Hinter dem Streit um die Nachfolge von Ursula Engelen-Kefer als DGB-Vize-Chefin steht mehr als eine Personalfrage.
Gerade in Zeiten einer Großenkoalition, wo der politische Streit eher unter den Teppich gekehrt wird, wo die kleinen Oppositionsparteien nicht mehr in die veröffentlichte Debatte vordringen, wären die großen gesellschaftlichen Institutionen, wie die Gewerkschaften gefordert, außerparlamentarisch die Regierung anzutreiben und die von ihr gemachte Politik, mit den eigenen Vorstellungen und Konzepten zu konfrontieren. Statt nun alle, wirklich alle Kraft darauf zu konzentrieren, auf dem Feld einer arbeitnehmerorientierten Sozial- und Wirtschaftspolitik in die Offensive zu gehen, betreiben einige „hohe Gewerkschaftsfunktionäre“ eine ziemlich jämmerliche Personaldebatte, um die Nachfolge von Ursula Engelen-Kefer als stellvertretende DGB-Vorsitzende.
Mit der Bildung einer großen Koalition wurde der von Schröder mit seiner Agenda eingeleitete „Reformkurs“ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stabilisiert. Die eindimensional angebotsorientierte Wirtschaftspolitik wird fortgesetzt, in der Koalitionsvereinbarung steht weiterhin die Verbesserung der Investitionsbedingungen für die Unternehmen mit weiteren Steuererleichterungen, erweiterte Abschreibungsbedingungen und Investitionsanreizen im Vordergrund. Das auf vier Jahre angelegte „Investitionsprogramm“ ist eher ein Placebo.
Die Sozialpolitik, so hört man uni sono, soll sich auf Fürsorge für Bedürftige reduzieren.
Vor allem wegen dieses angestrebten, in der Koalition nicht mehr kontroversen Systemswechsels weg von einer solidarischen Absicherung gegen die Risiken des Arbeitsmarktes und weg von einer eine auskömmlichen umlagefinanzierten Altersvorsorge, wäre es wichtig, dass die Gewerkschaften, als die Vertretung der Arbeitnehmer, die von diesem Systemwechsel unmittelbar betroffen sind, das Schweigekartell der Großkoalitionäre mit ihren eigenen Vorstellungen und Konzepten des im Grundgesetz verankerten Sozialstaates konfrontieren.
Da Politik in einer zunehmend medial vermittelten Demokratie vor allem über Personen vermittelt wird, wäre es wichtig, dass es im geschäftsführenden Bundesverstand des DGB kompetente, kampferfahrene und mutige Stimmen gäbe, die sich auf dem Feld der Sozial-, Arbeitsmarkt-, Gesundheits- oder Rentenpolitik öffentliches und politisches Gehör verschaffen könnten.
Die seit 16 Jahren dem DGB-Bundesvorstand angehörende stellvertretende Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer hat das mit all ihrer Kraft immer wieder getan. Sie hat die Positionen des DGB vehement vertreten, wo andere Gewerkschaftsvertreter schon mit der Schere des Kompromisses im Kopf in die Debatte gingen. Sie hat im öffentlichen und medialen Streit oft genug ziemlich alleine gelassen mit ihrer Fachkompetenz gegen den Strom angekämpft.
Als zerbrechlich wirkende Frau wurde sie mit ihrer Renitenz nur allzu oft offen oder hinter vorgehaltener Hand von den politischen Platzhirschen und den machohaften Medienprofis als „Nervensäge“ abgestempelt. Sie hat sich in Expertenkreisen Respekt verschafft, aber sich selbst unter den Gewerkschaften, aber auch im SPD-Bundesvorstand, in der Union und schon gar in der FDP nur wenige „Freunde“ geschaffen. Sie musste deshalb viele verdeckte und offene Anfeindungen aushalten. Weil sie Prinzipientreue nicht mit Sturheit oder gar Unbelehrbarkeit verwechselt hat, war sie durchaus zu Kompromissen bereit und hat ihren Kopf dafür hingehalten, was ihr oft wiederum Kritik von der eigenen Gewerkschaftsbasis eingetragen hat. Oft saß sie also zwischen allen Stühlen.
Die Vize-Chefin des DGB ist nun 63 Jahre alt, und in diesem Alter wäre es ihr zu gönnen, wenn sie sich aus der vordersten Front der Gewerkschaftsarbeit etwas zurückziehen könnte. Nichts dagegen zu sagen also, wenn sich die Findungskommission der verschiedenen Einzelgewerkschaften Gedanken über eine Nachfolge macht. Für eine Organisation, die ihren Bundeskongress unter das Motto stellt „Die Würde des Menschen ist unser Maßstab“, ist allerdings die Form, in der diese Nachfolgedebatte geführt wird, alles andere als angemessen. Da wird argumentiert, man könne nicht glaubhaft gegen die Rente mit 67 Jahren mobilisieren, wenn man jemand im Alter von 63 nochmals wählen würde, da wird über die Bande der Medien gespielt, es wird anonym Boshaftes kolportiert, sie wird in die linke Ecke gestellt und vor allem wird sie als Traditionalistin, als Vertreterin des „alten“ oder nostalgischen Sozialstaatsdenkens abgetan.
Spätestens hier geht die Personaldebatte über die Personen weit hinaus und trifft das Kernanliegen der Gewerkschaftsbewegung, nämlich die Zukunft einer arbeitnehmerorientierten Sozialpolitik. Haben sich nicht schon allzuviele in den Spitzen der Einzelgewerkschaften und im DGB entgegen der Beschlusslage und entgegen mancher Reden auf Gewerkschaftstagen mit der „gründlichen Umgestaltung des Sozialstaates“ und mit einer Reduktion der Sozialsysteme auf eine „Grundversorgung“ abgefunden? Wird von Gewerkschaften wie der IG BCE oder von Transnet nicht schon ganz offen mit einer Spaltung der Gewerkschaftsbewegung gedroht? Hat nicht ein großer Teil der Funktionäre trotz verbaler Attacken die „Hartz-Reformen“, die Privatisierung der Rente oder die Gesundheitsreform vor allem auf dem Rücken der Patienten schon längst geschluckt? Hat man sich nicht schon die Tolerierung des „Agenda-Kurses“ dadurch abkaufen lassen, dass (jedenfalls vorläufig und auf der gesetzlichen Ebene) nicht weiter in die Tarifautonomie eingeschnitten werden soll? Hat man nicht auch in der Gewerkschaftsbewegung – ähnlich wie in der SPD – schon längst unausgesprochen und unausdiskutiert einen Kurswechsel „von oben“ vollzogen?
Das wären die Themen, die vor einer personellen Neuaufstellung des DGB-Bundesvorstandes an- und ausgesprochen werden müssten. Und auf diesem Feld müssten sich mögliche Nachfolgerinnen oder Nachfolger profilieren und sich mit Engelen-Kefer streiten und messen, damit die Delegierten eine politische Wahl- und Personalentscheidung treffen könnten.
Die zentrale Frage für den gewerkschaftlichen Dachverband müsste sein, wer wäre in der Lage und wer hätte die Statur gerade in einer Phase, in der die gewerkschaftliche Programmatik und die Interessen der Arbeitnehmer auf dem Feld der Sozialpolitik völlig in die Defensive geraten sind, Ursula Engelen-Kefer zu ersetzen und ihre Rolle besser auszufüllen.
Stattdessen wird hinter verschlossenen Türen und bei Pressegesprächen allenfalls mit geschlossenem Visier über Äußerlichkeiten der langjährigen DGB-Vorsitzenden gelästert. Das ist eine Form des Streits, der weder solidarisch, geschweige denn der schwierigen und schwach geworden Position der Gewerkschaften in der politischen Auseinandersetzung angemessen ist. Zum Schaden für den DGB und für die von ihm vertretenen Arbeitnehmer. Die Arbeitgeberseite und vor allem die Versicherungswirtschaft, mit der Engelen-Kefer wegen des sog. Rückholfaktors bei der „Riester-Rente“ in heftigem Streit lag, dürften erleichtert aufatmen.