Vor genau zwei Jahren, am 15. August 2021, übernahmen die Taliban erneut die Macht in Afghanistan und riefen, wie bereits zwischen 1997 und 2001, ein Islamisches Emirat aus. Damit endete ein 20-jähriger „Krieg gegen den Terror(ismus)“, den der damalige US-Präsident George W. Bush nach „9/11“ gegen das Land am Hindukusch entfesselt hatte. Die „westliche Wertegemeinschaft“ stand vor einem Scherbenhaufen. „Schadensbegrenzung“ war angesagt, „Aufklärung“ das Gebot der Stunde. So jedenfalls wurde es allerorten verkündet. Wenn das mal nicht zu voreilig war. Ein Zwischenruf von Rainer Werning.
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„Debakel“, „Fiasko“, „Schmach“, „Schande“ etc. pp.
Dramatische Szenen spielten sich vor allem auf dem Kabuler Flughafen ab, wo Tausende verzweifelter Menschen – meist vergeblich – einer buchstäblichen Last-minute-Evakuierung harrten. Der Chor internationaler Medien, der nahezu durchgängig vollkehlig in das Hohelied des „war on terror“ eingefallen war, sprach aufgrund des überstürzten Abzugs US-amerikanischer, deutscher und anderer NATO-Truppen nunmehr ebenso plötzlich vom „Debakel“, „Fiasko“, von „Schande“ und/oder „Schmach“ am Hindukusch. Nach deren Bekunden und den Vorgaben politischer Führungspersönlichkeiten – einschließlich bundesdeutscher Verteidigungsminister – sollten dort schließlich auch und gerade „unsere Freiheit“, „unsere Ordnung“, „unsere Demokratie“ verteidigt werden – durch den „Einsatz“ der Bundeswehr. Von „Krieg“ mochte jahrelang niemand reden, wenngleich es von Anfang an ein ebensolcher war.
Bereits im April 2014 hatte der Publizist und Buchautor Peter Scholl-Latour im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages ohne Umschweife erklärt:
„Der Krieg in Afghanistan ist verloren – das sollten wir uns eingestehen und wir sollten uns überlegen, wie wir da rauskommen. Die Vorstellung, man könne nach einem Abzug der Schutztruppe mit einem kleinen Restkontingent die afghanische Armee ausbilden, ist völlig illusorisch. Zumal Letztere aus gesinnungslosen Tagelöhnern besteht.“
Ja, dann ging es erklärtermaßen auch um „nation building“, den „Schutz von Mädchen und Frauen“ sowie den „Aufbau und die Stärkung afghanischer Sicherheitskräfte“. Beschworen, gefordert und versprochen wurde eine umgehende und schonungslose Aufklärung. Die allerdings erfolgt – sofern überhaupt – nur scheibchenweise. Derweil wähnt sich der NATO-Kriegstross im „guten“ Konflikt an der Seite der Ukraine gegen die russische Aggression, um sich gleichzeitig für den nächsten „großen Showdown“ im Südchinesischen Meer zu wappnen. Extrem schlechte Karten für Afghanistan und dessen Zivilbevölkerung, über deren Leiden, bittere Armut und Hunger, Verzweiflung und Traumata sich mittlerweile ein bleierner Schatten gesenkt hat.
Krieg mit vagen Zielen und ohne klare Exitstrategie
In seinem bekanntesten Werk Die Kunst des Krieges schrieb der General, Militärstratege und Philosoph Sunzi (auch Sun Tzu) bereits vor 2.500 Jahren diese denkwürdigen Sätze:
„Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.“
Hätte der gute Mann das Geschehen am Hindukusch heute deuten müssen, wäre ihm die erste Option nie und nimmer in den Sinn gekommen. Bereits am 18. September 2001 votierte das US-Repräsentantenhaus mit 420:1 Stimmen und der Senat mit 98:0 Stimmen für die sogenannte Authorization for Use of Military Force (AUMF), welche die Vereinigten Staaten zum Krieg nicht nur in Afghanistan, sondern in unbefristetem Engagement gegen „diejenigen, die für die jüngsten Angriffe gegen die Vereinigten Staaten verantwortlich sind“, ermächtigten. Einzig die Abgeordnete Barbara Lee aus Kalifornien hatte gegen dieses Vorhaben gestimmt, das mit der Unterschrift von Präsident George W. Bush bereits sieben Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 Gesetzeskraft erlangte. Bush erklärte den Mitgliedern des Kongresses in einer gemeinsamen Sitzung am 20. September 2001, dass der Krieg global, offen und verdeckt geführt werde und sehr lange dauern könne:
„Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit al-Qaida, aber er endet nicht dort. Er wird nicht enden, bis jede Terrorgruppe von globaler Reichweite gefunden, gestoppt und besiegt ist. (…) Die Amerikaner sollten nicht nur eine Schlacht erwarten, sondern eine langwierige Kampagne, wie wir sie noch nie erlebt haben.“
Was dann mit Blick auf Afghanistan folgte, wurde in den Medien häufig als „der längste Krieg der Vereinigten Staaten“ beschrieben. Das aber ist er nicht, wie Neta C. Crawford einwendet: Die USA haben den Koreakrieg seit Ende Juli 1953 nicht offiziell beendet. Und auch die US-Operationen in Vietnam, die Mitte der 1950er-Jahre nach der Niederlage der Kolonialmacht Frankreich begannen und den erklärten Krieg von 1965 bis 1975 einschlossen, stehen Afghanistan in Sachen Langlebigkeit in nichts nach.
In Washington und anderen westlichen Hauptstädten kümmerte man sich im Eifer des „war on terror“ nicht um die Auswertung jener (schmerzlichen) Erfahrungen, die das britische Empire sowie die sowjetischen Invasionstruppen in der Dekade von 1979 bis 1989 am Hindukusch machen mussten. Die wesentliche Grundannahme, Afghanistan sei ein einheitliches, gar zentralistisch gelenktes Staatswesen, erwies sich als Chimäre. Lokale und regionale Besonderheiten im Kontext von Clan- und Stammesstrukturen sowie die gemäß Opportunitätserwägungen entfalteten Dynamiken, stets aufs Neue klientelistische Netzwerke zu knüpfen und notfalls Loyalitäten zu wechseln, stellten Herausforderungen dar, die im Kalkül ausländischer Sendboten einer „mission civilisatrice“ sträflich unberücksichtigt blieben. Stattdessen waren und blieben die US-Truppen, ausgestattet mit sogenannten „field manuals“ (Feldhandbüchern) der eigenen Armee über „counterinsurgency“ (Aufstandsbekämpfung), tonangebend. Ein Schicksal, in das sich alle anderen militärischen Kontingente der verbündeten oder willigen Länder – der Publizist Ignacio Ramonet, langjähriger Direktor der Le Monde diplomatique, sprach in diesem Kontext unverblümt von „Vasallen“ – einzufügen hatten. Das betraf selbstredend und bis zum bitteren Ende eben auch die Bundeswehr.
Nicht nur erwies sich das Ansinnen, „dauerhafte demokratische Strukturen“ zu schaffen und einen schlagkräftigen Sicherheitsapparat (Polizei und Armee) mit nationaler Orientierung auf die Beine zu stellen, als zu ehrgeizig. Man musste zunehmend in einem immer prekärer und gefährlicher werdenden Umfeld agieren, was zum großen Teil aus dem während der Präsidentschaft von Barack Obama intensivierten Drohnenkrieg resultierte. Zig Hochzeitsfeiern oder ähnliche festliche Anlässe, die auf diese Weise zu Horrorszenen führten und Leichenfelder hinterließen, halfen tatkräftig mit, just erst jene „Terroristen“ zu kreieren, zu deren Bekämpfung man ja eigentlich ins Land einmarschiert war. Solche Akte blieben in der Regel zudem ungesühnt und galten als „beklagenswerte Kollateralschäden“. Die Täter unterlagen dabei keiner afghanischen Zivilgerichtsbarkeit. Sie wurden – sofern überhaupt – in den jeweiligen Ländern der „Schutztruppen“ belangt – oder auch sogar befördert wie im Falle von Bundeswehr-Oberst Georg Klein, der am 4. September 2009 zwei US-amerikanische Kampfflugzeuge angefordert hatte, um in Kunduz eine Menschenmenge sowie zwei Tanklastzüge zu bombardieren! Herr Klein ist heute ein Generalmajor (Zwei-Sterne-General) des Heeres der Bundeswehr und seit September 2022 stellvertretender Kommandeur des Rapid Reaction Corps France.
Last, but not least trugen anhaltende politische Rivalitäten in den Kabuler Zitadellen der Macht, in die vorrangig zwei Präsidenten, Hamid Karzai und Aschraf Ghani sowie der frühere Außenminister Abdullah Abdullah verstrickt waren, dazu bei, die Legitimität der staatlichen Führung zu unterminieren. Ganz zu schweigen von überbordender Korruption und anhaltend lukrativem Drogenschmuggel, der sogar maßgeblich von Karzais Bruder, Ahmad Wali Karzai, bis zu dessen Ermordung durch die Taliban am 12. Juli 2011 dominiert war. Diese vom „Westen“ hofierten Führungspersönlichkeiten repräsentierten letztlich einen Rentierstaat, der von externer Finanzierung lebte. Über ein solches Gebilde schrieb der Ethnologe Bernt Glatzer (1942-2009), der zu Beginn der 1970er-Jahre umfangreiche Feldforschungen in Afghanistan durchführte und Mitgründer des Afghanistan Analysts Network (AAN) war, bereits eineinhalb Jahrzehnte vor der Rückkehr der Taliban:
„Er (der Rentierstaat – RW) braucht zur Erwirtschaftung der von ihm benötigten Ressourcen seine eigene Bevölkerung nicht. Die Erfahrung zeigt, dass Rentierstaaten nur selten das Potenzial besitzen, auf eigene Füße zu kommen. Diese Entwicklung ist umso gefährlicher, da davon auszugehen ist, dass sich die internationale Gemeinschaft früher oder später aus Afghanistan zurückziehen wird. Was geschieht dann? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Kontrolle. Gemäß dem allgemeinen Grundsatz ‚wer zahlt, kontrolliert‘ wird das Parlament zu hübschem Dekor. Die Kontrolle obliegt jedoch den Gebern. Dies hat wiederum negative Auswirkungen auf den Demokratisierungsprozess.“
Etwa ein Viertel des afghanischen Staatshaushaltes floss in den „Sicherheitssektor“, während mindestens 30 Prozent der internationalen Finanzhilfen durch Korruption verloren gingen. Das Costs-of-War-Projekt der Brown University errechnete, dass sich der Wert der Aktien der fünf größten US-Rüstungsfirmen seit Beginn der „Kriege gegen den Terror“ verzehnfachte. Seit 2001 erhielten sie Pentagon-Aufträge im Wert von 2,2 Billionen US-Dollar. Ein neuer Bericht des Projekts legt offen, dass Sicherheitsdienstleister vom US-Verteidigungsministerium seit 2001 insgesamt 108 Mrd. US-Dollar für Aufträge in Afghanistan kassierten. Davon gingen über ein Drittel dieser Summe – gemäß der Devise: „Die Kuh säuft ihre eigene Milch“ – an solche Firmen, deren Identität geheim gehalten wird. Kein Wunder, dass unter all solchen Vorzeichen die vom „Westen“ trainierten Polizisten und Militärs für ihre Patrone keine Kastanien aus dem Feuer holen wollten und einen großen Showdown mit Taliban-Milizen tunlichst mieden.
Es war der einstige „Superfalke“ und US-Verteidigungsminister während des Vietnamkrieges, Robert S. McNamara, der in hohem Alter mit Blick auf ebendiesen Krieg zu dem bitteren Fazit gelangt war:
„Wir haben uns geirrt, schrecklich geirrt!“
Einer dieser Irrtümer sei darauf zurückzuführen gewesen, so McNamara, dass man bei wichtigen Fragen und Entscheidungen nicht die Kompetenz und Expertise veritabler Landeskenner und Experten eingeholt und berücksichtigt habe.
Aufarbeitung im Schneckentempo…
Zumindest dieser Kritikpunkt taucht in allen bisherigen US-amerikanischen und bundesdeutschen Papieren auf, die sich erklärtermaßen mit der „Aufarbeitung“ des Krieges in Afghanistan befassen. Die vom State Department nach mehrmaliger Verzögerung publizierte After Action Review zu Afghanistan enthält u.a. die Empfehlung, künftig „besser auf Situationen vorbereitet zu sein, die komplexe Krisen in instabilen Einsatzgebieten mit der Möglichkeit einer groß angelegten Invasion beinhalten“. Es bestehe …
„… die Notwendigkeit, besser für Worst-Case-Szenarien zu planen, die Kernfähigkeiten des Ministeriums im Bereich des Krisenmanagements wieder aufzubauen und zu stärken und sicherzustellen, dass hochrangige Beamte ein möglichst breites Spektrum an Meinungen anhören, einschließlich solcher, die operative Annahmen oder die Weisheit wichtiger politischer Entscheidungen in Frage stellen.“
Zu den Fehlern habe gehört, nicht frühzeitig mit gesprächsbereiten Taliban verhandelt, afghanische Führungskräfte ungenügend einbezogen und das Nachbarland Pakistan nicht dazu gebracht zu haben, sich den Taliban als Rückzugsort zu verweigern. Überhaupt: Was die Rolle des 1948 gegründeten zentralen Geheimdienstes der Islamischen Republik Pakistan, der Inter-Services Intelligence (ISI), betrifft, der als allseits gefürchteter „deep state“ oder „Staat im Staate“ operiert, so bildet dieses Thema noch eine Herausforderung in Recherche und Forschung.
John F. Sopko, Sonder-Generalinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (kurz SIGAR), war da bereits vor Jahren viel weitergegangen, als er und sein Team nach Auswertung von Interviews mit über 400 Insidern zu dem Fazit gelangten, dass der Krieg am Hindukusch eine Katastrophe gewesen sei.
Der Bundestag hat im Sommer 2022 eine Enquete-Kommission eingesetzt, die Lehren aus dem deutschen Engagement in Afghanistan für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik ziehen soll. Das Gremium aus zwölf Abgeordneten und zwölf Sachverständigen wird den gesamten Zeitraum des deutschen Engagements in Afghanistan von 2001 bis 2021 untersuchen und bis spätestens Ende 2024 Ergebnisse präsentieren. In ihrer Selbstdarstellung heißt es dazu:
„Auf dieser Basis sollen Ansätze zur Optimierung des vernetzten Ansatzes als Grundprinzip deutscher Außenpolitik entwickelt werden. Der vernetzte Ansatz in der Sicherheitspolitik beschreibt die Verzahnung militärischer, polizeilicher, diplomatischer, entwicklungspolitischer und humanitärer Instrumente bei Einsätzen im Rahmen internationaler Friedensmissionen. Ob dieser Ansatz der richtige war und wie das Zusammenspiel von militärischen und zivilen Maßnahmen im internationalen Krisenmanagement aussehen müsste, um erfolgreich zu sein – dazu soll die Enquete-Kommission dem Bundestag Vorschläge für die Zukunft machen. Spätestens bis zum Ende dieser Wahlperiode wird sie dem Parlament ihre Handlungsempfehlungen für das künftige Engagement Deutschlands in internationalen Krisenregionen vorlegen.“
…und mit eingerollter Zunge
Bis dato fanden mehrere Sitzungen dieser Enquete-Kommission statt. Thomas Ruttig, einer der intimsten Kenner Afghanistans und nebst Bernt Glatzer Mitgründer des Afghanistan Analysts Network (AAN), formulierte eine geharnischte Kritik an der letztmonatigen Sitzung der Kommission, auf der gleich mehrere Ex-Minister auftraten und befragt wurden. Ruttigs Einwände verdienen es, hier in längeren Passagen zitiert zu werden:
„Die konzeptionellen Fehlleistungen, Verdrehungen und Beschönigungen, die dabei zu Tage traten, lassen einen allerdings den Kopf schütteln.
Ja, die Führungsmacht USA trägt die Hauptverantwortung für das Scheitern in Afghanistan. Die fast unendliche Kette von Fehlern reicht vom Bündnis mit antidemokratischen Warlord-Drogenhändlern bis zu reihenweise gezielten Morden an tatsächlichen und vermeintlichen Gegnern – oft außerhalb von Kampfhandlungen, was Kriegsverbrechen darstellt. Aber Deutschland marschierte ‚aus übergeordnetem Bündnisinteresse‘ (Fischer) eben kritiklos und ohne Eigenkonzept mit.
Wenn auf die Frage nach den Gründen für das Scheitern die Antwort kommt, die Entscheidung der USA, 2003 den Irak anzugreifen und dafür ihre kampfstärksten Truppen aus Afghanistan abgezogen zu haben, zeigt dies, dass Fischer & Co. immer noch der Illusion anhängen, die Taleban hätten militärisch geschlagen werden können.
Ex-Verteidigungs-, Innen- und Abschiebeminister de Maizière erklärte, die Bundeswehr sei überfordert gewesen, denn ‚Streitkräfte können den Aufbau eines Staates nicht selbst durchführen‘. Er hat bis heute nicht verstanden, dass das gar nicht ihre Aufgabe war. De Maizière setzte auch den i-Punkt, indem er kurzerhand der ‚deutschen Gesellschaft‘ die Schuld für das Scheitern zuschob, weil sie die ‚harte Realität in Afghanistan nicht zur Kenntnis nehmen‘ wollte. Lachhaft: Es waren er und seine Kabinettskolleg*innen, die systematisch die Lage schönten.
Ex-Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul schloss sich der Vorgabe der aktuellen Bundesregierung an, bei der Kommission (und beim parallel arbeitenden Bundestags-Untersuchungsausschuss Afghanistan) solle herauskommen, dass nicht alles in Afghanistan schlecht oder vergebens gewesen sei. (Außenministerin Annalena Baerbock hatte am 28. Juni bei einer Konferenz der afghanischen Diaspora in Berlin gesagt, die Untersuchung der deutschen Beteiligung am Afghanistan-Einsatz im Untersuchungsausschuss und in der Enquete-Kommission könne ‚das gemeinsame Credo‘ bekräftigen, dass ‚dieser Einsatz nicht vergebens‘ gewesen sei.)
Wieczorek-Zeul behauptete allen Ernstes, der Einsatz habe über 20 Jahre ‚freiere Lebenschancen für junge Menschen und für Frauen‘ und damit ‚Keimzellen der Hoffnung‘ geschaffen. Leider ist das Gegenteil der Fall: Menschen, die tagtäglich mit Afghan*innen zu tun haben, hören nur von Hoffnungslosigkeit. Von einem ‚Massengrab für Träume‘ sprach jüngst eine führende afghanische Menschenrechtlerin bei der UNO. Dass keine Alternative zu den Taleban in Sicht ist, liegt auch an deutschem Versagen. Berlin hätte sich ernsthafter bei der Demokratisierung engagieren sollen, anstatt beim ‚Krieg gegen den Terror‘ mitzuspielen. Aber deutsche Politiker*innen wissen es wieder einmal besser als die Betroffenen.“
Nicht minder harsch fällt Ruttigs Beurteilung des sogenannten Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan (BAP) für gefährdete Afghan*innen aus, das von der Ampelkoalition beschlossen wurde. Dabei geht es eigentlich um die längst überfällige und dringende Nothilfe für ehemalige afghanische Ortskräfte, die bis vor zwei Jahren als Dolmetscher, Übersetzer u.ä. tätig waren. Ruttig spricht in diesem Zusammenhang unumwunden von einer „Mogelpackung“, weil nach Informationen der ARD-Tagesschau noch immer 12.600 dieser einstigen Ortskräfte in Afghanistan ausharrten, obgleich sie über eine deutsche Aufnahmezusage verfügen. Weitere 1.480 Personen befänden sich bereits im Iran und in Pakistan, wohin sie vom Auswärtigen Amt zwecks Visaerteilung bestellt worden waren, dann aber vom „vorübergehenden“ Stopp des BAP im März überrascht wurden.
Querelen um Geldpoker oder humanitäre Soforthilfen
Derweil warnt das in New York ansässige International Rescue Committee (IRC) in seiner jüngsten Erklärung, dass die Kürzungen der humanitären Hilfe für Afghanistan dazu beigetragen haben, dass die Zahl der Bedürftigen neben dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, dem Klimawandel und dem eingeschränkten Zugang zur Grundversorgung um 60 Prozent gestiegen ist.
„Seit dem 15. August 2021 leidet Afghanistan weiterhin unter einem rapiden wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Menschen, die früher Arbeit hatten und sich selbst versorgen konnten, sind jetzt auf humanitäre Hilfe angewiesen, und viele Familien können sich nicht mehr selbst ernähren”, wird Salma Ben Aissa, Direktorin des IRC Afghanistan, in dieser Erklärung zitiert:
„Zwei Jahre später ist die Wirtschaft immer noch von den internationalen Systemen abgeschnitten, und 28,8 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe, während fast die gesamte Bevölkerung in Armut lebt. Fast 80 Prozent der Bedürftigen sind Frauen und Mädchen.“
Das IRC, bis 1942 als International Rescue and Relief Committee (IRRC) firmierend, ward 1933 auf Vorschlag von Albert Einstein gegründet, um Flüchtlingen vor dem Naziregime zu helfen. Heute ist das IRC in Krisengebieten weltweit aktiv und arbeitet in über 40 Staaten.
Die USA haben nach der Rückkehr der Taliban vor zwei Jahren insgesamt 7,1 Milliarden US-Dollar der afghanischen Zentralbank, der Da Afghanistan Bank (DAB), einbehalten, von denen der US Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) nur 2,35 Milliarden Dollar für die afghanische Bevölkerung zur Verfügung gestellt sehen möchte. Laut SIGAR ist eine komplette Auszahlung dieser Summe nur denkbar, wenn „keinerlei Einmischung der Taliban in die humanitäre Hilfe erfolgt“. Laut SIGAR habe eine Bewertung der DAB durch Dritte ergeben, dass es ihr an Unabhängigkeit vom Taliban-Regime mangele und sie möglicherweise in Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung verstrickt sei.
Was ist, was bleibt? Einstweilen das Diktum der Schriftstellerin Anaïs Nin:
„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen sie so, wie wir sind.“
Eben. Und Ansporn zugleich, sich da zu ändern und im Sinne ungeteilter Humanität zu agieren.
Die Anmerkungen, Quellen & weiterführende Literatur zum vorliegenden Beitrag finden Sie hier als PDF.
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