Sowohl im bayerischen Untersuchungsausschuss zum NSU als auch im hessischen zum Lübcke-Mord kassiert die Regierungsmehrheit den Schlussbericht ein und ersetzt ihn durch einen eigenen. Von Thomas Moser.
Ohne verbrieftes Minderheitenrecht gäbe es keine parlamentarischen Untersuchungsausschüsse (PUA). In Bayern und Hessen beispielsweise reichen dafür 20 Prozent der Landtagsabgeordneten, im Bundestag braucht man 25 Prozent. Damit ist das Recht der Minderheit aber meist erschöpft. Beschlüsse eines PUA werden mehrheitlich gefasst. Die Mehrheit kann also Beweisanträge oder bestimmte Zeugen ablehnen. Und sie kann sogar einen Abschlussbericht einkassieren, wegsperren und durch einen eigenen, gefälligeren Bericht ersetzen. So jetzt geschehen hintereinander im bayerischen Landtag, wo es einen Untersuchungsausschuss zum Thema NSU gab, sowie im hessischen Landtag im Untersuchungsausschuss zum Mordfall Lübcke. Gelten die parlamentarischen Regeln noch?
Innerhalb nur eines Jahres hat der bayerische NSU-Untersuchungsausschuss eine Reihe bemerkenswerter Spuren und Resultate hervorgebracht. Dass die aber nicht nahtlos zum herrschenden Narrativ von den drei Einzeltätern (Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe) passen, stattdessen zu möglichen Helfern oder Mittätern führen und ganz neue Perspektiven auf den Tatkomplex eröffnen könnten, war der (Frei-)Staatspartei CSU zu viel. Kurzerhand hat sie in das Ausschussprozedere eingegriffen und die Regie an sich gerissen. Sie erklärte den eigentlichen Bericht für ungültig, fertigte einen eigenen Bericht, den sie zum Hauptbericht machte und stellte damit die Ausschussarbeit auf den Kopf.
Der Untersuchungsausschuss in München wurde geleitet von Toni Schuberl (Grüne), dem qua Gesetz auch die Vorlage des Abschlussberichtes oblag. Der umfasst 800 Seiten. Mit der Begründung, er verstoße gegen den Geheimschutz sowie gegen den Datenschutz, wurde dieser Bericht komplett einkassiert, eingestuft und im Giftschrank der Geheimschutzstelle des Landtags verwahrt. Parallel erstellten die Regierungsfraktionen CSU und Freie Wähler einen eigenen, etwa 130 Seiten umfassenden Bericht. Also diejenigen, die im abgelaufenen Jahr kein allzu großes Interesse an einer Sachaufklärung an den Tag gelegt haben. Dass ihr Bericht nun als DER Abschlussbericht des Untersuchungsgremiums gilt, annulliert gewissermaßen die Arbeit eines Jahres und lässt am parlamentarischen Prozedere in Sachen U-Ausschüssen zweifeln.
Die Landtagsdebatte Mitte Juli veranschaulichte, dass das Vorgehen der Regierungsfraktionen CSU und Freie Wähler (FW), das von der AfD mitgetragen wurde, planmäßig geschah. Der CSU-Abgeordnete Holger Dremel, zugleich Ausschussvize, warf dem Grünen Ausschussvorsitzenden Schuberl, der der eigentliche Motor des Gremiums war, „leichtfertiges Verhalten“ vor. Es sei ihm nicht gelungen, den Abschlussbericht rechtzeitig vorzulegen. Der FW-Abgeordnete Wolfgang Hauber erklärte: „Hätten wir keinen Bericht vorgelegt, hätte es keinen gegeben.“ Das hatte Demonstrationscharakter. Die Frage, die sich dem Beobachter aufdrängt, ist: Haben die Regierungsfraktionen ihren Berichtsentwurf schon so frühzeitig vorbereitet, um das Manöver durchführen zu können? Erklärt das vielleicht sogar ihre Passivität in den Ausschusssitzungen? Denn wer eine Übernahme plant, braucht keine fundierten Fragen mehr.
Der majorisierte Bericht der Regierungsfraktionen hat eine eindeutige Tendenz pro Sicherheitsbehörden. Durch die Datenlöschungen im LKA und bei der Staatsanwaltschaft, die ebenfalls als „versehentlich“ bezeichnet werden, sei die Ausschussarbeit nicht beeinträchtigt worden, heißt es zum Beispiel. Die Verfasser, eigentlich Parlamentarier, wehren sich explizit dagegen, dass die „Ermittlungsmethoden und -ergebnisse der Behörden in Misskredit“ gebracht würden, womit sie die kritisch fragenden Ausschussmitglieder von Grünen und FDP meinen. CSU und Freie Wähler stellen den Ruf der Behörden über Sachaufklärung. Bei fünf unaufgeklärten Morden und einem nicht geklärten Bombenanschlag darf man an die Qualität der Ermittlungen schon mal Fragen richten. In der Landtagsdebatte verwahrte sich der CSU-Vertreter Dremel explizit gegen den Vorwurf der Vertuschung durch die bayerische Staatsregierung („Das muss ich entschieden zurückweisen.“), wie ihn Abgeordnete von Grünen und FDP erhoben haben.
Die AfD trug die Kritik der Regierungsfraktionen übrigens aktiv mit. Ihr Vertreter, von Beruf Polizeihauptkommissar, meinte, „verdiente Landes- und Bundesbeamte“ gegen eine „Herabwürdigung“ durch die Unterstellung von institutionellem Rassismus bei der Polizei verteidigen zu müssen. Und wie die CSU griff auch die AfD den Ausschussvorsitzenden persönlich an. Bei der Befragung des bayerischen Innenministers Joachim Hermann durch Schuberl sei der „notwendige Respekt“ und der „gebotene Anstand im Umgang mit Amtsträgern“ nicht gewahrt worden. Diese Partei, die noch weniger Aufklärungsinteresse hatte als die CSU, trägt nebenbei das offizielle NSU-Narrativ ebenfalls mit, verneint ebenfalls bayerische Tathelfer und sieht ebenfalls „keinen Bedarf an weitergehender Aufarbeitung“, „wesentliche Fragen“ seien „abschließend und zufriedenstellend geklärt“ worden. Wer der AfD genau zuhört, erkennt in ihr weniger eine Anti- oder Oppositionspartei, sondern eine Systempartei.
Ein nahezu identisches Schauspiel im Landtag von Hessen
Einen Tag nach der Debatte um den Schlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses von Bayern wurde im Landtag von Hessen ein nahezu identisches Schauspiel zur Aufführung gebracht: Es ging um den Untersuchungsausschuss zum Mord an dem CDU-Politiker und Amtsträger Walter Lübcke. In Hessen regiert eine Koalition aus CDU und Grünen.
Zunächst muss man wissen, dass das Bundesland Hessen überhaupt erst seit 2020 ein spezielles Untersuchungsausschuss-Gesetz hat. Die U-Ausschüsse davor, zum Beispiel auch einen zum Thema NSU, wurden mit den regulären parlamentarischen Regeln durchgeführt. Das ging auch.
Nun im UA-Gesetz ist neben dem Vorsitz explizit auch eine neue Stelle des sogenannten „Berichterstatters“ eingerichtet worden (§ 29 HUAG). Er ist für den schriftlichen Bericht des U-Ausschusses verantwortlich. Berichterstatter des Lübcke-Ausschusses war Gerald Kummer (SPD). Als am 19. Juli 2023 der Schlussbericht des U-Ausschusses debattiert wurde, war Kummer der erste Redner, der ans Landtagsmikrofon trat. Was er da sagte, erinnerte nicht nur an das, was sich tags zuvor in München abgespielt hat, sondern stellte im Prinzip die gesamte Veranstaltung infrage.
Den vorgelegten Ausschussbericht habe er nicht geschrieben, erklärte der offizielle Berichterstatter, er sei auch nicht hundertprozentig damit einverstanden. Er sei zum Berichterstatter für den Ausschuss bestimmt worden und habe als solcher auch einen Bericht entworfen, über 500 Seiten lang. Anschließend habe er auf Verbesserungsvorschläge gewartet, so Kummer: „Das war naiv.“ Stattdessen sei ihm von den Regierungsfraktionen CDU und Grüne ein „Gegenangebot“ für einen Schlussbericht gemacht worden. Erst aus der Zeitung habe er erfahren, dass sein Entwurf komplett abgelehnt wurde, weil er fehlerhaft sei. Niemand habe ihm je dargelegt, wo die Fehler seien. Kummers bitteres Fazit: Der Steuerzahler habe drei Jahre lang eine Stelle des UA-Berichterstatters bezahlt, die sich als überflüssig erwiesen habe.
Was vorgefallen war, wurde erst im Verlauf der Sitzung deutlich. Der CDU-Abgeordnete Holger Bellino griff die Kritik des nominellen Berichterstatters auf und bestätigte sie in gewisser Weise, indem er die Verantwortlichkeit einfach umdrehte. Er warf Kummer vor, eine konstruktive Zusammenarbeit sei beim UA-Bericht „leider nicht mehr erwünscht“ gewesen. Man habe gebeten, Teile des Entwurfes zu übermitteln, stattdessen sei im März 2023 [!] der Bericht gekommen, der so „von uns nicht mitgetragen“ werden konnte. Ein Austausch darüber sei von SPD und FDP nicht gewollt gewesen.
Der SPD-Abgeordnete Günter Rudolph wies das vehement zurück. Der Bericht des Berichterstatters sei qualitativ in Ordnung, er habe keine Fehler. 14 Tage nach der Vorlage ein „Gegenangebot“ von mehreren hundert Seiten zu unterbreiten, sei „nicht akzeptabel“. Die FDP erklärte, den Bericht des Berichterstatters komplett abzulehnen, wie es die Regierungsfraktionen taten, und durch einen eigenen Bericht zu ersetzen, widerspreche dem „Geist des Untersuchungsausschuss-Gesetzes“. Er äußerte den Verdacht, dass der Alternativbericht „von langer Hand vorbereitet“ war. Inhaltlich sei dieser Mehrheitsbericht im Sinne des Innenministeriums und der Landesregierung, kritische Stellen seien gestrichen worden.
Die inhaltliche Differenz hinter diesem Parlaments-Theater, gewissermaßen der Nerv der Sache, ist die Frage, wer für den Mord an Walter Lübcke in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 verantwortlich ist. War der Neonazi Stephan Ernst, der gestanden hat, auf das Opfer geschossen zu haben, ein Einzeltäter? Oder gab es einen Mittäter, nämlich Markus H.? Vom Einzeltäter Ernst gehen fast alle aus: Ermittler und Strafverfolger, Politik und Medien. Die Angehörigen von Walter Lücke, seine Frau und seine Kinder, allerdings nicht: Für sie war Markus H. nicht nur beim Mord dabei, sondern spielte die entscheidende Rolle. „Ohne Markus H. hätte es den Mord nicht gegeben“, sagte der Anwalt der Familie Lübcke vor Gericht.
Mit der Verneinung der Täterschaft von Markus H. hängt unmittelbar die Frage zusammen: Warum? Sind es die Spuren, die von dem nominellen Neonazi H. zum Verfassungsschutz führen? Im vorliegenden Mehrheitsbericht steht, weder Stephan Ernst noch Markus H. seien V-Leute des LfV gewesen. Man hätte gerne gewusst, wie das im unterdrückten Bericht des Berichterstatters dargestellt wird. Der SPD-Abgeordnete Rudolph sagte bei der Debatte zum Beispiel wörtlich: „Was ist mit Markus H.? Die These von Stephan Ernst als Einzeltäter glauben wir nicht.“
Im Landtag gehen fast alle Fraktionen ebenfalls vom Einzeltäter Ernst aus. CDU, Grüne, aber auch AfD erklären zum Teil wortgleich, die Polizei habe den Mord vorbildlich aufgeklärt, den Täter ermittelt und seiner Strafe zugeführt. Und: Die Tat sei durch die Sicherheitsbehörden nicht zu verhindern gewesen.
Das System der Gewaltenteilung wurde bei den beiden U-Ausschüssen in Hessen und Bayern erneut auf den Kopf gestellt: Eine Legislative, die von der Exekutive abhängig ist. Wer dennoch einen Sinn darin sehen möchte, könnte auch sagen: Gerade ein solcher Umgang der Regierungsparteien mit den Parlamentsparteien belegt, welche Brisanz Untersuchungsausschüsse allen Fesseln zum Trotz haben können.
Übrigens reicht das Minderheitenrecht manchmal nicht einmal für die Einsetzung eines U-Ausschusses. So geschehen Anfang Juli im Bundestag, als die Unionsfraktion eine solche Kommission zum Cum-Ex-Skandal samt möglicher Verstrickung von Olaf Scholz beantragte. Sie selbst verfügt über knapp 27 Prozent der Abgeordneten. Da AfD und Linksfraktion ebenfalls dafür stimmten, erzielte der Antrag sogar fast 43 Prozent der Abgeordneten. Er war damit angenommen. Eigentlich. Doch die zahlenmäßige, gleichwohl unrechtmäßige Mehrheit lehnte ab – und das Bundestagspräsidium akzeptiert die Ablehnung. Ein Untersuchungsausschuss, der beschlossen ist, aber dennoch nicht installiert wird. Parlamentarier, die ihre eigenen Regeln missachten und von niemandem daran gehindert werden können. Und eine repräsentative Demokratie, die in der Sackgasse feststeckt.
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