Mittelschicht-Studie des ifo Instituts – Auftragsarbeit für die CSU

Mittelschicht-Studie des ifo Instituts – Auftragsarbeit für die CSU

Mittelschicht-Studie des ifo Instituts – Auftragsarbeit für die CSU

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

„Die Mittelschicht schrumpft weiter“ – dies sei das Ergebnis einer aktuellen Studie des ifo Instituts, so konnten wir es gestern in den meisten größeren Online-Publikationen lesen. Überraschend ist das Ergebnis freilich nicht. Was jedoch zumindest auf den ersten Blick überraschend erscheint, ist die Erklärung der ifo-Ökonomen. Die nennen nämlich die Steuer- und Abgabenlast als Hauptgrund für das Schrumpfen der Mittelschicht in Deutschland. Doch wer weiß, dass das ifo Institut einer der berüchtigtsten neoliberalen Stichwortgeber und die Parteistiftung der CSU der Auftraggeber dieser Studie ist, den wird auch das nicht sonderlich überraschen. Die vielzitierte Studie ist eine Auftragsarbeit, die die ökonomische Situation beschönigt und letztlich Munition für den Wahlkampf bereitstellen soll. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Obgleich 80 Prozent der Deutschen sich selbst in der Mittelschicht verorten, gehören nach den Berechnungen des ifo Instituts nur noch 63 Prozent der Haushalte dazu – zwei Prozent weniger als im Jahr 2007. Das ist die Kernaussage des Aufsatzes „Die Mittelschicht in Deutschland: Zugehörigkeit, Entwicklung und Steuerlast“, der über eine Pressemeldung des ifo Instituts gestern wörtlich von zahlreichen deutschen Medien weiterverbreitet wurde. Diese Erkenntnis ist jedoch alles andere als neu. Bereits 2010 hatte die damals noch richtig gute Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann in ihrem Buch „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht.“ dieses Phänomen sehr ausführlich beschrieben.

Was hat das ifo Institut eigentlich gemessen?

Wenn man vom Selbstbetrug oder dem Schrumpfen der Mittelschicht spricht, muss man zunächst einmal festlegen, wie man die Mittelschicht und damit als Abgrenzung auch die Unter- und die Oberschicht überhaupt definiert. Hier macht es sich das ifo Institut sehr einfach, indem es einzig und allein das Nettohaushaltseinkommen nach Transferleistungen als Maßstab nimmt und dies verwirrenderweise dann als „verfügbares Haushaltseinkommen“ bezeichnet. Wissenschaftlich ist diese Bezeichnung zwar korrekt, hat aber nichts mit dem umgangssprachlichen „verfügbaren Einkommen“ zu tun, bei dem fixe Kostenblöcke wie Miete/Hypothekenabtrag, Energiekosten usw. vorher abgezogen werden. Dies ist dann auch der wohl gewichtigste Kritikpunkt an der Methodik – das ifo Institut definiert die „Schichtzugehörigkeit“ einzig und allein nach dem Einkommen. Und dies noch nicht einmal nach der absoluten Höhe, sondern nach der Abweichung vom Durchschnitts- oder genauer Medianeinkommen. Wer zwischen 75 und 200 Prozent des Medianeinkommens bezieht, gehört lt. ifo Institut zur Mittelschicht.

Kritikpunkt: Einkommen ist nicht alles

Doch ist das wirklich so einfach? Schauen wir doch mal auf zwei Fallbeispiele, die erkennen lassen, wie problematisch diese Einteilung ist.

  1. Der Privatier

    Der Privatier hat über viele Jahre als sehr gut verdienender Selbstständiger gearbeitet und dabei nur das Nötigste in die Sozialversicherungssysteme eingezahlt. Heute ist er nicht mehr berufstätig, verfügt aber über ein hohes Vermögen, von dem er nun im Alter zehrt. Er lebt in einer abbezahlten Villa und hat mehrere Millionen Euro auf der Bank. Sein steuerrechtliches Einkommen besteht jedoch nur aus den entnommenen Zinseinnahmen und ist daher eher gering. Wenn er mit seiner ebenfalls nicht mehr berufstätigen Frau zusammenlebt, dürfte er bis zu 26.212 Euro reine Zinseinnahmen pro Jahr von seinen Konten nehmen, um lt. ifo-Statistik sogar noch der Unterschicht anzugehören – wie erwähnt, das Aufzehren des Kapitalstocks zählt nicht zum gemessenen Einkommen. Ist das realistisch? Gehört der Privatier tatsächlich der Unterschicht an?

  2. Der Jungakademiker

    Umgekehrt sieht es beim Jungakademiker aus. Der hat frisch nach dem Studium seinen ersten richtigen Job angetreten und freut sich über das satte Einstiegsgehalt, das inkl. Prämien bei 46.600 Euro im Jahr liegt. Laut ifo gehört er dadurch der Oberschicht an. Dass Miete und Rückzahlung des Studienkredits sein real verfügbares Einkommen merklich drücken und er kein Vermögen hat, spielen dabei offenbar keine Rolle. Gehört der Jungakademiker tatsächlich der Oberschicht an?

Das Einkommen ist ein wichtiger Faktor zur sozioökonomischen Einordnung von Haushalten; aber es beileibe nicht der einzige Faktor. Gerade das Haushaltseinkommen ist recht volatil. Ist beispielsweise das Eigenheim abbezahlt und sind die Kinder aus dem Haus, können es sich viele Haushalte leisten, dass ein Haushaltsmitglied nicht mehr voll oder gar nicht mehr arbeiten geht. Nimmt man das Einkommen als einzigen Maßstab, würden diese Haushalte dadurch womöglich aus ihrer sozioökonomischen Schicht absteigen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass dies Unsinn ist.

Letztlich errechnet die Methodik des ifo Instituts nur die Spreizung der Haushaltsnettoeinkommen. Haushalte, deren Einkommen nach Steuern stärker steigen als die Medianeinkommen, steigen auf; Haushalte, deren Einkommen nach Steuern geringer steigen als die Medianeinkommen, steigen ab. Wenn die Einkommen auf breiter Basis sinken, hätte dies nach dieser Methodik keine Auswirkung, da der Median ja ebenfalls sinken würde. Eine solche Statistik ist wenig aussagekräftig. Noch schlimmer wird es, wenn man die Kostenseite ignoriert.

Kritikpunkt: Die Kosten werden ignoriert

Machen wir doch mal ein zugegebenermaßen konstruiertes Gedankenspiel. Würden die Wohn- und Energiekosten jedes Jahr um 20 Prozent steigen und die Löhne und Einkommen würden gleich bleiben, hätte dies lt. der ifo-Methodik keine Auswirkungen auf die sozioökonomische Schichtzugehörigkeit der Bevölkerung. Das ist schon skurril, vor allem wenn man sich jüngsten Entwicklungen anschaut.

Die allermeisten Menschen definieren ihre Schichtzugehörigkeit über die Lebensqualität, die ihnen durch ihre ökonomische Situation ermöglicht wird. Für die Mittelschicht könnte das so aussehen: Muss ich im Supermarkt auf die Preise schauen? Kann ich Winter die Heizung aufdrehen? Kann ich mir den Urlaub, das Essen im Lieblingsrestaurant oder den Konzertbesuch leisten? Kann ich meine Kinder studieren lassen? Muss ich mir Sorgen vor Altersarmut machen? All diese Fragen haben natürlich etwas mit dem Einkommen, aber auch genauso viel mit den Kosten zu tun. Das mussten viele Menschen im letzten Jahr schmerzlich spüren, als sie sich viele eigentlich selbstverständliche Dinge aufgrund der steigenden Kosten nicht mehr leisten konnten; und dies, obwohl ihre Einkommen nicht etwa gesunken sind.

Kritikpunkt: Fixierung auf Steuern und Abgaben

Da stellt sich die Frage, was das ifo Institut mit seiner Studie eigentlich erreichen will. Die Antwort darauf erhält man, wenn man sich Analyse und Lösungsvorschläge näher anschaut. Die Bruttoeinkommen sind dabei offenbar „gottgegeben“. Es gehört schon was dazu, eine sozioökonomische Verteilungsstudie aufzulegen und dabei keine Kritik an der viel zu schlechten Lohnentwicklung zu äußern. Selbst wenn man die Methodik der ifo-Studie einmal nicht hinterfragt, so muss doch auffallen, warum die Einkommen am oberen Rand sich deutlich besser als der Median und die Einkommen am unteren Rand sich deutlich schlechter als der Median entwickeln. Doch die Bruttoeinkünfte interessieren das ifo nicht. Dafür werden Steuern und Abgaben monokausal für die immer größere Spreizung der Nettoeinkommen verantwortlich gemacht.

Das ist die alte neoliberale Leier. Nicht die Unternehmen, sondern der Staat trage die Schuld für das Schrumpfen der Mittelschicht. Zumindest bei den Einkommen der unteren Mittelschicht ist eine Mitverantwortung des Steuersystems noch nicht einmal von der Hand zu weisen. Hier würde ein höherer Eingangssteuersatz das Abrutschen einiger Haushalte aus der Mittel- in die Unterschicht sicher abmildern; mehr aber auch nicht. Selbst in dieser Einkommensklasse sind die zu niedrigen Bruttolöhne ein weitaus größeres Problem als Steuern und Abgaben. Vor allem die Abgaben sind auch deshalb für niedrige Einkommensklassen so hoch, weil sie für hohe Einkommensklassen so niedrig sind. Jeder Euro, um den man beispielsweise die Beitragsbemessungsgrenze der Sozialsysteme – also das Einkommen, ab dem die Sozialabgaben nicht mehr prozentual vom Einkommen abgezogen werden – nach oben verschieben würde, würde den Beitragssatz absenken, was vor allem Haushalten mit niedrigerem Einkommen zugutekäme.

Davon ist in der ifo-Studie jedoch nichts zu lesen. Das ist kein Wunder, tritt das ifo Institut doch als neoliberales Think Tank vor allem für Steuersenkungen ein. Und spätestens hier offenbart sich der Charakter der gesamten Studie. Die Steuersätze in der Breite zu senken, hätte keinen senkenden, sondern einen steigenden Einfluss auf die Spreizung der Nettoeinkünfte. Will man die Spreizung der Nettoeinkommen „nur“ mit Hilfe der Einkommensteuer abfedern, müsste man „lediglich“ die Progression steiler machen und Bruttoeinkünfte unterhalb des Medians deutlich geringer, Bruttoeinkünfte oberhalb des Medians jedoch auch deutlich höher besteuern. Gleiches gilt für die Abgaben. Die vom ifo vorgeschlagene Senkung der Steuern und Abgaben auf breiter Basis hätte vor allem am oberen Ende der Einkommensskala exakt den gegenteiligen Effekt und würde zu einer noch breiteren Spreizung der Nettoeinkommen führen. Aber was soll man auch anderes vom ifo erwarten? Und was soll man vom Auftraggeber der Studie, der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung, anderes erwarten?

Kritikpunkt: Alte Daten

Die Aussagekraft der ifo-Studie ist auch aufgrund des eingeschränkten Beobachtungszeitraums für die aktuelle Debatte nicht sonderlich hoch. Verwendet wurden die Daten aus dem Jahre 2019; verglichen wurden sie mit dem Jahr 2007. 2019 war jedoch vor den Coronamaßnahmen, vor dem Preisschock, den die Sanktionen gegen Russland vor allem im Energiebereich ausgelöst haben, vor der Zinswende der EZB und naturgemäß auch vor den immensen Kosten, die das Heizungsgesetz in den kommenden Jahren mit sich bringen wird. Während die Coronamaßnahmen vor allem in bestimmten Branchen einen negativen Einkommenseffekt hatten, sind die übrigen Faktoren jedoch vor allem kostenseitig. Es sind jedoch genau diese Faktoren, die aktuell die Mittelschicht besonders stark abschmelzen lassen.

Zählt man diese Faktoren hinzu, ist der Abstieg der Mittelschicht deutlich signifikanter, als es eine Analyse der Nettoeinkommensspreizung im Jahre 2019 anzeigen könnte. Doch diese Erkenntnisse wären ja politisch nicht opportun, steht doch auch die CSU voll hinter den Sanktionen und der Zinspolitik der EZB und war doch auch die CSU ein Treiber für die Coronamaßnahmen.

So gesehen ist die ifo-Studie vor allem eins: Eine Auftragsstudie, die zwar ein Abschmelzen der Mittelschicht – wenn auch in einem viel zu geringen Ausmaß – feststellt, dies jedoch absurderweise einzig und allein an den angeblich zu hohen Steuern und Abgaben festmacht. Dies und der Veröffentlichungstermin legen den Verdacht nahe, dass hier mit CSU-Stiftungsgeldern der Wahlkampf der CSU in Bayern befeuert werden soll. Seriöse Erkenntnisse liefert die Studie nicht.

Titelbild: Screencap Tagesschau.de