In einem Artikel im US-Medium Politico wird über die Folgen eines russischen Attentats auf den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selensky spekuliert. Einige Beobachter deuten das aber eher als eine Drohung aus einem anderen Lager: Will „der Westen“ Selensky loswerden? Von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Das inzwischen vom Axel-Springer-Konzern übernommene US-Medium Politico hat vor einigen Tagen in diesem Artikel einen angeblichen „ukrainischen Plan“ beschrieben, „falls Russland Selensky ermordet“. Ein Fazit des Artikels kann man indirekt so interpretieren: Ein Verlust Selenskys wäre demnach kein politisches Erdbeben.
Eine Übersetzung des Politico-Artikels von Thomas Röper findet sich bei Anti-Spiegel. Röper ergänzt die Übersetzung unter anderem mit folgenden Deutungen:
„Auf diesem Narrativ der angeblich massenhaften politischen Morde Russlands spinnt Politico die Geschichte durch, dass Russland Selensky ermorden wolle und fragt, was danach passieren würde. Die Antwort ist für Experten wenig überraschend, denn laut Politico wäre das psychologisch vielleicht für viele ein Schock, aber de facto würde Selenskys Ermordung politisch keine ernsthaften Folgen haben.“
„Heldensagen enden mit einem toten Helden“
Laut Röper sprechen aber unter anderem folgende Punkte dafür, dass es eher im westlichen Lager Motive für ein Attentat auf Selensky gebe:
„Dass Russland kein Interesse an der Ermordung Selsnskys hat, ist allgemein bekannt. Selensky ist eine Marionette der USA, die nichts entscheiden kann, weshalb – wie Politico selbst schreibt – Selenskys Ermordung nichts ändern würde. Dafür geht Selensky der US-Regierung mehr und mehr auf die Nerven, wie sein Verhalten auf dem NATO-Gipfel und die Reaktionen von US-Vertretern darauf gezeigt haben. Russland hätte mit Selenskys Tod nichts zu gewinnen, die USA hingegen schon, denn sie würden einen Märtyrer schaffen, während Selensky selbst ersetzbar ist, wie Politico ausführlich aufzeigt.“
Dieser Interpretation könnten aber einerseits die sehr wirkungsvollen darstellerischen Qualitäten des Präsidenten-Darstellers Selensky entgegenstehen, die ich etwa im Artikel Karlspreis für das Kriegs-Maskottchen beschrieben hatte:
„Mit Selensky wurde das perfekte Maskottchen für die aktuellen geopolitischen Ablenkungen gefunden (man stelle sich vor, diese Rolle müsste nun Petro Poroschenko ausfüllen!). Selensky verbirgt hinter seiner kumpelhaften Präsenz und seinem unrasierten Charisma teilweise gekonnt die Zusammenhänge, die zum Krieg führten – eine wirkungsvolle Kombination für Emotionalisierung und Kitschpropaganda. Darum wird er seit Monaten auf den Videoleinwänden der „westlichen Welt“ herumgereicht und wird nun in Aachen mutmaßlich auch für diese Darstellungen ausgezeichnet. Für Selensky sind Show-Auftritte eine Rückkehr zu seinen Wurzeln als ein von ukrainischen Oligarchen geförderter TV-Star.“
Aber: Andererseits könnte es gerade dieser übertriebene und skrupellos von vielen westlichen Journalisten aufgebaute Heldenstatus Selenskys sein, der ihm nun zum Verhängnis werden könnte, wie etwa Dagmar Henn in einer Analyse auf RT beschreibt. Nur wenn man Selensky einen „rechtzeitigen Abgang“ verschaffe, könne sein Mythos sogar das Ende des Landes überleben, so Henn, die fortfährt:
„Sollte er jedoch nach einer Flucht aus der Niederlage den Rest seines Daseins in einer seiner Villen in der Toskana oder and der Côte d’Azur fristen, um womöglich am Ende vollgekokst mit einem Sportwagen aus der Kurve einer Küstenstraße zu fliegen, wäre das nicht nur für den Moment schädlich, sondern würde außerdem auch die gesamte Mediendarstellung der Vergangenheit ins Lächerliche ziehen. Zu viel wirklicher Selenskij wäre der Tod des Mythos. (…) Heldensagen enden mit einem toten Helden.“
Selensky: „Held mit Verfallsdatum“?
Auch Henn ist der Meinung, dass der Text in Politico trotz der antirussischen Stoßrichtung in Wirklichkeit „eine Diskussion darüber eröffnet, welche Folgen es hätte, wenn der Westen Selenskij entsorgen würde“. Demnach sei Selensky „selbst in der westlichen Presse ein Held mit Verfallsdatum“.
„Helden verlieren durch Niederlagen ihren Wert. In dem Moment, in dem auch im Westen bekannt wird, wie ungeheuer der Preis ist, den die Ukraine bezahlt, um ihren westlichen Instrukteuren genehm zu sein; in dem Moment, indem sich die ganze aufgeblasene Zuversicht als falsch erweist, die überwältigende Qualität der westlichen Waffen als Fiktion und letztlich dann sogar die ukrainische Demokratie als nichts dergleichen, besitzt der eherne Heros Selenskij nur noch Schrottwert.“
Henn fährt fort:
„Allerdings, ebenso wenig braucht man Zweifel zu hegen, dass alles dafür getan werden wird, damit sein möglicher Abgang wie eine russische Tat aussieht. Schon allein, damit das Ende zu der Heldengeschichte passt, aber auch, um das Ereignis selbst politisch maximal nutzen zu können.“
In den Artikeln von Röper und Henn werden einige Spekulationen geäußert, deren Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, denen ich mich in der beschriebenen Eindeutigkeit aber vorerst noch nicht umfassend anschließe. Interessant sind die hier geschilderten Gedankenspiele von Röper und Henn dennoch. Eine andere Deutung könnte sein: Vielleicht ist der Artikel von Politico genau so gemeint, wie er geschrieben ist – als antirussische Meinungsmache, die politische Morde als „normales“ Mittel der russischen Politik darstellen will – während die lange und reiche Tradition politischer Attentate vonseiten westlicher Geheimdienste weitgehend unter den Tisch fallen soll.
Selenski-Besuch: Brot und Spiele
Karlspreis für das Kriegs-Maskottchen (und noch mehr Preis-Propaganda …)
Titelbild: shutterstock / Review News