„Wehre den Anfängen! Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.“
So lautet das vielzitierte vollständige Zitat des römischen Dichters Ovid. Sind wir in Deutschland nicht über die Anfänge längst hinaus? Hat das Suchen nach einer Medizin überhaupt schon begonnen? Während der norwegische Ministerpräsident als Antwort auf die Terroranschläge
„mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität“ fordert, trumpfen bei uns die Sicherheitsfanatiker und die abwiegelnden Brandstifter auf. Das Feindbild des „Islamismus“ wird verstärkt und die rechte Gewalt verharmlost – dabei ist die Gefahr des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus viel größer. Von Wolfgang Lieb
Die Sicherheitsfanatiker
Wie beim Pawlowschen Hund läuft bei deutschen „Sicherheitspolitikern“ der Speichel zusammen, wenn irgendwo auf der Welt ein schrecklicher Terroranschlag geschehen ist. Reflexartig wird die Verschärfung oder Einführung von Überwachungsgesetzen gefordert.
So nahm der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Hans-Peter Uhl das norwegische Gewaltverbrechen (wieder einmal) zum Anlass die Wiedereinführung der vom Bundesverfassungsgericht im März vorigen Jahres kassierten Vorratsdatenspeicherung zu fordern. Wie nicht anders zu erwarten, schloss sich Bayerns Justizministerin Beate Merk dieser Forderung sofort an: Es müsse “über mehrere Monate hinweg” nachvollziehbar sein, “wer mit wem telefoniert, wer wem eine Email oder SMS geschickt hat“. Ob der norwegische Attentäter über sein schreckliches Vorhaben mit jemand telefoniert oder elektronisch kommuniziert hat, spielt keine Rolle. Der Chef der Polizeigewerkschaft GdP ging gleich noch einen Schritt weiter und forderte „derart auffällig gewordene Personen“ in einer Datei zu registrieren. Wodurch ist der norwegische Attentäter auffällig geworden?
Es ist der typische Reiz-Reaktionsmechanismus autoritären Denkens, das Verbrechens-„Prävention“ mit Überwachung oder vorbeugender Repression gleichsetzt. Alle Bürgerinnen und Bürger sollen sicherheitshalber schon mal unter Generalverdacht gestellt werden, bevor man auch nur einen Gedanken darauf verschwendet, worauf sich ein Verdacht begründen könnte, der Menschen zu derart scheußlichen Verbrechen motiviert und schließlich auch veranlasst. Man wird Wahnsinnsverbrechen gewiss nie verhindern können, aber die viel naheliegendere Möglichkeit als die Totalüberwachung, um solche Schreckenstaten zu verhüten, ist, Lehren daraus zu ziehen. Man braucht einen klaren Blick für die Gefahren, die drohen könnten, um sie zu verhüten. Doch dieser klare Blick fehlt leider nicht nur bei den Sicherheitsfanatikern.
Die abwiegelnden Brandstifter
Ja, Herr Broder, es wäre nach dem Terroranschlag in Norwegen anständig und notwendig gewesen innezuhalten und nachzudenken. Nachdenken nicht etwa darüber, woher Sie die Ersatzteile für Ihren „Morris Traveller aus dem Jahre 1971“ in England bekommen, was sie dem Tagesspiegel als Ihre einzige Sorge nannten, sondern ein Nachdenken über das Warum, über die Umstände, über die Motivation, die Menschen ohne jede Gewissenbisse und Schuldgefühle zu einer so unfassbaren Tat treiben können. Nachdenken darüber, wie sich ein solches Weltbild aufbauen konnte, in dem sich der Hass auf den Islam, auf „Mulitkulti“, auf Einwanderer, auf die angebliche „Political Correctness“, auf alles Kritische – von den 68ern bis hin zur „Frankfurter Schule“ – so tief eingefressen hat, dass Gewalt „als der letzte Ausweg“ und der kaltblütige Massenmord hilf- und wehrloser junger Menschen als „grausam, aber gerecht“ (so der Massenmörder Anders Breivik) empfunden werden kann.
Ja, Herr Broder, man muss aufklären und nach den „Ursachen“ fragen. Allerdings nicht so dummdreist, wie Sie das unkommentiert auf der Ihnen bereitwillig zu Ihrer Verteidigung als Plattform sich andienenden „Welt“ tun. Ihr Beitrag in diesem weit rechts stehenden Blatt zeigt nur auf welchem geradezu unterirdischen Niveau Sie argumentieren, wenn sie eine „Ursachenforschung“ für dieses Verbrechen mit folgenden Beispielen lächerlich zu machen versuchen:
„Und wenn sie sich dennoch verlaufen und abstürzen, tritt die Ursachenforschung in Aktion. Ja, hätte man Hitler damals an der Kunstakademie angenommen, wäre er nicht in die Politik gegangen, wäre der Zweite Weltkrieg ausgefallen, würde Wroclaw noch immer Breslau heißen.
Und hätte der blonde und blauäugige Norweger nicht Broder und Sarrazin gelesen, sondern Patrick Bahners und Roger Willemsen, wäre er nicht zum Massenmörder geworden.“
Niemand will Ihnen die „Verantwortung für einen Massenmord“ in die Schuhe schieben, aber kaum bestreitbar ist, dass der „blonde, blauäugige Norweger“ beim Feuilletonchef der FAZ, Patrick Bahners oder bei Roger Willemsen – wenn er sie denn überhaupt gelesen hätte – sicher keine Versatzstücke für sein krudes Weltbild gefunden hätte. Ganz im Gegensatz zu Ihren und Sarrazins angstfördernden Darstellungen der islamischen Gefahr und der bösartigen Abwertung von Menschen aus muslimischen Kulturen und Ethnien.
Aber selbst wenn Sie in dem sog. Manifest des Massenmörders häufiger zitiert werden, nehmen Sie sich mal wieder viel zu ernst. So wichtig sind ihre Pamphlete und ihre pseudointellektuellen Bocksprünge nun wirklich nicht. Sie sind nur ein zynischer und sich aufblasender Geschäftemacher, der als Provokateur mit seiner „Islamkritik“ offenbar eine Marktlücke in den Talkshows, bei den Buchverlegern und bei einigen gleichgesinnten Medien gefunden. Selbst die Tatsache, dass Sie von dem Massenmörder in seinem Wahn zitiert werden, werden Sie zu nutzen wissen, um sich nur noch besser verkaufen zu können.
Das wirklich Schlimme ist, dass Sie sich mit Ihren Ansichten in den Medien auch tatsächlich noch verkaufen können.
Das „Manifest“ des Täters findet sich tausendfach im Netz
Und damit kommen wir zum eigentlichen Thema zurück:
Die deutschen Sicherheitsbehörden sehen keine Verbindung der norwegischen Anschläge nach Deutschland, sagte der Sprecher des Bundesinnenministeriums.
Aber das, was der norwegische Massenmörder in seinem Bekennerschreiben zusammengekleistert hat, kann man tausendfach täglich auf Deutsch im „Weltnetz“ (wie die Neonazis sagen) oder in einschlägigen Schriften nachlesen. Allein im deutschsprachigen Raum gibt es etwa 1000 Seiten, über die islamfeindliche, rassenhetzerische, alles Fortschrittliche verteufelnde, chauvinistische bis hin zu altnazistischen Ideologieversatzstücke verbreitet werden. Unmittelbar nach dem Anschlag kann man da Sprüche lesen, wie etwa diesen:
Vielleicht wird einmal in den Geschichtsbüchern stehen, dass es am 22. Juli des Jahres 2011 war, als ein junger Wikinger namens Anders Behring Breivik in alter Berserkertradition den Anstoß zur entscheidenden Wende im Kampf um Europas Zukunft gab. Er hat in seinem Land getan, was er für nötig hielt, um ein unübersehbares Zeichen des Widerstandes zu setzen.
Es gibt eine weitverbreitete Neonazi-Musikszene, mit „Schulhof-CDs“, es gibt geradezu eine Neonazi-Industrie mit einem weitverzweigten Online-Versandhandel, es gibt „No-Go-Areas“ für Menschen mit anderer Hautfarbe und es gibt Neonazihochburgen nicht nur im Osten sondern auch im Aachener Land im äußersten Westen.
Es gibt eine massenhafte Eskalation von Fremdenangst über Hass zur Gewalt auch im Alltag bei uns in Deutschland. Die Opfer dieser Spirale werden vielleicht nicht von einem Täter und (noch) nicht mit einer Tat schwer verletzt oder getötet und gelangen deshalb nicht oder nur selten ins öffentliche Bewusstsein. Aber es sind auch zahlreiche Tote, die es zu betrauern und zu beklagen gilt.
Islamismus als Feindbild und Verharmlosung rechter Gewalt
Ohne Zweifel hätte der Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel auch von einem Islamisten mit einem anderen verquasten Weltbild begangen worden sein können. Und zig wehrlose Menschen einzeln zu erschießen ist im Hinblick auf die Toten auch nichts anderes als hunderte von Menschen mit einem Flugzeug umzubringen. Aber man vergleiche einmal, welches Feindbild durch die (Sicherheits-)Politiker, geschürt von den Medien und gestützt auf die untergründige „Islamkritik“ von Leuten wie Broder oder Sarrazin gegen den Islamismus aufgebaut wurde, mit der verharmlosenden Betroffenheitsrhetorik, wenn es zu einem Totschlag von rechten Schlägern kommt. (Ein Brandanschlag auf ein Wohnhaus von Sinti und Roma wie gestern in Leverkusen, bei dem sich die Bewohner glücklicherweise retten konnten, bleibt eine lokale Episode.) Kann man die Zahl der jeweils Getöteten aufrechnen, kann man relativieren dass die einzelnen Todesfälle zeitlich auseinander liegen? Ist es nicht noch schlimmer, dass wir es bei uns mit vielen Einzeltätern oder rechten Gangs zu tun haben, die brandstiften und totprügeln? In der EU gab es im vergangenen Jahr 249 Terroranschläge, davon hatten drei einen islamistischen Hintergrund. Sicherlich wurden die restlichen Anschläge nicht ausschließlich von Rechtsradikalen begangen, aber es gibt keinen sachlichen Grund die Hysterie vor allem und ständig gegen Moslems zu schüren. Sind Muslime nicht weltweit viel mehr vom Terrorismus betroffen als wir? Sind bei den zahlreichen Anschlägen in Irak, in Afghanistan oder Pakistan nicht gerade Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft getroffen?
Schon gar keinen Grund gibt es dafür, dass die Angst und Hass vor dem Islamismus geschürt wird und die Gefahr, die vor dem sich ausbreitenden rechten Sumpf ausgeht, dagegen verschwiegen oder verharmlost wird. Es gibt nach aller Wahrscheinlichkeit in unserem Land erheblich mehr hassbesessene und gewaltbereite Rechtsextremisten als sich im heiligen Krieg wähnende Islamisten. Wo sind denn die Broders und die Sarrazins die vor solchen Zeitbomben warnen. Die Rechtsextremisten können, ohne dass ein öffentlicher Aufschrei erfolgt, nahezu ungestört in ihren rechten Lebenswelten leben, in einer Grauzone des Verschweigens und Wegsehens, geschützt sogar noch durch eine weitverbreitete insgeheime Zustimmung zu ihren Aggressionen auf Menschen anderer Herkunft. Darüber können auch die Demonstrationen gegen Nazi-Aufmärsche nicht hinwegtäuschen.
In der Mitte angekommen
„In der Mitte angekommen“ heißt es in einer Studie der Friedrich-Eberst-Stiftung über rechtsextreme Einstellungen und Einflussfaktoren in Deutschland [PDF – 732 KB]. Und immer wieder gilt als „Einstiegsdroge“ die Ausländerfeindlichkeit. Auch zahlreiche andere sozialwissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass rechtsextremes „Gedankengut“ tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Die Anti-Islam-Bewegung reicht vom frustrierten Kleinbürger bis zum Neonazi.
Jeder Fünfte würde Sarrazin wählen. Kein Wunder, wenn man beobachten musste, wie die Medien ihn bedienten und wie selbst die SPD nicht mehr den Mut fand, sich von ihm zu trennen, weil sie offenbar um Wähler bangte.
Da gibt es aus parteipolitischen Gründen eine Riesendebatte über einen angeblichen Antisemitismus in der Partei DIE LINKE. Aber die zunehmende Fremdenfeindlichkeit nicht nur in Deutschland sondern – wie die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien zeigen – in ganz Europa, ja sogar in den USA wird klaglos hingenommen. Das gehört inzwischen sozusagen zur Tagesordnung.
Es gibt diese klammheimliche Sympathie mit solchen fremdenfeindlichen, ja sogar rassistischen Thesen, sogar bis in die höchsten Kreise unserer Gesellschaft hinein. Das ist ein wichtiger Grund für das Wegschauen der Öffentlichkeit. Deutschland ist wieder einmal in Gefahr auf dem rechten Auge zu erblinden. Auch die Jugendministerin Schröder hat nichts Wichtigeres zu tun, als „zivilgesellschaftliche“ Initiativen gegen den Linksextremismus zur fördern – getreu dem konservativen Motto: links gleich rechts und im Zweifel lieber stramm rechts.
In der Pose des Tabubrechers („das wird man doch wohl noch sagen dürfen“) werden zweifellos vorhandene Probleme der Integration im Lande gezielt ausgebreitet, aber eben nicht mit dem Ziel, bestehende Missstände zu überwinden, sondern gerade umgekehrt mit der Absicht, die zum allergrößten Teil dafür nicht verantwortlichen Ausländer zu Sündenböcken zu machen – ja noch mehr, sie zum Feindbild zu erklären.
Die Sozialdemokratie müsste nach dieser grausamen Attacke auf ein sozialdemokratisches Jugendlager eigentlich begriffen haben, dass ihre Werte und Vorstellungen mit im Visier dieserart von „Hasspredigern“ sind. Doch wird die SPD mit einem Parteimitglied Sarrazin ein glaubwürdiger Vorkämpfer für „Weltoffenheit und die Bereitschaft, mit unterschiedlichen Kulturen umzugehen“ (Olaf Scholz) sein können?
„Wehre den Anfängen“ wird der römische Dichter Ovid gerne zitiert. Das ganze Zitat lautet allerdings:
„Wehre den Anfängen! Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.“
Statt in den Anfängen, sind wir längst im fortgeschrittenen Stadium und das Suchen nach einer Medizin hat noch nicht einmal begonnen.
Ein wenig Hoffnung gibt, die Solidarität in der Trauer der Norweger. Und ein Beispiel gibt der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg: „Wir sind weiter erschüttert von dem, was uns getroffen hat. Aber wir geben nie unsere Werte auf. Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität. Aber nie Naivität.“
Statt der platten Kondolenzadressen, hätte man sich einen solchen Satz auch von den politischen Repräsentanten in Deutschland gewünscht.