Die große Heuchelei wegen eines Flugblattes von 1987
Von Bernd Duschner. – Vorbemerkung: Der Autor, seit langem mit den NachDenkSeiten verbunden, machte telefonisch darauf aufmerksam, dass in der bisherigen Debatte zu Aiwanger, auch in Texten und in der Leserbriefsammlung der NachDenkSeiten, das eigentliche Ziel dieser Diskussion viel zu kurz kommt: Sie überlagert die anstehenden Probleme und das Versagen der Verantwortlichen in Bayern wie im Bund. So ist es wohl auch gedacht. Albrecht Müller.
Hier der Text von Bernd Duschner:
Der Landtagswahlkampf in Bayern ist von kurzer Dauer. Am 10. September gehen die Sommerferien zu Ende und bereits am 8. Oktober wird gewählt. Es bleibt kaum Zeit für inhaltliche politische Auseinandersetzungen. Das kommt den herrschenden Parteien gelegen. Nicht die hohen Preissteigerungen speziell bei Energie und Lebensmitteln, die Löhne, Renten und Ersparnisse der breiten Bevölkerung entwerten, nicht der Stillstand im Wohnungsbau in einer Zeit, in der es gilt, zusätzlich für hunderttausende Flüchtlinge Wohnraum zu schaffen, nicht die irrsinnige Aufrüstung und die zunehmende Kriegsgefahr werden diskutiert. Im Mittelpunkt der Diskussion steht stattdessen ein Flugblatt, das der ältere Bruder des bayerischen Wirtschaftsministers und Vorsitzenden der „Freien Wähler“, Hubert Aiwanger, 1987 als 17-jähriger Schüler an einem niederbayerischen Gymnasium verfasst hat. Die SZ hat es genau zum richtigen Zeitpunkt aus der Tasche gezogen.
Aus dem Flugblatt, das offensichtlich als Provokation gegen bestimmte Lehrer gedacht war, spricht tiefer Hass und Menschenverachtung. Gegen wen aber richtete sich der Text, in wem sah sein Verfasser den Feind, den es zu vernichten galt? Im Flugblatt ist das sehr klar und unmissverständlich formuliert: Es sind Deutsche, konkret, deutsche „Vaterlandsverräter“. Sie werden aufgefordert, zum KZ Dachau zu kommen, um dort an einem Preisausschreiben teilzunehmen. Als Preise könnten sie „einen kostenlosen Genickschuss“ oder „Kopfamputation durch ein Fallbeil“ u.ä. gewinnen.
Das KZ Dachau wurde 1933 eingerichtet, um die politischen Gegner des NS-Regimes, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Pazifisten und aufrechte Demokraten auszuschalten und zu ermorden. Es sollte in der Bevölkerung eine lähmende Atmosphäre der Angst verbreiten. Kein Gedanke an Widerstand sollte aufkommen.
Halten wir fest: Dem Verfasser des Flugblattes ging es nicht um die Juden, wie uns die herrschenden Medien und Politiker suggerieren möchten, sondern um deutsche „Vaterlandsverräter“. Wer aber waren in der alten Bundesrepublik für Neofaschisten und Teile der CDU/CSU „Vaterlandsverräter“? Es waren alle die Menschen, die sich für eine Aussöhnung mit dem Osten, für die Anerkennung der bestehenden Grenzen, insbesondere von Polen und der CSSR, für den Dialog auf gleicher Augenhöhe mit der DDR und Russland, respektive der Sowjetunion, eingesetzt haben. Der Feind, das waren die Befürworter von Abrüstung und Entspannungspolitk.
Genau diese Wahrheit wird heute in einer Zeit des Russenhasses, der Hochrüstung und der Kriegsgeilheit von Medien und unseren „Top“-Politikern verschwiegen. Bewusst konzentriert sich die Berichterstattung unserer Leitmedien ausschließlich auf den Schreiber des Flugblattes und blendet das damals vorherrschende gesellschaftliche und politische Umfeld aus. Wie aber junge Menschen die Berichte und Informationen über das NS-Terrorregime aufnehmen und verarbeiten, wird im hohen Umfang von Eltern, Schule, Leitmedien, der allgemein herrschenden politischen Atmosphäre und ihren Rahmenbedingungen bestimmt.
Nach dem Krieg haben CDU/CSU und FDP alles in ihren Möglichkeiten getan, um über die Verbrechen des NS-Regimes eine Decke des Verschweigens zu legen und jede ernsthafte Aufarbeitung zu verhindern. „Ein Volk“, so Franz Josef Strauß bereits 1961, „das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“ Aktive Unterstützer des NS-Regimes erhielten unter den CDU/CSU/FDP-Regierungen Spitzenpositionen: Bundeskanzler Konrad Adenauer machte den Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze Hans Globke zu seinem Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramtes, die NS-Generäle Heusinger, Speidel und Gehlen wurden mit Aufbau und Leitung von Bundeswehr und BND beauftragt.
Erst 1963, also nahezu 2 Jahrzehnte nach der Befreiung des KZ Auschwitz, konnte der erste Prozess gegen Angehörige seiner SS-Wachmannschaften stattfinden. Nur gegen den erbitterten Widerstand speziell der FDP und ihres damaligen Justizministers Bucher konnte verhindert werden, dass die NS-Morde bereits ab 1965 als verjährt galten und so zahlreiche NS-Schergen unbehelligt geblieben wären.
Der Geist der Verharmlosung der Verbrechen des NS-Regimes herrschte noch 1987 in weiten Teilen des von der CSU beherrschten Bayern. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass das Verfassen und Verteilen des Hetzflugblattes vom niederbayerischen Gymnasium als Bagatelle eingestuft und mit einem Referat „geahndet“ wurde. Dagegen flog 1980 in Regensburg die 18-jährige Christine Schanderl vom Gymnasium, weil sie eine „Stoppt Strauß“-Plakette getragen hatte.
Wenn sich heute CSU-Chef Söder als Anwalt der NS-Opfer darstellt, so ist das angesichts der Geschichte seiner eigenen Partei an Heuchelei schwer zu übertreffen. Das gilt auch für die Politiker der SPD und der Grünen, die zu den KZ- und Foltergefängnissen der USA in Guantanamo, Abu Graib, Bagram, der gezielten Tötung von tausenden Menschen weltweit durch US-Drohnen und dem Aushungern ganzer Völker durch Sanktionen wie in den 90er Jahren im Irak und heute in Syrien geschwiegen haben und noch heute schweigen.