Ein „umstrittener Protestsong spaltet die USA“, melden Medien. Für die einen ist das aktuelle Musik-Phänomen um den US-Countrysänger Oliver Anthony Teil eines rechten Kulturkampfes, für die anderen ist sein Lied der bewegende Ausdruck von Nöten des „kleinen Mannes“. Fest steht: Das Lied hat Seele und erreicht auf der Gefühlsebene zu Recht zahlreiche Menschen. Schaut man sich aber den Text genauer an, so stellt sich schon die Frage: Ist es überhaupt ein Protestsong? Von Tobias Riegel.
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Schon die erste Zeile geht direkt ins Herz: „I’ve been selling my Soul, working all Day“. Die Worte, die Stimme, das einfache Gitarrenspiel, der Bart, die Erscheinung, die ganze Haltung fügen sich zusammen: Dieser Hinterwäldler hat Soul!
Um den bisher kaum bekannten US-Country-Sänger Oliver Anthony und seinen Song „The rich Men north of Richmond“ ist aktuell ein Phänomen zu beobachten. Denn das Lied, das kritisch auf das nördlich von Richmond gelegene Washington anspielt, steht plötzlich an der Spitze der US-Charts. Doch nicht nur in den USA berührt der Song offensichtlich zahlreiche Menschen – langsam, aber sicher entwickelt er sich zum Welthit: So führt das Lied die internationalen „Global Charts“ beim Streamingdienst Apple Music an, wie Medien berichten, und bei YouTube hat der nur mit Resonatorgitarre begleitete und teils leidenschaftlich herausgeschriene Folksong momentan (Stand: Mittwoch, 12 Uhr) 34 Millionen Klicks, Tendenz rapide steigend. Hier ist das Lied:
„Umstrittener Protestsong spaltet die USA“
Aber der Erfolg von Anthony hat auch eine andere Seite. Um den Song ist in den USA eine große Debatte entstanden, auch dadurch, dass sich prominente Republikaner positiv dazu geäußert hatten. N-TV vermeldet: „Umstrittener Protestsong spaltet die USA“. Die Süddeutsche Zeitung kommt zu dem Schluss, der Erfolg basiere auch auf „Zuspruch von Ultrarechten“, und fährt fort:
„Der Kulturkampf 2023 hat also seinen Soundtrack, aktuell zu finden auf Platz eins der US-Billboard-Single-Charts. Und die Wahrheit, genauer gesagt das, was ein Teil der amerikanischen Bevölkerung gerade dafür hält, hat einen neuen Posterboy: Oliver Anthony, bürgerlich Christopher Anthony Lunsdorf. Laut amerikanischen Medien, die sich auf einen sehr langen Post des Sängers beziehen, ein High-School-Abbrecher, der sich während der Arbeit in einer Papierfabrik den Schädel gebrochen haben soll, sechs Monate arbeitslos war, depressiv und schwerer Trinker. Angeblich hat er acht Millionen Dollar von einer Plattenfirma abgelehnt.“
Und der ORF titelt bei dem Thema: „Umstrittener Song an Spitze der US-Charts“. In dem Artikel wird aber auch auf den zutreffenden Aspekt verwiesen, dass es weniger der konkrete Inhalt ist, der viele Menschen bei dem Song fasziniert, als eine Atmosphäre und eine Haltung:
„Auch der Aktivist und Kommentator Matt Walsh sowie der Ex-Banjo-Spieler der Band Mumford & Sons, Winston Marshall, fanden an dem Song Gefallen. Walsh twitterte: ‚Der Hauptgrund, warum dieses Lied bei so vielen Menschen Anklang findet, ist nicht politisch. Es ist, weil das Lied direkt und authentisch ist. Wir sind von Künstlichkeit erdrückt.’“
Auch die US-Ausgabe des Musikmagazins Rolling Stone fragt sich, warum das Lied so sehr von „rechten Influencern“ geschätzt werde und macht auf eine Textstelle aufmerksam, die tatsächlich fragwürdig ist. Anthony würde sich gegen hohe Steuern etc. wenden, so das Magazin, aber eben auch gegen „Sozialmissbrauch“, wenn er sich beschwert, dass die Wohlfahrt übergewichtigen Arbeitslosen die Süßigkeiten spendieren würde. Ich möchte hinzufügen, dass auch die Skandalisierung von hohen Steuern, die Anthony ebenfalls betreibt, oft keine soziale Stoßrichtung hat.
An dem Song und der Debatte darum wird ein Dilemma der US-Politik deutlich: Einerseits ist die Kritik von republikanischer und „rechter“ Seite an Auswüchsen der Politik der US-Demokraten zum Teil richtig und begrüßenswert. Andererseits sind aber zahlreiche Ansätze von republikanischer Seite (etwa bei der Frage der Besteuerung und der Sozialhilfe) ebenfalls abzulehnen – und sie werden auch nicht dadurch gut, dass sie sich gegen die aktuelle Biden-Regierung richten.
„Redneck oder Revolutionär“?
Es ist also eine etwas verwirrende Mischung. Die Junge Welt schreibt zu Anthony einerseits: „In Knittershirt, mit rotem Bart und ohne Plattenvertrag steht er (…) mitten im Wald, ackert auf einer Resonatorgitarre und singt mit kratziger Inbrunst in der proletarischen Tradition eines Woody Guthrie oder Jim Croce.“ Andererseits wird auch die Zeitung nicht ganz schlau daraus:
„Ob Redneck oder Revolutionär, das ist nicht so ganz klar – die dpa tickerte allerdings schon, dass der Klassenkampf an der Spitze der Charts zurück sei.“
Ich denke, es geht beides: Auch wenn Anthony Merkmale eines „Redneck“, also eines konservativen Hinterwäldlers aufweist, so hat der Song trotzdem eine große Kraft, die jenseits des Textes durch eine Atmosphäre der „Echtheit“ mobilisierend und dadurch auch indirekt sozial wirken kann – auch wenn ich das nicht gleich als „revolutionär“ bezeichnen möchte. Andererseits kann man nicht wegwischen, wenn die Süddeutsche Zeitung schreibt, „der erfolgreiche Protestsong 2023 besingt also weiterhin nicht soziale Ungerechtigkeit“:
„Er bekämpft maßlose Umverteilung und Sozialpolitik, er prangert die ‚obese milking welfare‘ an, die den fetten Arbeitslosen ihre Kekse (‚fudge rounds‘) finanziert.“
Wiederum andererseits: Die berührende Wirkung des Songs auf sehr unterschiedliche Menschen zeigt etwa dieses Video:
These reactions are priceless.
Oliver Anthony's music is RELATABLE to every American!!!
No matter race, gender, or wealth, WE THE PEOPLE ARE FED UP!!!
— Graham Allen (@GrahamAllen_1) August 17, 2023
Und was Anthony etwa hier zu „Melting Pot“ und „Diversity“ sagt, klingt nicht gerade rechts:
A video that appears to be viral music star Oliver Anthony saying America is a melting pot & diversity is what makes us strong.
pic.twitter.com/nNeMDbzfPB— An0maly (@LegendaryEnergy) August 22, 2023
„Ich lebe in der neuen Welt – Mit einer alten Seele“
Der gesamte Text des Lieds findet sich hier, er lautet:
„I’ve been sellin’ my soul, workin’ all day
Overtime hours for bullshit pay
So I can sit out here and waste my life away
Drag back home and drown my troubles awayIt’s a damn shame what the world’s gotten to
For people like me and people like you
Wish I could just wake up and it not be true
But it is, oh, it isLivin’ in the new world
With an old soulThese rich men north of Richmond
Lord knows they all just wanna have total control
Wanna know what you think, wanna know what you do
And they don’t think you know, but I know that you do
‘Cause your dollar ain’t shit and it’s taxed to no end
‘Cause of rich men north of Richmond“I wish politicians would look out for miners
And not just minors on an island somewhere
Lord, we got folks in the street, ain’t got nothin’ to eat
And the obese milkin’ welfareWell, God, if you’re 5-foot-3 and you’re 300 pounds
Taxes ought not to pay for your bags of fudge rounds
Young men are puttin’ themselves six feet in the ground
‘Cause all this damn country does is keep on kickin’ them downLord, it’s a damn shame what the world’s gotten to
For people like me and people like you
Wish I could just wake up and it not be true
But it is, oh, it is
Auf Deutsch (mit DeepL übersetzt):
„Ich habe meine Seele verkauft, arbeite den ganzen Tag
Überstunden für beschissene Bezahlung
Damit ich hier draußen sitzen und mein Leben verschwenden kann
Nach Hause ziehen und meine Sorgen ertränkenEs ist eine verdammte Schande, was aus der Welt geworden ist
Für Leute wie mich und Leute wie dich
Ich wünschte, ich könnte einfach aufwachen und es wäre nicht wahr
Aber es ist, oh, es istIch lebe in der neuen Welt
Mit einer alten SeeleDiese reichen Männer nördlich von Richmond
Gott weiß, sie wollen alle nur die totale Kontrolle
Wollen wissen, was du denkst, wollen wissen, was du tust
Und sie glauben nicht, dass du es weißt, aber ich weiß, dass du es weißt
Denn dein Dollar ist ein Scheiß und wird ohne Ende besteuert
Wegen der reichen Männer nördlich von RichmondIch wünschte, die Politiker würden sich um Bergleute kümmern
Und nicht nur Minderjährige auf einer Insel irgendwo
Herr, wir haben Leute auf der Straße, die nichts zu essen haben
Und die Fettleibigen, die von der Sozialhilfe lebenNun, Gott, wenn du 1,80 m groß bist und 300 Pfund wiegst
Die Steuern sollten nicht für deine Tüten mit Karamellbonbons bezahlt werden
Junge Männer stecken sich sechs Fuß in den Boden (“puttin’ themselves six feet in the ground“)
Weil dieses verdammte Land sie nur immer wieder runterstößtHerr, es ist eine verdammte Schande, was aus der Welt geworden ist
Für Leute wie mich und Leute wie dich
Ich wünschte, ich könnte einfach aufwachen und es wäre nicht wahr
Aber es ist, oh, es ist
Titelbild: Screenshot – Radio WV / NachDenkSeiten