Wie ist es um die politische Kultur eines Landes bestellt, in dem ein Begriff wie „Russlandversteher“ zur Stigmatisierung und Ausgrenzung taugt? Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann? Gabriele Krone-Schmalz bietet in ihrem Buch „Russland verstehen?”, das in diesen Tagen in einer erweiterten Neuausgabe erscheint, eine Orientierungshilfe für all jene, denen das gegenwärtig in den Medien vorherrschende Russlandbild zu einseitig ist. Das Verhältnis zwischen Russland, dem Westen und der Ukraine ist wesentlich vielschichtiger, als es in der Regel dargestellt wird.
Auf Seite 75 in meinem Buch beginnt ein Kapitel mit dem Titel »Zweierlei Maß – eine unendliche Geschichte«. Es ist in der Tat eine unendliche Geschichte. Die folgenden Beispiele habe ich auch diesmal nicht mühsam suchen müssen, sie springen einen förmlich an, wenn man für das Messen mit zweierlei Maß und für den Gebrauch von Sprache ein wenig sensibilisiert ist. Auch wenn manches auf den ersten Blick vielleicht wie eine Kleinigkeit erscheinen mag, die Wirkung wird durch Wiederholungen und Häufung erzielt.
Ist Ihnen zum Beispiel schon aufgefallen, dass es in der Regel in den Nachrichten heißt, wenn ein Staatspräsident oder ein anderer hoher politischer Funktionsträger zitiert wird: Herr X sagt, dass … Der russische Präsident Putin jedoch behauptet, dass …. Westliche Politiker verhandeln, Leute wie Putin und der türkische Präsident Erdogan feilschen, wie etwa über Syrien.
In Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine werden die Verlautbarungen von ukrainischer Seite mit dem Wort offenbar eingeleitet, wohingegen den russischen Aussagen das Wort angeblich vorbehalten ist.
Nicht selten werden die westlichen und ukrainischen Angaben zum Frontverlauf oder zur ukrainischen Großoffensive aber auch einfach als Fakt präsentiert. Sobald eine Äußerung Putins dazu auftaucht, heißt es allerdings: »Putins Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.« Die anderen auch nicht. Das wird aber seltener erwähnt.
Als der Kachowka-Staudamm in der Ukraine durch was und wen auch immer gesprengt wurde, kamen in einer Magazinsendung mit eher unterhaltendem Charakter ukrainische Vertreter zu Wort. Deren Aussage kurz zusammengefasst: Es waren die Russen, die wegen unserer Großoffensive nervös werden. Dazu der Text im Beitrag: »Naturgemäß behauptet Russland das Gegenteil.«
Am 30.6.23 befasste sich die heute-Sendung mit der Vermutung des ukrainischen Geheimdienstes, die Russen planten, das Kernkraftwerk Saporischija in die Luft zu jagen. An keiner Stelle wird thematisiert, dass es zumindest merkwürdig scheint anzunehmen, Russen würden ihre eigenen Leute in die Luft sprengen, denn das AKW Saporischija ist im Gegensatz zur Stadt unter russischer Kontrolle. Der Korrespondent berichtet: »Russland führte bereits am Kachowka-Staudamm eine Katastrophe herbei.«
In der Wiederholung des Beitrags im heute-journal hörte sich der entsprechende Satz dann so an: »Russland führte mutmaßlich schon am Staudamm eine Katastrophe herbei.« Da hat es offenbar Proteste gegeben oder ein Redakteur hat gemerkt, dass das so nicht geht.
Eine knappe Woche später: »Wer einen Staudamm explodieren lässt, der kann auch ein Atomkraftwerk explodieren lassen.« So zitiert ein Reporter am 5.7.23 im öffentlich-rechtlichen Morgenmagazin einen Ukrainer, als es zum wiederholten Male zu einem Beschuss des Kernkraftwerks Saporischja gekommen ist, und lässt diese Aussage so stehen. Ich warte immer noch auf die Erklärung, warum es Sinn machen sollte, dass Russland die eigenen Leute beschießt oder in die Luft sprengt. Man kann schon froh sein, wenn hin und wieder wenigstens darauf hingewiesen wird, dass sich beide Seiten, Russland und die Ukraine, gegenseitig beschuldigen, für den Beschuss der Atomanlage verantwortlich zu sein.
In dem Zusammenhang freue ich mich, ein positives Beispiel einflechten zu können. Nach wie vor ist Saporischja das Thema. Die Nachrichtenlage an dem Tag: Rafael Grossi von der Atomenergiebehörde hält sich zur Inspektion am Kernkraftwerk auf und erklärt der Presse, er habe bei seinen Untersuchungen keine Verminung feststellen können. Der ukrainische Präsident Selenskyj jedoch beharrt darauf, die Atomanlage sei vermint und Russland plane einen Angriff. Und ein Kollege in Kiew spricht von Informationskrieg und Informationsvakuum als großem Problem für die journalistische Arbeit. Was wird Journalisten wann warum erzählt? Es wurden tatsächlich einmal deutlich Zweifel in alle Richtungen geäußert.
In fast jeder Nachrichtensendung ist vom »brutalen Krieg in der Ukraine« die Rede. Als ob es irgendeinen Krieg gäbe, der nicht brutal ist. Gleichermaßen hat sich festgesetzt: »Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine«, oder, wenn die Zeit reicht: »der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.« Das stimmt. Überhaupt keine Frage. Aber wie war das noch bei Kriegen, die andere Länder völkerrechtswidrig begonnen haben? Das hat man vielleicht einmal erwähnt und damit war es dann genug.
Auffällig ist die meist devote Haltung gegenüber den USA. Als Bundeskanzler Scholz am 7. Februar 2022 in die USA reiste, lautete die Anmoderation zu dem entsprechenden Bericht: »Teile der USA sehen Scholz und die deutsche Ukraine-Politik kritisch. Wie will Scholz das geraderücken?« Warum sollte er?
Vom Antrittsbesuch des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius in den USA wurde am 29.6.23 in den Nachrichten berichtet: »Pistorius betonte die Unterstützung der Ukraine.« Und weiter: »Die USA würdigte die deutsche Unterstützung der Ukraine.« Das hört sich so an, als holten wir uns ein Fleißkärtchen ab …
Danach folgte übrigens ein Bericht zur Ukraine, der ein ganz anderes Problem deutlich macht. Das erste Bild des Berichts zeigte eine zerbombte Wohnung. Dazu der Text: »Ein Blick in eine zerbombte Wohnung …« Erst sehr viel später sagte der Reporter: »Diese Wohnung wurde letzten Sommer bombardiert.« Das macht für das Leid der Menschen keinen Unterschied, es ist so und so eine Katastrophe, aber es ist nichtsdestotrotz unseriös, weil es etwas anderes suggeriert. Und wie wir alle wissen: Ein Text kommt niemals gegen ein Bild an.
Es läuft etwas völlig aus dem Ruder, wenn es in Hörfunknachrichten bei der Vorstellung des AfD-Kandidaten Maximilian Krah für die Europawahl heißt: »Krah steht für einen russlandfreundlichen Kurs und zeigte schon Verständnis für die Taliban.« Bitte?
Ich bin auch für deutliche Worte, glaube aber nicht, dass die folgende Ausdrucksweise in irgendeiner Hinsicht hilfreich wirken könnte: Das »terroristische Regime in Russland«, das einen »Vernichtungskrieg gegen die Ukraine« führt. Wenn das ein verzweifelter Mensch an der Front sagt, dann ist das mehr als verständlich, aber im Kontext einer Expertenaussage?
»Wenn der Typ noch mehr unter Druck steht, dann ist er auch zu Zugeständnissen bereit.« Das ist kein aufgeschnappter Brocken von einem Stammtisch, sondern die offizielle Aussage eines SPD-Politikers von Juni 2023 und bezieht sich natürlich auf den russischen Präsidenten Putin. Die Schlussfolgerung des SPD-Mannes: mehr Waffen und mehr NATO. Was »mehr NATO« genau heißen soll, lässt er offen, erklärt nur noch kurz, dass wir in Russland »Stalinismus in Reinkultur« erleben.
Da weiß man dann, was davon zu halten ist, wenn derselbe in einer Nachrichtensendung verkündet: »Die internationale Gemeinschaft steht hinter der Ukraine.« Gehören der globale Süden und die BRICS-Staaten nicht zur internationalen Gemeinschaft? Es ist schon klar, was er meint, aber da ist sie wieder, diese Arroganz.
Eine ganz andere Facette möchte ich auch nicht unterschlagen. Wenn es um die russischen Siegesfeiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs geht, wie auch in diesem Jahr, dann halte ich es für alles andere als angemessen, in diesem Zusammenhang in einer Nachrichtensendung einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt von »Propagandaschau« zu sprechen, während die Parade auf dem Roten Platz in Moskau zu sehen ist. (9.5.23) Viel zu viele haben offenbar vergessen, dass Deutschland damals die Sowjetunion überfallen hat und dass der von Deutschland ausgelöste Zweite Weltkrieg allein in der Sowjetunion – Russland und Ukraine eingeschlossen – 27 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Da scheint mir »Propagandaschau« doch etwas zu hemdsärmelig zu sein. Und zwar unabhängig davon, wie Moskau selbst das sieht oder für eigene Zwecke einsetzt.
Was soll man davon halten, wenn Josep Borrell, der EU-Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, am 8.3.23 unkommentiert sagen kann: »Wir brauchen Kriegsmentalität«, als es um eine Milliarde Euro aus einem Sondertopf ging, um die Ukraine mit Munition zu versorgen?
Wie tief das Bild des barbarischen Russen – im Gegensatz zu allen anderen – sitzt, zeigt sich auch dadurch, dass Experten ohne Widerrede oder Aufklärung durch den Interviewer behaupten können, in Russland drohe denjenigen, die sich der Front entziehen, wohl die Todesstrafe. In Russland gibt es im Gegensatz zu den USA, China und dem Iran zum Beispiel keine Todesstrafe. Und zwar schon seit 1999, als ein Moratorium dazu führte, die rechtlich immer noch mögliche Todesstrafe nicht mehr anzuwenden. Im November 2009 hat das russische Verfassungsgericht die Todesstrafe untersagt.
Zum Schluss noch das: Im April 2023 hat der französische Präsident Macron eine eigene China-Strategie Europas angemahnt und die EU aufgefordert, sich von den USA nicht für deren China-Politik in Geiselhaft nehmen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt stand eine China-Reise der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock an und eine FDP-Politikerin, die Macrons Vorstoß nicht nachvollziehen konnte, wurde nach ihrer Erwartungshaltung zu diesem Besuch befragt. Ihre Antwort: »Frau Baerbock sollte sich nicht zurückhalten, sie hat nichts zu verlieren, außer ihrer Haltung.« Wirklich? Was ist mit dem Eid, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, den Minister vor Amtsantritt ablegen?
Gabriele Krone-Schmalz: „Russland verstehen? Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“, Westend Verlag, Frankfurt am Main, September 2023