in Berlin wurde mir von den Studenten erzählt, dass einer der ersten Sätze, den sie in ihrem Studium (im Jahr 2023!) gehört haben, war, dass es »in der Ökonomie keine Denkschulen« gäbe. So viel theoretische Ignoranz ist beängstigend, wenn die Wissenschaft sich in einem Rahmen bewegt, den sie selbst nicht wahrnehmen und daher auch nicht reflektieren kann.

Patrick Kaczmarczyk: „Raus aus dem Ego-Kapitalismus. Für eine Wirtschaft im Dienst des Menschen“, Westend Verlag 2023

Titelbild: shisu_ka/shuttertstock.com

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