Das Rettungspaket des EU-Gipfels aus griechischer Sicht
Eine abschließende Bewertung der Brüsseler Beschlüsse vom 21. Juli ist beim derzeitigen Informationsstand kaum möglich. Dennoch lassen sich im Blick auf die griechischen Entwicklungen einige vorläufige Anmerkungen machen, die man je nach Stimmung sarkastisch, ironisch oder verbittert formulieren kann. Von Niels Kadritzke
- Der griechische Finanzminister Venizelos hat die Beschlüsse vom 21. Juli als „große Erleichterung für die griechische Wirtschaft“ begrüßt. Was er nicht gesagt hat, ist dieses: Wäre ein Programm mit den Parametern des gestern beschlossenen (neue Kredite mit Laufzeiten bis 30 Jahren und deutlich reduzierten Zinsen) bereits im Mai 2010 beschlossen worden, wäre es zu der dramatischen Lage im Juli 2011 wahrscheinlich gar nicht gekommen. Das ursprüngliche „Rettungsprogramm“ der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF hat nicht nur nicht funktioniert, sondern es hat sich selbst versenkt. Dass es sich als „self-destructive“ erwiesen hat (wie man auf Englisch sagen würde) lag dabei nicht nur an seinen eigenen Konditionen und über-ehrgeizigen Sparzielen, sondern auch daran, dass es keinerlei Wachstumsimpulse vorsah.
- Dass dies jetzt nachgeholt wird, ist der Aspekt der Brüsseler Beschlüsse, der immerhin eine gewisse Hoffnung weckt. Wenn diese Initiative ernsthaft umgesetzt wird, könnten daraus jene „Zukunftsinvestitionen“ entspringen, die das Land so dringend braucht. Und zwar aus finanziellen Mitteln der EU, die den Griechen verloren zu gehen drohten, weil sie krisenbedingt den erforderlichen Eigenanteil an solchen Projekten nicht aufbringen konnten und weil die Bürokraten im zuständigen Ministerium außerstande waren, überhaupt entsprechende Projekte zu entwickeln.
- Theoretisch könnte Griechenland bis 2013 aus den bestehenden EU-Programmen bis zu 18 Milliarden Euro in Anspruch nehmen. Angesichts der Arbeitsweise der griechischen Behörde ESPA, deren triumphaler Name Ethniko Stratijiko Plaisio Anaforas ( Nationaler Strategischer Bezugsrahmen) in beklagenswertem Gegensatz zu ihrer Ineffektivität steht, schien dies bislang aussichtslos zu sein. Dem sollen jetzt Berater aus Brüssel abhelfen, die schon im August in Athen beginnen werden, zusammen mit griechischen Experten einen neuen ESPA-Gesamtplan zu entwickeln, der die Absorptionsrate für die EU-Mittel durchschlagend erhöhen soll.
- Als kurzfristiges Ziel will man bis Ende September konkrete Projekte ausarbeiten, um bis Jahresende europäische Gelder in Höhe von 5,5 Milliarden Euro absorbieren zu können. Dabei muss auch entschieden werden, wie der griechische Finanzierungsanteil zu behandeln ist. Denkbar ist eine Finanzierung durch Kredite der Europäische Investitionsbank (EIB) in Luxemburg, oder man findet eine Sonderregelung, wonach nur ein sehr geringer oder gar kein griechischer Anteil erforderlich ist.
- Natürlich kann sich ein „Marshall-Plan“ für Griechenland, der inzwischen von weitsichtigeren Ökonomen und Politikern gefordert wird, nicht allein auf diese Initiative beschränken. Aber sie wäre wenigstens ein Anfang, der unmittelbare Wirksamkeit entfalten könnte. Ganz im Gegensatz zu den angekündigten Privatisierungen, die nur kurzfristig Haushaltslöcher stopfen sollten, aber bislang offenbar nur wenige „strategischen Investoren“ anziehen konnten.
- Eine Entwicklungsperspektive für die griechische Wirtschaft ist umso dringlicher, als die neuesten Zahlen über das Haushaltsdefizit im ersten Halbjahr 2011 das erwartet düstere Bild zeichnen. Nach einem detaillierten Bericht in der Kathimerini vom 20. Juli offenbart die Bilanz der Einnahmen- und Ausgabenentwicklung, dass die geplante Rückführung des Haushaltsdefizits 2011 auf 7,5 Prozent des BIP völlig utopisch ist. Vielmehr klafft schon im ersten Halbjahr 2011 gegenüber dem offiziellen Konsolidierungsprogramm eine Lücke von 4,5 Milliarden Euro. Dieses „schwarze Loch“ (wie es die Kathimerini nennt) erklärt sich zum einen aus zu geringen Steuereinnahmen, die um 3,26 Mrd. Euro (oder 18,3 Prozent) hinter den Planungen zurückgeblieben sind; zum anderen aus den höheren Ausgaben, die um 1,27 Mrd. Euro über den Ansätzen liegen.
- Diese Ausgabenüberschreitungen sind aus zwei Gründen besonders beunruhigend. Erstens wären sie ohne die beträchtliche Kürzung der Rüstungsausgaben (um etwa 500 Mio. Euro) noch höher ausgefallen. Und zweitens liegen auch die Ausgaben für den Primärhaushalt (also ohne Schuldendienst) im ersten Halbjahr 2011 um 1,7 Mrd. Euro über der Planung. Diese erhöhten Ausgaben gehen vor allem zurück:
- auf die nicht eingeplanten staatlichen Zuschüsse an die Rentenkassen, bei denen Einnahmendefizite von 1,28 Mrd. Euro aufgelaufen sind, vor allem bei der IKA (der griechischen AOK) und bei der Kasse der Freiberufler;
- auf die erhöhten Kosten der Arbeitslosenversicherung, die um 348 Mio. Euro über die Ansätze gestiegen sind. Was angesichts der auf knapp 16 Prozent angestiegenen Arbeitslosenquote nicht überraschend ist.
- Da diese erhöhten Ausgaben in gleicher Weise eine unvermeidliche Folge des Konjunktureinbruchs darstellen wie die verminderten Steuereinnahmen, dokumentiert das „schwarze Halbjahresloch“ von 4,5 Mrd. Euro, es belegt schon jetzt die Vergeblichkeit des zweiten „Sparprogramms“, das erst im Juni nach harten Kämpfen beschlossen wurde. Schreibt man die Zahlen aus dem ersten Halbjahr fort, wird das Haushaltsdefizit 2011 am Ende nicht bei den geplanten 7,5 Prozent des BIP liegen, sondern sogar über 10 Prozent, meint der Kommentator der Kathimerini.
- Dem widerspricht das Athener Wirtschaftsministerium mit dem Argument, die im Juni verabschiedeten Steuererhöhungen würden erst im zweiten Halbjahr greifen und die Einnahmen bis zum Jahresende deutlich aufbessern. Aber diese Hoffnung setzte eine Wirtschaftsbelebung voraus, mit der dieses Jahr kaum zu rechnen ist. Im Gegenteil: Wirtschaftsminister Venizelos hat vor drei Wochen für 2011 ein Minus-Wachstum von 3,9 Prozent prognostiziert und war damit noch pessimistischer als die EU-Kommission, die von minus 3,5 Prozent ausgeht. Und wenn der Tourismus im Sommer und Herbst um weniger zulegt als die kalkulierten 8 bis 10 Prozent, könnte die griechische Wirtschaft sogar um mehr als 4 Prozent schrumpfen. Das heißt: Ohne starke und rasch wirksame Wachstumsimpulse ist es praktisch ausgeschlossen, dass sich die griechische Wirtschaft im Jahr 2012 wie geplant aus der Depression heraus arbeitet.