Als der fünfte US-Präsident, James Monroe, 1823 die Leitlinien formulierte, die als nach ihm benannte Doktrin in die Geschichte eingingen, war das die Widerspiegelung einer neuen Qualität des Selbstbewusstseins der USA – eines Selbstbewusstseins, welches sich in den nächsten zwei Jahrhunderten ins geradezu Unermessliche steigern sollte: Die USA als „God’s own country”. Von Gerhard Mertschenk.
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1823 war die Konsolidierung des Staatsterritoriums – sprich Raub/Aneignung des Landes der indigenen Völker – so gut wie abgeschlossen. Zwar standen deren endgültige Unterwerfung, der Sezessionskrieg und die Aneignung der Hälfte des mexikanischen Staatsgebiets noch bevor, aber angesichts des Unabhängigkeitsprozesses in den Kolonien in Lateinamerika fühlte man sich schon so stark, die Gelegenheit nutzen zu können, um den europäischen Mächten Schranken aufzuzeigen.
Dabei darf man nicht vergessen, dass die USA sich selbst erst 1776 vom britischen Kolonialjoch losgelöst hatten. Mit der Monroe-Doktrin verbaten sich die USA jegliche Einmischung europäischer Länder auf dem amerikanischen Kontinent. Ein Verstoß gegen diesen politischen Grundsatz würde von den USA als feindselige Handlung angesehen werden und hätte unweigerlich ein Eingreifen der USA zur Folge. Im Gegenzug verzichteten die USA großzügig auf eine Einmischung in Konflikte in Europa.
Die Kurzformel, auf die die Monroe-Doktrin reduziert wird, lautete dementsprechend: „Amerika den Amerikanern”, wobei mit „Amerikanern” selbstverständlich die US-Amerikaner gemeint waren. Dazu eine Anmerkung: Aufgrund der Abstammung von aus Afrika verschleppten versklavten Menschen werden farbige Einwohner Amerikas gemeinhin als Afroamerikaner bzw. nach spezieller Nationalität Afrokolumbianer usw. genannt. Logischerweise müssten die hellhäutigen US-Bürger als Euroamerikaner bezeichnet werden, und die Bezeichnung „Amerikaner” dürfte nur den originären Völkern zustehen.
Die USA nahmen und nehmen für sich das Recht in Anspruch, jederzeit in jedem lateinamerikanischen Land zu intervenieren, wenn sie es für nötig erachten. Die vielfältigen US-Interventionen in Lateinamerika in den vergangenen 200 Jahren haben gezeigt, dass diese Politik von den USA skrupellos umgesetzt wird. Dabei muss man sich immer vor Augen halten, dass es sich bei der Monroe-Doktrin um einseitig von den USA definierte Prinzipien handelt, die kein Völkerrecht darstellen.
Da die traditionellen militärischen Interventionen wegen Imagebeschädigung international nicht mehr gut ankommen, wird auf andere „nicht kriegerische” Einmischungen neuerer Art in Form von US-finanzierten Stiftungen, NGOs und Separatisten zurückgegriffen. Zu den „nicht kriegerischen” Mitteln gehören auch die Wirtschaftssanktionen gegen Nationen, die sich nicht den US-Maßstäben unterwerfen wollen, sondern für Gleichberechtigung und gemeinsames Handeln zum Wohle aller in einer multipolaren Welt eintreten.
Der Monroe-Doktrin haftete immer der negative Beigeschmack von angemaßter Vorherrschaft an, weshalb Barack Obama es im November 2013 sogar für opportun hielt, seinen Außenminister John Kerry die Monroe-Doktrin offiziell für tot erklären zu lassen, um dadurch seinen Heiligenschein als progressiver und verständnisvoller Präsident gegenüber den lateinamerikanischen Ländern noch heller leuchten zu lassen.
Donald Trump hingegen betonte 2018 vor der UN-Vollversammlung, dass die USA jedes Eindringen „expansionistischer ausländischer Mächte” (womit China und Russland gemeint waren) in die westliche Hemisphäre zurückweisen würden. Dabei bezog er sich ausdrücklich auf James Monroe. Sein damaliger Sicherheitsberater John Bolton bekräftigte das mit der Versicherung: „Die Monroe-Doktrin lebt”.
James Monroe hatte allerdings schon einen Vorreiter. Bereits der dritte US-Präsident, Thomas Jefferson, hatte erklärt, dass die USA eine Hemisphäre bräuchten, um Stabilität zu erreichen, zu prosperieren und ihre Großartigkeit abzusichern. Und diese Hemisphäre war natürlich Lateinamerika.
Ganz aktuell findet sich diese Auffassung wieder in den Äußerungen der Generalin Laura Richardson, Oberkommandierende des für Lateinamerika zuständigen Südkommandos der US-Streitkräfte. Vor dem Atlantik Rat erwähnte sie am 19. Januar 2023 u.a. die vielen Bodenschätze in Lateinamerika, die für die Sicherheit der USA wichtig seien. In ihrer Begeisterung sprach sie nicht einfach von Bodenschätzen, die dort vorhanden sind, sondern sagte mehrmals „wir haben” dort – eine offenherzigere Enthüllung des Inhalts der Monroe-Doktrin ist wohl kaum denkbar:
„Mit all seinen reichen Ressourcen und seltenen Erden, da gibt es das Lithium-Dreieck, das heutzutage für die Technologie erforderlich ist. 60 Prozent des weltweiten Lithiums befinden sich im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile… Die größten Ölreserven, darunter leichtes, süßes Rohöl, das vor mehr als einem Jahr vor der Küste Guyanas entdeckt wurde, auch die Ressourcen Venezuelas mit Öl, Kupfer und Gold. Wir haben 31 Prozent des Süßwassers der Welt in Lateinamerika.”
Die auf die Monroe-Doktrin folgenden weiteren US-Doktrinen – Roosevelt-Doktrin 1901: Politik des großen Knüppels (big stick) und Truman-Doktrin 1947: Politik der Eindämmung des Kommunismus (containment policy) – dehnten den Anspruch der USA auf die ganze Welt aus und beruhen auf dem ideologischen Fundament, demzufolge die USA eine Ausnahmestellung in der Welt innehaben. Die „Amerikaner” verstehen sich als auserwähltes Volk, dessen Werte und Institutionen einerseits allen anderen überlegen sind, und sie andererseits gerade deshalb die Pflicht haben, diese Werte zum Wohle der gesamten Menschheit weltweit zu verbreiten.
Diese Auffassung wird unter dem Schlagwort „manifest destiny” (offensichtliches oder unabwendbares Schicksal) zusammengefasst und besagt, dass die USA einen göttlichen Auftrag zur Expansion hätten. Es handelt sich also um ein religiös-politisch-ideologisch begründetes Sendungsbewusstsein, bei dem die eigenen, gottgegebenen Werte zum Ziel und Ideal der gesamten Menschheit erklärt werden.
Diese Grundeinstellung findet auch darin ihren Ausdruck, dass führende US-Politiker – u.a. Madeleine Albright, Barack Obama, Hillary Clinton, George W. Bush, Marco Rubio, Joe Biden, Jeb Bush – von den USA als der einzigen unentbehrlichen Nation der Welt sprechen, keine andere Nation könne diese Rolle übernehmen, und das schließe die Gestaltung der globalen Institutionen mit ein. Alle anderen Völker sind demnach entbehrlich und haben keine Daseinsberechtigung, wenn sie sich nicht den US-Werten unterwerfen. Das ist die Geisteshaltung, die hinter ihrer aggressiven Großmachtpolitik steht.
Trump stellte neben seinen bekannten Losungen „America first” und „Make America great again” auch klar: „Die extreme Linke arbeitet aktiv darauf hin, unsere gottgegebenen Rechte auszulöschen.” Es bleibt also weiterhin bei der Selbstwahrnehmung der USA als „God’s own country“.
Die Monroe-Doktrin wurde im Laufe der Jahre immer wieder neu interpretiert und bleibt ein wichtiger Bestandteil der US-Außenpolitik. Sie spielt auch eine Rolle im beginnenden Wahlkampf in den USA. In dem Bestreben, sich als verständnisvoller Politiker darzustellen und sich von den Republikanern, speziell von Trump, abzugrenzen, enthüllte Biden auf einer Pressekonferenz am 19. Januar 2023 beiläufig den wahren Unterschied zwischen ihm und Trump. Dieser spreche von Lateinamerika als dem Hinterhof der USA, während er darauf bestehe, dass alles, was südlich der mexikanischen Grenze liegt, Washingtons Vorgarten ist.
Sind nun die USA ihres Hinterhofs verlustig gegangen? Keine Sorge, in Lateinamerika weiß man schon, wer der neue Hinterhof des USA ist. So schrieb z.B. die Kommunistische Partei Chiles jüngst:
„Der nordamerikanische Imperialismus und sein neuer Hinterhof, die Europäische Union, arbeiten auf eine Konfrontation hin, die in einem Atomkrieg mit katastrophalen Konsequenzen für das Überleben der Menschheit enden kann.”
Angesichts der Unterwürfigkeit der EU gegenüber der US-Politik, wobei selbst gegen eigene Interessen agiert wird, sollte uns diese Einschätzung aus einem Erdteil, der seit 200 Jahren unter der Monroe-Doktrin zu leiden hatte, zum Nachdenken anregen und sie eingedenk des Umgangs der USA mit ihrem Hinterhof als Warnung verstehen lassen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf amerika21.
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