Offiziell befinden sich die USA und die Länder der EU nicht in einem Krieg mit Russland. Viele westliche Politiker und Medien streiten sogar ab, dass die NATO in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg mit Russland austrägt. Trotzdem erinnert die aufgrund westlicher Waffenlieferungen zu einem Stellungs- und Abnutzungskrieg mutierte militärische Auseinandersetzung in der Ukraine an den Ersten Weltkrieg. Was können weitere Vergleiche mit der großen humanitären Katastrophe zu Beginn des 20. Jahrhunderts über einen möglichen zukünftigen Verlauf des aktuellen Konflikts aussagen? Von Karsten Montag.
Der Historiker Markus Reisner, Oberst des österreichischen Bundesheeres, zieht in seinen Videobotschaften und Interviews mit deutschsprachigen Medien immer wieder Vergleiche zwischen der Westfront im Ersten Weltkrieg und dem Krieg in der Ukraine, die er mit dessen Charakter eines Stellungs- und Abnutzungskrieges begründet. Es lassen sich jedoch weitere Parallelen ziehen, die aufzeigen, wohin der aktuelle Konflikt noch führen kann.
Der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine ähnelt den Anfängen an der Westfront des Ersten Weltkriegs
Kriegsparteien im Ersten Weltkrieg waren die sogenannten Mittelmächte und die Mächte der Triple Entente. Zu den Mittelmächten gehörten das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn sowie später auch das Osmanische Reich und Bulgarien. Die Länder der Entente waren Großbritannien, Frankreich und Russland. Unterstützt wurden sie von Italien, den USA und einer ganzen Reihe weiterer Länder. Die längsten, verlustreichsten und entscheidendsten Kämpfe fanden an der Westfront auf dem Gebiet Frankreichs und Belgiens statt. Dort standen sich hauptsächlich die Armeen Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens und später auch der USA auf der einen Seite und die Streitkräfte Deutschlands auf der anderen gegenüber.
Dem sogenannten Schlieffen-Plan folgend, gelang es dem deutschen Heer nach Kriegsbeginn Ende Juli 1914 innerhalb kürzester Zeit, Belgien zu erobern und bis kurz vor Paris vorzustoßen. Doch aufgrund des Widerstands der Belgier und der Gegenangriffe der französischen Armee sowie der anfänglichen Erfolge der russischen Streitkräfte an der Ostfront Deutschlands gab die deutsche Heeresleitung den Plan auf, die Hauptstadt Frankreichs kurzfristig zu erobern, und zog ihre Truppen im September und Oktober 1914 auf eine Frontlinie im Nordosten Frankreichs zurück. Diese sollte über die weiteren vier Kriegsjahre trotz erheblichen Einsatzes von Menschen und Material auf beiden Seiten fast unverändert bleiben.
Der anfängliche Bewegungskrieg an der deutschen Westfront schlug um in einen Grabenkrieg, der hauptsächlich mit ausgedehnten Verteidigungsanlagen, Artillerie, Maschinengewehren und Vorstößen der Infanterie mit immensen Verlusten ausgetragen wurde. Aufgrund des hohen Einsatzes von Kriegsgerät, Munition und Soldaten sowie der geringen Geländegewinne wurde diese Form der Kriegsführung Materialschlacht genannt. Das Ziel derartiger Kampfhandlungen ist es, den Gegner mittels quantitativer und technischer Überlegenheit in die Knie zu zwingen.
Bereits Mitte November 1914 teilte Generalstabschef Falkenhayn dem deutschen Reichskanzler Bethmann Hollweg mit, dass der Krieg gegen die Entente nicht mehr zu gewinnen sei, und schlug einen Verhandlungs- und Separatfrieden mit einem oder mehreren Gegnern vor. Letzterer lehnte jedoch ab, da er angesichts der großen Opfer bereits in den ersten Kriegsmonaten auf die Annexionen belgischen und französischen Territoriums nicht verzichten wollte. Ein Friedensangebot der Mittelmächte im Dezember 1916, kurz nach der für beide Seiten äußerst verlustreichen Schlacht an der Somme und der Eroberung Rumäniens durch Österreich-Ungarn, schlugen die Mächte der Entente aus.
Der Verlauf des Krieges in der Ukraine ist bisher demjenigen an der Westfront im Ersten Weltkrieg sehr ähnlich. Nach dem Einmarsch russischer Truppen von Norden, Osten und Süden aus auf das Gebiet der Ukraine Ende Februar 2022 konnten diese zunächst Geländegewinne verzeichnen und bis kurz vor Kiew vorstoßen. Doch bereits im April 2022 zog sich die russische Armee aufgrund des Widerstands der Ukraine auf eine Frontlinie im Süden und Osten des Landes zurück. Nach weiteren Rückeroberungen bei Charkiw und Cherson durch die ukrainische Armee bis Mitte November 2022 blieb der Frontverlauf bis heute jedoch fast unverändert.
Wie an der Westfront im Ersten Weltkrieg ist der Krieg in der Ukraine bereits nach kurzer Zeit von einem Bewegungskrieg in einen Grabenkrieg und eine Materialschlacht umgeschlagen. Beide Seiten bekämpfen sich hauptsächlich mit ausgedehnten Verteidigungsanlagen, Artillerie, Panzern und verlustreichen Vorstößen der Infanterie. Hinzu kommen Drohnenangriffe an der Front sowie Drohnen- und Raketenangriffe auf strategische Ziele im Hinterland, die jedoch bisher nicht kriegsentscheidend waren. Die russische Luftwaffe verfügt zudem zumindest in der Nähe des Frontverlaufs über eine Luftüberlegenheit, mit der sie die Kampfhandlungen des Heeres unterstützen kann.
Bereits Ende Februar 2022 begannen zwischen der Ukraine und Russland Verhandlungen zu einem Waffenstillstand, die jedoch im April wieder abgebrochen wurden. Sie scheiterten unter anderem, weil Russland die eroberten Gebiete der Ukraine nicht bedingungslos zurückgeben wollte, sondern eine verbindliche Neutralität des gesamten Landes forderte. Welche Rolle der spontane Besuch des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew beim Abbruch der Verhandlungen gespielt hat, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Der damalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett, der als einer der hauptsächlich verantwortlichen Mediatoren in diesen Friedensprozess involviert war, bestätigte jedoch, dass die Verhandlungen auf Initiative des Westens abgebrochen wurden.
Rüstungsausgaben und Bewaffnung
Noch finden keine direkten militärischen Auseinandersetzungen zwischen den NATO-Staaten und Russland statt. Doch beinahe täglich kann man auf allen Medienkanälen mitverfolgen, wie die ukrainische Armee frisch gelieferte NATO-Waffen gegen die russischen Truppen einsetzt. Gesetzt den Fall, dass der Krieg in der Ukraine zu einem mehrjährigen Abnutzungskrieg mutiert, wie dies in verschiedenen deutschen Medien (Beispiele hier, hier und hier) derzeit vermutet wird, dann spielen die Reserven und Produktionskapazitäten an Waffen und Munition auf beiden Seiten eine kriegsentscheidende Rolle. Ein Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg zeigt, dass diejenige Seite, die über die größeren Kapazitäten und Unterstützung von Drittstaaten verfügt, den Konflikt zu ihren Gunsten entscheiden kann.
So waren die Rüstungsausgaben der Entente-Mächte vor 1914 deutlich höher als die der unterlegenen Mittelmächte.
Abbildung 1: Rüstungsausgaben der großen Militärmächte vor dem Ersten Weltkrieg, Datenquelle: (link J. M. Hobson, The Military-Extraction Gap and the Wary Titan: The Fiscal-Sociology of British Defence Policy 1870-1913 in The Journal of European Economic History, 3 – 1993)
Die Überlegenheit der Entente in der Bewaffnung wurde vor allem bei der Marine deutlich. Während die Bündnispartner, insbesondere aufgrund Großbritanniens, über 43 große Kampfschiffe sowie insgesamt eine Tonnage von 3,3 Millionen an Seestreitkräften verfügten, kamen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in der Summe nur auf 20 große Kampfschiffe sowie eine Tonnage von 1,3 Millionen. Dass das Deutsche Reich überhaupt an der Westfront gegen die Streitkräfte Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens und am Ende auch der USA längere Zeit bestehen konnte, lag unter anderem an einer gezielten Produktion an Waffen und Munition, die für den Grabenkrieg benötigt wurden.
Abbildung 2: Rüstungsproduktion Großbritannien und Deutschland, Datenquelle: (link – Niall Ferguson, The Pity of War, 1999)
Hinsichtlich der Rüstungsausgaben ist Russland der NATO sogar noch deutlicher unterlegen als die Mittelmächte gegenüber der Entente im Ersten Weltkrieg. Selbst wenn China und Russland ein offizielles Militärbündnis eingehen würden, läge die Summe ihrer Rüstungsausgaben um das Dreifache unter derjenigen der NATO-Länder.
Abbildung 3: Rüstungsausgaben der NATO, Russlands und Russlands inklusive China, Datenquelle: (link – Stockholm International Peace Research Institute)
Die militärische Überlegenheit der NATO zeigt sich vor allem bei den Luft- und Seestreitkräften. Dass Russland der durch Waffenlieferungen der Nato aufgerüsteten ukrainischen Armee an der Front überhaupt widerstehen kann, liegt unter anderem daran, dass das russische Heer hinsichtlich der Bewaffnung der Landstreitkräfte der NATO zumindest ebenbürtig und zum Teil sogar überlegen ist.
Abbildung 4: Vergleich der Militärstärke der NATO und Russlands 2023 ohne gepanzerte Fahrzeuge, Datenquelle: (link – Statista)
Hinzu kommt, dass die russische Armee derzeit offenbar über deutlich mehr Artilleriegeschosse verfügt, als die NATO an die Ukraine liefern kann. Es ist jedoch anhand der Diskussionen der NATO-Länder untereinander, die an die Öffentlichkeit durchsickern, davon auszugehen, dass es kurzfristig zu einer deutlichen Steigerung der Produktion von Artilleriemunition in den westlichen Ländern kommen wird.
Truppenstärke, Mobilmachung und Kriegswirtschaft
Als die Länder der Entente und der Mittelmächte sich Mitte 1914 gegenseitig den Krieg erklärten, umfasste die Truppenstärke ihrer Armeen bis auf Russland deutlich weniger als eine Million Soldaten. Nach der Mobilmachung lag die Anzahl der Soldaten je nach Land jedoch drei bis sechs Mal höher. Immer wieder neue Mobilmachungen führten dazu, dass am Ende je nach Land zehn- bis 40-mal mehr Soldaten in den Krieg involviert waren, als zu dessen Beginn aufgestellt waren.
Abbildung 5: Truppenstärke ausgewählter Konfliktparteien im Ersten Weltkrieg, Datenquelle: (link – Wikipedia)
Die Ausrichtung der Wirtschaft auf die Produktion von Rüstungsgütern sowie der Einzug junger Männer in die Armee, die folglich in der Produktion von Nahrungsmitteln und Konsumgütern fehlten, führten zu einer Kriegswirtschaft. Diese kann man besonders deutlich an dem Anteil der Militärausgaben am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt erkennen.
Abbildung 6: Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt Erster Weltkrieg, Datenquelle: (link – Our World in Data)
Die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft birgt erhebliche Risiken für die Zivilbevölkerung und kann zu politischen Umstürzen führen. So kam es im Deutschen Reich unter anderem auch aufgrund mangelnder Arbeitskräfte und fehlenden Kunstdüngers, der für die Sprengstoffproduktion gebraucht wurde, im Winter 1916/17 zu einer Hungersnot. Die Unterversorgung führte zu einer Streikwelle, die auch die Rüstungsindustrie traf. Die russischen Revolutionen im Februar und Oktober 1917, die letztendlich den Rückzug Russlands aus dem Krieg nach sich zogen, waren hauptsächlich auf die hohen Kriegsbelastungen, zunehmende Inflation und vor allem auf den Nahrungsmangel in der Bevölkerung zurückzuführen. Auch die Ursachen der Novemberrevolution von 1918/19 in Deutschland, die unter anderem das Ende der Monarchie zur Folge hatte, lagen in den extremen Belastungen durch den mehr als vier Jahre währenden Krieg.
Von einer derartigen Situation sind die direkt und indirekt in der Ukraine Krieg führenden Parteien derzeit noch größtenteils weit entfernt. Bisher ist es in den NATO-Staaten, die derzeit die Ukraine nur mit Waffen, Ausbildung von Soldaten, humanitärer Hilfe und Geld unterstützen, noch zu keiner Mobilmachung gekommen, und Russland hat seine Truppenstärke lediglich verdoppelt. Die Ukraine hat hingegen die Anzahl ihrer Soldaten mindestens mehr als verdreifacht.
Abbildung 7: Truppenstärke NATO, Russland und Ukraine, Datenquellen: (link – Statista), (link – Politico), (link – Business Insider)
Die Truppenstärke der russischen Armee ist trotz Mobilmachung immer noch nur halb so groß wie die der NATO in Friedenszeiten. Zwar hat Russland sein Potenzial desjenigen Bevölkerungsteils, der fähig für einen Dienst an der Waffe ist, noch lange nicht ausgeschöpft. Laut einer Projektion der CIA aus dem Jahre 2009 könnten in Russland insgesamt 33 Millionen Männer Militärdienst verrichten, in der Ukraine lediglich sieben Millionen. Doch die NATO-Länder können auf ein Potenzial von 178 Millionen kriegstauglichen Männern zurückgreifen. Nur ein etwaiges Bündnis aus Russland und China mit einem Potenzial von insgesamt knapp 350 Millionen wehrfähigen Männern könnte diese Truppenstärke übertrumpfen.
Auch der Vergleich des Anteils der Militärausgaben am jeweiligen BIP ausgewählter, direkt und indirekt am Krieg in der Ukraine beteiligter Länder zeigt, dass lediglich die Ukraine bisher auf eine Kriegswirtschaft umgestellt hat.
Abbildung 8: Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt aktuell, Datenquellen: (link – Weltbank), (link – Statista)
In einigen Medien wird hingegen vermutet, dass sich auch Russland bereits in einer Kriegswirtschaft befindet.
Deutliche Unterschiede zum Ersten Weltkrieg
Neben der Tatsache, dass zumindest Russland als eine der beiden direkt beteiligten Konfliktparteien in der Ukraine bisher offenbar noch nicht vollständig auf eine Kriegswirtschaft umgeschaltet hat, gibt es noch weitere Unterschiede zum Ersten Weltkrieg. So war Deutschland aufgrund einer Distanzblockade der britischen Marine vom Außenhandel über den Seeweg zwischen Ende 1914 bis nach 1918 abgeschnitten. Das führte zu Rohstoff- und Nahrungsmittelknappheiten im Deutschen Reich. Zwar haben die aktuellen Wirtschaftssanktionen der USA und der EU gegen Russland ein ähnliches Ziel, doch aufgrund der intensiven und gesteigerten Handelsbeziehungen Russlands mit China, Indien und vielen weiteren Ländern des globalen Südens und Ostens leiden derzeit eher die Länder der EU und insbesondere Deutschland unter den selbst auferlegten Handelsbeschränkungen.
Doch der größte Unterschied zum Ersten Weltkrieg liegt in dem nuklearen Abschreckungspotenzial, über das Russland verfügt. Wie in Abbildung 4 zu erkennen ist, sind die Arsenale an nuklearen Sprengköpfen der NATO und Russlands ebenbürtig. Die Angst vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine zu einer nuklearen Auseinandersetzung zwischen den größten Atommächten der Welt hält die NATO-Staaten bisher davon ab, sich mit eigenen Truppen direkt am Konflikt zu beteiligen und der Ukraine Waffen zu liefern, mit der sie beispielsweise die russische Hauptstadt direkt angreifen könnte. Allerdings ist seit dem Beginn des Krieges zu beobachten, wie zuvor erklärte Tabus wie das Liefern von Kampfpanzern, Kampfflugzeugen und Marschflugkörpern sukzessive gebrochen wurden.
Warum der Krieg in der Ukraine trotzdem eskalieren könnte
Die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zeigen, dass eine länger andauernde Kriegswirtschaft bereits nach drei bis vier Jahren zu politischen Umstürzen führen kann. Zudem endet eine Materialschlacht logischerweise, wenn einer Seite Waffen, Munition und Truppen ausgehen. Beides droht der Ukraine, wenn der Krieg länger andauert und die Unterstützung des Westens sich nicht an die gesteigerten Anstrengungen der russischen Kriegsführung anpasst oder gar zurückgefahren wird. Die Hoffnungen der Unterstützerstaaten der Ukraine, dass Russland aufgrund der Wirtschaftssanktionen eher der Atem ausgeht als ihrem Protegé, erfüllen sich derzeit angesichts des Wachstums der russischen Wirtschaft nicht.
Aufgrund der bereits geleisteten immensen finanziellen, humanitären und militärischen Hilfe im Wert von knapp 160 Milliarden Dollar, die in etwas mehr als einem Jahr hauptsächlich von den USA und den europäischen Staaten an die Ukraine geflossen sind, erscheint es derzeit jedoch unwahrscheinlich, dass die Staatsführungen dieser Länder ihre Unterstützungen zugunsten eines Friedens zurückfahren, der den derzeitigen Status quo der von Russland besetzen Gebiete anerkennt.
Abbildung 9: Zwischen Februar 2022 bis Ende Mai 2023 geleistete Unterstützung an die Ukraine, Datenquelle: (link – Statista)
Im Laufe des Ersten Weltkriegs hatten die Ententemächte 26,5 Milliarden US-Dollar Kriegsschulden bei der US-Regierung aufgetürmt. Dies entspricht einem heutigen Wert von circa 535 Milliarden Dollar. Man kann den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg im April 1917 unter anderem also auch als Maßnahme deuten, um die Kreditnehmer in die Lage zu bringen, ihre Schulden zurückzahlen zu können. Sollte die Ukraine den Krieg gegen Russland verlieren, droht den westlichen Kreditgebern ein Zahlungsausfall, der umso höher wird, je länger der Krieg andauert.
Auf der anderen Seite ist es sehr unwahrscheinlich, dass die russische Führung die bereits in die russische Föderation integrierten Gebiete im Osten und Süden der Ukraine des Friedens halber wieder zurückgibt – ähnlich wie der damalige deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg im November 1914 zugunsten eines Friedens mit Frankreich nicht auf die eroberten Gebiete verzichten wollte. Da sowohl die NATO-Staaten als auch Russland noch lange nicht ihr finanzielles, wirtschaftliches und militärisches Potenzial ausgespielt haben, ist damit zu rechnen, dass der Krieg in der Ukraine kein schnelles Ende finden wird.
Fazit
Noch gehen die großen Militärmächte der Welt hinsichtlich der militärischen Auseinandersetzung in der Ukraine nicht aufs Ganze. Doch sollte der Krieg der Logik eines Abnutzungskrieges, wie der Erste Weltkrieg einen solchen darstellte, folgen, dann ist nicht mit einem baldigen Waffenstillstand oder gar einem Kriegsende zu rechnen. Je länger der militärische Konflikt andauert, je mehr Kriegsschulden die Ukraine im Westen auftürmt und je näher sich die ukrainische Bevölkerung aufgrund der Kriegswirtschaft und der Verluste ihrer Soldaten der Belastungsgrenze nähert, desto mehr steigt die Gefahr einer direkten Beteiligung eines oder mehrerer NATO-Länder.
Sollte das geschehen, würde dies nicht automatisch den dritten Weltkrieg einläuten. Auch im Stellvertreterkrieg in Korea Anfang der 1950er-Jahre standen sich US-amerikanische und chinesische Truppen auf dem Schlachtfeld direkt gegenüber. Doch sollten russische Waffen beispielsweise gegen Nachschublinien in einem am Krieg beteiligten NATO-Land eingesetzt werden, könnte das den NATO-Bündnisfall auslösen und das gesamte Militärbündnis in den Krieg hineinziehen.
Rein rechnerisch könnte die NATO einen derartigen direkten Konflikt aufgrund ihrer Überlegenheit an konventionellen Waffen und Soldaten für sich entscheiden. Es würde trotzdem eine humanitäre Katastrophe in der Größenordnung der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert darstellen. Und die Gefahr, dass ein Entscheidungsträger in Moskau das größte Atomwaffenarsenal der Welt, das eine direkte Auseinandersetzung zwischen Nuklearmächten eigentlich verhindern sollte, einsetzt, falls der Krieg verloren erscheint, steigt ins Unermessliche.
Damit sich die Geschichte nicht wiederholt oder gar ein Nuklearkrieg ausgelöst wird, wären alle am Konflikt in der Ukraine beteiligte Parteien – Russland, die Ukraine und ihre Unterstützerstaaten – gut beraten, schleunigst einen Waffenstillstand und einen dauerhaften Frieden herbeizuführen, anstatt die Auseinandersetzung mit der Lieferung von Kampfflugzeugen und der Ausbildung von Piloten auf der einen und offensiven Vorstößen der russischen Armee wie derzeit im Norden der Front auf der anderen Seite noch zu intensivieren.
Titelbild: Frank Hurley, gemeinfrei: commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1446191